Rezension über:

Knud Andresen / Michaela Kuhnhenne / Jürgen Mittag u.a. (Hgg.): Der Betrieb als sozialer und politischer Ort. Studien zu Praktiken und Diskursen in den Arbeitswelten des 20. Jahrhunderts, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2015, 317 S., ISBN 978-3-8012-4226-8, EUR 38,00
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Rezension von:
Malte Müller
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Redaktionelle Betreuung:
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Malte Müller: Rezension von: Knud Andresen / Michaela Kuhnhenne / Jürgen Mittag u.a. (Hgg.): Der Betrieb als sozialer und politischer Ort. Studien zu Praktiken und Diskursen in den Arbeitswelten des 20. Jahrhunderts, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2015, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 5 [15.05.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/05/28948.html


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Knud Andresen / Michaela Kuhnhenne / Jürgen Mittag u.a. (Hgg.): Der Betrieb als sozialer und politischer Ort

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Der von Knud Andresen, Michaela Kuhnhenne, Jürgen Mittag und Johannes Platz herausgegebene Sammelband lotet Möglichkeiten zur historischen Auseinandersetzung mit Betrieben aus. Das selbsterklärte Ziel ist es, die Historiographie zu Fragen der Arbeit und zu den Gewerkschaften um eine betriebliche Perspektive zu erweitern. Die Debatte über den Strukturbruch Mitte der 1970er Jahre soll gleichsam um die wichtige betriebliche Dimension erweitert werden. Somit knüpft der Sammelband an aktuelle Diskussionen an.

Der Sammelband ist in vier thematische Abschnitte unterteilt. Zunächst werden konzeptionelle und methodische Ansätze erörtert wie die praxeologische Perspektive, der Feldbegriff und die Sozialraumanalyse von Pierre Bourdieu sowie diskursgeschichtliche Ansätze. Im Mittelpunkt des zweiten Teils steht der Betrieb als politischer Ort und als Ort des Politischen. So spüren die Autorinnen und Autoren anhand konkreter Betriebsstudien dem postmateriellen Wertewandel, einer gewandelten betrieblichen Mitbestimmung in der Automobilindustrie der 1970er Jahre und dem damit einhergehenden scheinbaren Kontrollverlust der Gewerkschaften nach. Im dritten Teil rückt der Betrieb als Ort der Transformation in den Fokus. Anhand der "Konfliktpartnerschaft" zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern bei Siemens und durch eine Studie zu biographischen Narrativen von Gewerkschaftern und Managern einer nach 1990 privatisierten polnischen Schokoladenfabrik, werden beispielhaft zwei tiefgreifende Transformationen aus innerbetrieblicher Perspektive untersucht. Schließlich widmet sich der vierte Teil dem Betrieb als kultur- und ideengeschichtlichem Ort. Betrachtet werden hier die "Humanisierung" der Arbeit, der Einfluss von Verbänden auf die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes von 1972 und der Wandel in der Wahrnehmung von Arbeiterinnen und Arbeitern im Produktionsprozess, die nicht mehr als Störfaktoren, sondern als wichtiger Bestandteil eines erfolgreichen Produktionsprozesse gesehen wurden.

Thomas Welskopp lotet in seinem Beitrag die Möglichkeiten einer praxeologischen Perspektive aus. Betriebe dürften nicht länger als "Black boxes" (37) begriffen werden, sondern sollten als komplexe soziale Handlungsfelder eigenen Charakters Anerkennung in der wissenschaftlichen Debatte finden. Im Betrieb standen sich entgegengesetzte Interessenskonstellationen von Belegschaft und Betriebsleitung gegenüber, die aufgrund der besonderen Begegnungssituation aufgelöst werden müssten - immerhin bestehe ein übergreifender betrieblicher Kooperationszwang. Der Betrieb trage durch spezifische Arbeits- und Produktionsmethoden außerdem zur Wirklichkeitsformung über seine Grenzen hinweg bei. Welskopp veranschaulicht dies anhand von Eisen- und Stahlarbeitern, die sich trotz gewandelter Arbeitspraktiken und Produktionsformen bis in die 1980er Jahre über ihre körperliche Arbeit und die Zugehörigkeit zu ihrer betrieblichen Arbeitsgruppe definierten. Die Arbeit im Betrieb stiftete also Identitäten. Damit einher gingen in der Eisen- und Stahlindustrie hohe gewerkschaftliche Organisationsquoten, die den betrieblichen Bezugsrahmen aber nicht sprengten. Und so deutet Welskopp an, dass genau dieser betriebliche Bezugsrahmen, die ursprünglich Stärke der Arbeitskultur in der Eisen- und Stahlindustrie, schließlich eine entscheidende Schwäche darstellte, als es zum Kampf um den Erhalt von Arbeitsplätzen kam.

