Rezension über:

Filippo Coarelli: Pergamo e il re. Forma e funzioni di una capitale ellenistica (= Studi ellenistici; III), Roma: Accademia editoriale Pisa Roma 2016, 283 S., ISBN 978-88-6227-818-8, EUR 245,00
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Rezension von:
Ralf von den Hoff
Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg/Brsg.
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Ralf von den Hoff: Rezension von: Filippo Coarelli: Pergamo e il re. Forma e funzioni di una capitale ellenistica, Roma: Accademia editoriale Pisa Roma 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 5 [15.05.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/05/29092.html


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Filippo Coarelli: Pergamo e il re

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Pergamon war ganz anders ... "se tutto ciò è vero" (156)! So könnte man Filippo Coarellis Studie zur Kulttopografie und Herrscherrepräsentation der hellenistischen Residenzstadt zusammenfassen. Ausgangspunkt ist sein Ärger über die deutsche Pergamonforschung: Sie sei eine "vulgata dogmatica", die "keine Alternativen zulässt", sich in Detailstudien verliere und "molte altre opere fondamentale" (10) ignoriere. Man mag dies teilen oder nicht: Ein kritischer Blick auf gesichert Erscheinendes, wie ihn Coarelli liefert, führt meist weiter.

Was sind seine Sachergebnisse? Ausgangspunkt ist der hellenistische Tempel auf der Theaterterrasse des Pergamener Burgberges. Er war nicht Dionysos Kathegemon, sondern Asklepios Soter geweiht und sei wohl das 'Attaleion', in dem Attalos I. verehrt wurde. Unter Caracalla jedenfalls wurde er zum dritten Neokorietempel Pergamons (15-35). Am Ort des späteren Traianeums, des zweiten Neokorietempels der Stadt, stand vorher ein Tempel für Zeus Philios und Eumenes II., das 'Eumeneion' (41-9). Den Kult für Augustus hingegen nahm der spätklassische Athenatempel als erster Neokorietempel auf (55-9). Das zugehörige Athenaheiligtum wurde unter Attalos I. mit Portiken und 'Bibliothek' versehen, unter Eumenes II. vollendet und der Athena Nikephoros dediziert (61-77). Dort stand das Rundmonument, das Attalos I. nach dem Sieg über die tolistoagischen Gallier an den Kaikosquellen 240/37 v.Chr. stiftete (77-82). Es trug die bekannten Bronzestatuen der 'Großen Gallier', deren erhaltene Kopien in caesarischer Zeit in Pergamon hergestellt wurden (105-18). Sie zeigen Ereignisse nach dem Sieg, vor allem den Selbstmord des Tolistoagerkönigs. Vom Propylon des Heiligtums konnte man über der Schwerthand des Königs am Horizont den Berg sehen, der über dem Schlachtfeld lag (138-41; Abb. 55-6). Ein pentagrammartiges Graffito auf der Plinthe der Kopie des 'Galliers Ludovisi' wird als Schemazeichnung gedeutet, die die Aufstellung der Figuren auf der Rundbasis, nun aber auch ihren pyramidalen Aufbau in der Ansicht und ihre Position auf dem Platz des Athenaheiligtums festhielt (130-42). Die Bronzestatuen brachte Nero nach Rom. Die Pergamener ersetzten sie durch eine Ehrenstatue Neros, der nach dessen damnatio memoriae ein anderes Bildwerk (99-104; "copia", 104), später unter einem Monopteros eine Statue Hadrians (104-5) folgte.

Während die Erweiterung der Stadt durch die nach-philetairische Befestigungsmauer nicht mehr Eumenes II., sondern schon Attalos I. im späten 3. Jahrhundert v.Chr. zugeschrieben wird (219-21), ließ den 'Pergamonaltar' Eumenes II. zwischen 188 und 183 v.Chr. errichten (143-54). Er stand auf der älteren Agora Pergamons und war dem Zeus Soter geweiht (154-6). Der 'Apsidenbau', den er dort ersetzte, hatte als Heroon für Pergamos gedient, den älteren Stadtgründer, dessen Kult nun auf das sogenannte 'Temenos für den Herrscherkult' am Burgberg übertragen worden sei (163-5). Die obere Terrasse des damals ebenfalls errichteten großen Gymnasions müsse man als 'Gymnasion der Neoi' identifizieren. Der benachbarte 'Tempel R' sei dem Dionysos Kathegemon geweiht (35-41). Das ebenfalls bezeugte 'Fest-Gymnasion' (gymnasion pangeyrikon) sei in der Terrasse am Theater zu erkennen, die eine stadionlange Laufbahn besitzt (169-75).

