Rezension über:

Simon Tugwell (ed.): Petri Ferrandi. Legenda Sancti Dominici, Rom: Angelicum University Press 2015, 484 S., ISBN 978-88-88660-69-1, EUR 65,00
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Rezension von:
Ralf Lützelschwab
Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fischer
Empfohlene Zitierweise:
Ralf Lützelschwab: Rezension von: Simon Tugwell (ed.): Petri Ferrandi. Legenda Sancti Dominici, Rom: Angelicum University Press 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 10 [15.10.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/10/28507.html


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Simon Tugwell (ed.): Petri Ferrandi

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Nur sehr wenig ist über ihn bekannt: einen knappen biographischen Abriss liefert Aegidius von Portugal, der sich in den kurz nach 1258 entstandenen Vitas fratrum des Gérard de Frachet wiederfindet. Und auch Bernard Gui widmet ihm einige Zeilen in seinem Catalogus magistrorum. Die Rede ist von Petrus Ferrandi, einem Spanier, von dem nicht sehr viel mehr verlautet, als dass er in Spanien unterrichtet und eine Legenda Sancti Dominici verfasst habe - im Grunde wird sein Leben auf diese eine Schrift verkürzt. Tatsächlich war sie von einiger Bedeutung, trat sie an vielen Orten doch an Stelle der Vita, die Jordan von Sachsen Dominikus um 1235 gewidmet hatte, bevor sie in den späten 1240er Jahren selbst Gegenstand tiefgreifender Umarbeitungen durch Constantin von Orvieto und später ganz vergessen wurde. Die erste der beiden von Humbertus de Romanis verfassten, für das 1246 in Auftrag gegebene Dominikaner-Lektionar entstandenen Dominikus-Legenden beruht ebenfalls fast vollständig auf Ferrandi. Und auch Jean de Mailly bediente sich in seiner Abbreviatio in gestis et miraculis sanctorum großzügig aus dem Text des spanischen Predigerbruders.

Wiederentdeckt wurde die Legenda erst spät: dem Spürsinn des Bollandisten François Van Ortroy (gest. 1917) ist es zu verdanken, dass Ferrandis (anonym überlieferter) Text mit der richtigen Autorenzuschreibung versehen werden konnte. Tugwell widmet diesem Fund und der komplexen, vielschichtigen Zuweisungsproblematik einige ausgesprochen instruktive Seiten (The Quest for Petrus Ferrandi, 1-16). Und wenig überraschend sind es die Beschreibungen der überlieferten Handschriften, die dazu angetan sind, diese Problematik weiter zu vertiefen (The Manuscripts and Testimonia, 17-48). Von besonderer Bedeutung ist die in der Niedersächsischen Staats- und Landesbibliothek zu Göttingen verwahrte Handschrift 109 (G) dominikanischer Provenienz, an der sich eindrucksvoll demonstrieren lässt, dass Ferrandis Legenda von den Beschlüssen des Generalkapitels 1242 betroffen war. In cap. 42 ist der letzte Abschnitt, der die Beichte des Ordensgründers in extremis enthielt, getilgt worden. In ihm gesteht der Ordensgründer den um sein Totenbett versammelten Brüdern, dass selbst er der menschlichen imperfectio nicht habe entkommen können und sich Zeit seines Lebens eher an den Worten junger Mädchen als am Geschwätz alter Frauen erfreut habe ([...] magis afficeretur iuuencularum colloquiis quam affatibus uetularum). Ganz offensichtlich passte dieses Geständnis nicht in das Bemühen der offiziellen Ordensleitung, das Bild eines makellosen, allen menschlichen Schwächen enthobenen Ordensgründers zu zeichnen.

Angesichts der Überlieferungslage war es müßig, an die Abfassung eines Stemmas zu denken. Tugwell skizziert anstatt dessen die Verbreitung der vom Generalkapitel offiziell anerkannten Legenda - dass sie zirkulierte, verdeutlicht eben nicht zuletzt die Aufforderung, den letzten Abschnitt in cap. 42 zu tilgen (The Vulgate Tradition, 49-70). Unterschiedliche Überlieferungszweige sind wohl auf diejenigen Kopien zurückzuführen, die von den Teilnehmern des Generalkapitels (oder auch der Generalkapitel) in ihre einzelnen Ordensprovinzen mitgenommen und dort weiter kopiert und verbreitet worden sind. Das heißt aber auch, dass die Möglichkeiten einer Kontamination zwischen den unterschiedlichen Texttraditionen recht begrenzt waren. Kontaminationen größeren Umfangs sind deshalb wohl erst dann eingetreten, als der Orden andere Viten in Auftrag gab und Dietrichs von Apolda Lebensbeschreibung zur Verfügung stand. Dietrich selbst schöpfte noch aus Ferrandis Werk, das in der Folge "disappeared from view in the order". (50)

Dem Einfluss, den Jordans von Sachsen Libellus (entstanden im Mai 1233) auf Ferrandis Schrift ausübte, spürt der Editor in einem eigenen Kapitel (IV. Jordan's Libellus, 71-80) nach. Der spanische Dominikaner war sich offensichtlich der Revisionen bewusst, denen Jordans Text auf Anraten der offiziellen Ordensleitung unterzogen werden musste.