Jörg Neuheiser untersucht die Auseinandersetzungen zwischen der IG Metall und der "plakat"-Gruppe bei Daimler-Benz in Stuttgart. Er hinterfragt die oft diagnostizierte Werteverschiebung und das Narrativ der verzögerten gewerkschaftlichen Reaktion auf neue, postmaterielle Werte. Neuheiser zeigt, dass der breit behandelte Wertewandel zumindest in einigen Bereichen von zeitgenössischen Umfrageforschern konstruiert wurde. So versuchten betriebliche Akteure von der IG Metall und der "plakat"-Gruppe dem diagnostizierten Wertewandel gerecht zu werden, während große Teile der Belegschaft bei Daimler-Benz noch den inzwischen vermeintlich antiquierten, materiellen Wertevorstellungen anhingen. Unterstützung fanden die betrieblichen Akteure demnach vor allem dann, wenn sie sich um klassische "gute Arbeit" bemühten, also um höhere Löhne und eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen.

Hannah Ahlheim untersucht in ihrem Beitrag die Debatten zur "Humanisierung" der Arbeit anhand von Studien zur Schicht- und Nachtarbeit in den 1970er Jahren. Zentrale Frage in ihrem Beitrag ist die Veränderung im Verhältnis vom Ort der Arbeit zum privaten Leben zwischen 1970 und 1984. Ahlheim meint, dass sich durch die arbeitsmedizinische Betrachtung des Schlafzimmers die Grenzen des Betriebes auflösten, die soziale Ordnung der Arbeit also auch im privaten Raum verhandelt wurde. Die staatlich betriebene arbeitsmedizinische Durchdringung des privaten Raums der Arbeiter könne daher als Vorbote und Helfer des "flexiblen" Kapitalismus (230) begriffen werden.

Der Sammelband versucht durch die zahlreichen betrieblichen Befunde die arbeits- und gewerkschaftsgeschichtlichen Debatten der letzten Jahre auf ein neues empirisches Fundament zu stellen. Der Fokus wird dabei allerdings zumeist auf große westdeutsche Industriebetriebe gelegt. Die Konflikte in der Stahlindustrie und ihren Betrieben stehen im Vordergrund, also männlich dominierte Wirtschaftszweige, während die Betrachtung von Betrieben des Dienstleistungsbereichs ausbleibt. Hier zeigt sich ein deutlicher Nachholbedarf, vor allem da die theoretischen Beiträge zu Beginn vielversprechende Ansätze für die Analyse der betrieblichen Ebene liefern könnten. Der Band verdeutlicht, dass es kein Master-Narrativ des Umbruchs in den 1970er Jahren gibt - vielmehr muss zwischen den einzelnen Industrien und zwischen einzelnen Unternehmen und Betrieben differenziert werden. Schließlich waren die wirkenden Kräfte und Akteure sowie die daraus resultierenden Transformationsprozesse je nach Handlungsfeld sehr verschieden. Einen wichtigen Beitrag leistet der Band schließlich durch die konzeptionellen und methodischen Ansätze. Die Autoren zeigen Möglichkeiten auf, nicht nur den Betrieb isoliert zu untersuchen, sondern ihn wiederum in größere Kontexte von Unternehmen und Gesellschaft einzubetten. Obwohl er nicht vollkommen neu ist, scheint vor allem Welskopps praxeologischer Ansatz vielversprechend; hinzu treten der Rekurs auf den Bourdieuschen Feldbegriff und die Verknüpfung mit Ansätzen der Diskursgeschichte, die das vorherrschende Verständnis vom Betrieb herausfordern. Auch in anderen Beiträgen klingen neue Perspektiven für Untersuchungen an, so etwa wenn Aspekte einer narrativen Oral History (Karolina Mikolajewska) oder mikropolitische Pfade beschritten (Christian Marx) und für die historische Forschung nutzbar gemacht werden. Neben den spannenden Fallbeispielen liegt der Mehrwert des Bands daher besonders in der Erschließung und Bereitstellung von methodischen Ansätzen zur weiteren Erforschung von Arbeit und der betrieblichen Ebene.

Malte Müller