Der Tempel am Theater - einmal als derjenige des Asklepios Soter identifiziert - und das dortige 'Fest-Gymnasion' seien das Ziel der Prozessionen zu Ehren Attalos' III. gewesen, die das bekannte 'Elaia-Dekret' überliefert (177-85). Die Prozessionen gingen vom Prytaneion aus. Dieses müsse man - lange gesucht - in dem westlich neben der sogenannten Unteren Agora gelegenen Peristylhaus erkennen (186-90). Sie führten folglich über die Hauptstraße des Burgberges durch die gesamte Stadt (190-1 Abb. 127). Ptolemäische pompai sieht Coarelli als ihre Vorbilder an; die Übernahme sei bereits den früheren Attaliden zuzuschreiben (212-17).

Schließlich wagt er sich an eines der "misteri archaelogici pergameni" (222): die Lokalisierung des Nikephorions, nicht identisch mit dem Heiligtum der Athena Nikephoros auf dem Burgberg (222-52). Das heute als solches bekannte Asklepieion vor den Toren der Stadt müsse Teil dieses Heiligtums gewesen sein; Asklepios sei dort erst nach dem Ende der Königsherrschaft gegenüber Aphrodite hervorgetreten, die dort schon lange verehrt worden und Hauptgöttin des Nikephorions gewesen sei. Überreste vermutet er östlich des Asklepieions (229-30).

In Anbetracht so vieler Thesen fällt eine Gesamtbewertung nicht leicht. Coarelli gehört zu den Vorreitern der topografisch-historischen Forschung, die er mit einer stupenden Kenntnis vor allem textlicher Zeugnisse verfolgt. Das Buch stellt ein Kompendium von Informationen zu Pergamon dar, um das man in Zukunft nicht herum kommt. Andererseits zeichnet es eine komplexe Verknüpfung textlicher, bildlicher, numismatischer und archäologischer Zeugnisse aus. Ihr Ziel ist es, die urbanistischen, historisch-politischen und religiösen Zusammenhänge als Gesamtbild zu konstruieren. Überzeugen soll das interpretative Netz - weniger die widerspruchsfreie Erklärung einzelner Zeugnisse auf der Basis aller Informationen, weniger Bauwerke oder Bilder in ihren formalen Spezifika. Analogien und Korrespondenzen, mögliche Konnexe und Hypothesen werden zu einer Mischargumentation verbunden. Theoretische Grundlage, Ursprung und Ergebnis lassen sich dabei bisweilen ebenso schwer trennen wie Wahrscheinlichkeiten abschätzen. Erkennbar wird ein doppeltes Dilemma: Ein umfassendes Gesamtbild vermögen die isolierten Überreste oftmals kaum zu geben, obgleich dies gerade das Ziel ist. Und Prioritäten und Potenziale einzelner methodischer Zugriffe, vor allem die Art der Kombination archäologischer und textlicher Zeugnissen, sind immer diskutabel und werden hier wie auch sonst kaum reflektiert. Zumindest aber an der Widerspruchsfreiheit der Thesen und ihrer Verknüpfung vor dem Hintergrund des archäologischen, epigrafischen und historischen Sachstandes müssen sich Coarellis Vorschläge nun messen lassen.

Nur Weniges dazu kann hier zur Sprache kommen. Coarellis Ausgangspunkt, die Identifikation des Theatertempels als dritter Neokorietempel, ist durch die Lesung der kaiserzeitlichen Tempelinschrift fraglich: Anders als Abb. 10 suggeriert, sind nur die Stiftlöcher, nicht die Umrisse der Buchstaben erhalten. Deren Lesung ist umstritten (so auch 27-8 mit Anm. 57), spricht aber ebenso wie die Bauornamentik (dazu 29-30) des Tempels für eine hadrianische Datierung. [1] Damit würde die Identifikation als Neokorie- und damit als Asklepiostempel und Ziel der Prozessionen hinfällig. Coarelli hat zudem die epigrafische Studie zum Asklepioskult von Helmut Müller nicht widerlegt. [2] Er konnte die Existenz nur eines Asklepieions mit Priester und Tempel, welcher später der dritte Neokorietempel geworden wäre, plausibel machen, und zwar vor der Stadt, obgleich es natürlich weitere Orte der Asklepiosverehrung in der Stadt gab. Es stellt sich sodann die Frage, ob der Fund eines kleinen Asklepiosaltares beim Theatertempel (30-1 Anm. 78; IvP 312) oder die Dedikation des vor seiner Front gelegenen Parodostores des Theaters an Dionysos Kathegemon (30 Anm. 77; IvP 236) [3] und die Verbindung zum Theater ausschlaggebender für die Bestimmung des Gottes ist, dem der Tempel geweiht war. Hier zeigt sich das grundsätzliche methodologische Problem der Priorisierung der Zeugnisse. In gleicher Weise fragt man sich, welche archäologischen Befunde die Zuordnung bestimmter Objekte an ein Gebäude erlauben: Sollte man eine ca. 8 m oberhalb (!) des 'Tempel R' im 'Gebäude H' gefundene Dedikationsinschrift eines Altares an Dionysos Kathegemon (38-9 mit Anm. 113) wirklich auf den Tempel beziehen?