Die Unterschiede der zweiten, von der Textgestalt des Göttinger Codex (G) zu trennenden Überlieferungsgruppe stehen im Zentrum weiterer, mit extremer Sorgfalt und Sinn auch für kleinste (deshalb aber nicht minder wichtige) sprachliche Details gearbeiteter Kapitel. Wird zunächst der Zusammenhang zwischen G, Jordans Libellus und denjenigen Handschriften, die von Tugwell unter dem Begriff "vulgate tradition" subsumiert werden, beschrieben (V. G, the Vulgate, and Jordan, 81-112) geraten in der Folge die Behandlung des Bibeltextes in beiden Textraditionen (VI. G, the Vulgate, and the Bible, 113-116) und zuletzt deren sprachliche Gestalt in den Blickpunkt der Betrachtungen (VII. G and the Vulgate: Verbal Choices, 117-166; VIII. Alternatives and G Readings in the Vulgate, 167-207). Dabei wird deutlich, dass die in der "vulgate tradition" feststellbaren sprachlichen Vereinfachungen wohl darauf zurückzuführen sind, dass hier ein Text geschaffen werden sollte, der nicht für die private Lektüre im stillen Kämmerlein, sondern für ein lautes Vorlesen im Refektorium gedacht war. Verständlich wird so auch die Sorgfalt, die man auf dessen sinnvolle Untergliederung verwandte: während G ohne jede Kapitelüberschrift aufwartet und einen fortlaufenden Text bietet, verfügt die etwas jüngere Texttradition über solche Gliederungspunkte. Für die Entstehung der Handschrift G entwirft Tugwell folgende, völlig überzeugende Hypothese: wenn G die originale Version der Legenda repräsentiert und die "vulgate tradition" eine Revision derselben darstellt, dann ist nicht auszuschließen, dass beide auf einen Modelltext zurückgehen, der vom Generalkapitel, auf dem die Verbreitung des Textes beschlossen worden war, mit nach Deutschland zurückgebracht und dort weiter kopiert worden ist.

Tugwells Entscheidung, darauf zu verzichten, aus beiden Traditionen einen Text zu kondensieren, der so sicherlich niemals zirkulierte, ist vor dem Hintergrund der auf mehr als 200 Seiten entfalteten Prolegomena sicherlich zu begrüßen. Es werden also - in Parallelversion einander gegenübergestellt - zwei Texte der Legenda kritisch ediert: der Göttinger Codex G, von Tugwell in eigener Wortschöpfung als legenda gottingensis bezeichnet, und die Version, wie sie von den der "vulgate tradition" zugehörigen Handschriften repräsentiert wird. Im Falle von G wird die inkonsistente Orthographie des Originals beibehalten, während im zweiten Text sehr viel stärker normalisiert wird. Dort findet sich auch ein mit großer Sorgfalt gearbeiteter kritischer Apparat, der die unterschiedlichen Varianten verzeichnet. Um die Vergleichbarkeit zu erhöhen, hat der Editor auch den Text in G in Abschnitte untergliedert, die denjenigen der Parallelversion folgen. Neben dem apparatus criticus findet sich ein apparatus biblicus et fontium, in den auch einige erläuternde Bemerkungen des Editors auf Latein mit einfließen.

Der Band ist mit großer Sorgfalt lektoriert. In einer möglichen Zweitauflage könnte freilich die auf S. 51 bemühten "idiodyncrasies" in "idiosyncrasies" korrigiert werden. Und das Zisterzienserkloster Salem, aus dem die wichtige Handschrift Y (Heidelberg, Universitätsbibliothek, Sal. IX 24) stammt, sollte wohl eher nicht als "Swiss monastery" (23) bezeichnet werden.

Die Forschung wird zukünftig auf eine Edition eines Legendentextes zurückgreifen können, der - selten genug - wohl kein Auftragswerk darstellt, sondern motu proprio konzipiert worden ist. Unsicherheiten bezüglich der konkreten Entstehungszeit bleiben bestehen, doch ist davon auszugehen, dass der Text Ende 1235 in großen Teilen bereits vollendet war. Informationen über den Kanonisationsprozess, der in die Heiligsprechung des Dominikus 1234 mündete, könnten von Raymund von Peñaforte stammen. Und der Hypothese, dass es Raymund war, der die Aufmerksamkeit des Generalkapitels auf die Legenda lenkte, kann zumindest der Rezensent einiges abgewinnen. Auf der Grundlage dieser Feststellungen wird es wahrscheinlich, dass Ferrandis Opus auf dem Pariser Generalkapitel 1239 promulgiert worden ist.

Summa summarum: die nun vorliegende kritische Edition der Legenda des predicatorum dux et pater inclitus (267) kann als Meilenstein der Ordensforschung und der editorischen Praxis gelten - gleichermaßen brillant wie gelehrt. Die von Simon Tugwell (selbst Dominikaner) besorgte Ausgabe wird ihren Wert als Referenztext auf lange Sicht hin behalten.

Ralf Lützelschwab