Für die Rundbasis im Athenaheiligtum ist es gewagt, aus der Bezeichnung der dort präsentierten Objekte als charisterion zu schließen, es müsse sich um Statuen, und zwar um solche von Besiegten handeln, weil auch für die Figuren des 'Langbathrons' dieser Begriff verwendet wird (81-2; 101). Ein charisterion kann auch eine Statuette der Athena, ein Altar (?) oder sogar ein Bauwerk sein. [4] Für die Neigung der ursprünglichen Oberfläche der Rundbasis müsste man Parallelen aufzeigen, wenn sie die 'Großen Gallier' getragen haben soll. [5] Diese Statuen sind zudem rezeptionsästhetisch in ihrer unterschiedlichen Ansichtigkeit (und auch in ihren Dimensionen, siehe Abb. 98) für eine Aufstellung auf dem 'Langbathron' passend gestaltet. [6] In der chronologisch dritten Inschrift der Rundbasis (IvP 383A) bleiben die Rasur des Kaisernamens und dessen 'Lesung' als Nero Postulate, die der publizierte Befund nicht bestätigt (Coarelli verweist 102 Anm. 199 auf Autopsie; Abb. 59 suggeriert eine Rasur, doch spricht die Erstpublikation davon nicht; vgl. Abb. 69). Wie lässt sich die inschriftlich bezeugte 'Reparatur' der Statue im Zuge der damnatio memoriae Neros erklären?

Auf der anderen Seite hat Coarelli beispielsweise mit dem Vorschlag, den Augustuskult im Athenatempel anzusiedeln und das prominenteste Heiligtum als ersten Ort des Kaiserkultes zu sehen (55-9), eine interessante These vorgelegt. Die Sicherheit, mit der bisweilen eine Athenastatue als ursprünglich zentral aufgestelltes Monument des Temenos angenommen wird, ist tatsächlich nicht zu rechtfertigen (135-7 mit Abb. 61). Wäre ein monumentales Tropaion mit umgebenden Objekten am Rand eine Möglichkeit? [7] Auch wenn manche These also weiterführen könnte, vermisst man aber die Berücksichtigung neuer Ergebnisse der Feldforschung vor Ort, wie zur Datierung der Stadtmauer und der 'Unteren Agora' [8], oder aktueller Publikationen zum kaiserzeitlichen Asklepieion, wo flavische Bauphasen postuliert wurden. [9] Seiner Kritik an der "mancata citazione di molte altre opere fondamentali" (10) wird Coarelli selbst nicht gerecht.

Man mag einwenden, dass solche Einzelkritik die grundsätzliche Frage aufwirft, auf welche Weise historische und archäologische Daten zu verbinden sind, der Gesamtidee des Buches aber nicht gerecht werde. Dies liegt auch daran, dass der Autor auf eine Zusammenfassung seiner Systematik von Herrscherpräsenz und Praxis der Herrscherverehrung in Pergamon verzichtet. Dazu gehören offenbar eine besondere Rolle des Asklepios und bestimmte Relationen zwischen Herrschern und Göttern in Kulttopografie und -praxis der Stadt. Den Attaliden wird im Hinblick auf ihre Verbindung zum Göttlichen vielfach eine allzu distanzierte Sonderrolle zugeschrieben, die nun erneut infrage steht. In welchem Sinne und auf welchem Wege bezog sich der römische Kaiserkult auf den Königskult? Beide Fragen setzt Coarelli auf die Agenda.

Das gelehrte und kritische Buch ist ein Plädoyer für eine internationale Forschung auch zu Grabungsplätzen je nationaler Tradition, wie Pergamon, Olympia, Rom oder Delos, und für wechselweise unabhängige Blicke von außen auf deren Ergebnisse. Widerspruch und Kritik werden Coarellis Thesen in jedem Fall inspirieren - und das ist ja nicht wenig.


Anmerkungen:

[1] Richard Posamentir / Holger Wienholz: Gebäude mit litterae aureae in den kleinasiatischen Provinzen, in: MDAI(I) 62 (2012), 162-3 Anm. 12.

[2] Helmut Müller: Phyromachos im pergamenischen Nikephorion, in: Chiron 22 (1992), 206-12.

[3] Dazu jetzt Marianne Mathys: Architekturstiftungen und Ehrenstatuen. Untersuchungen zur visuellen Repräsentation der Oberschicht im späthellenistischen und kaiserzeitlichen Pergamon, Darmstadt 2014, 24; 156-7 Katalog 1.2.

[4] IvP 305; AvP VIII 3, 65; Hugo Hepding: Die Arbeiten zu Pergamon 1908-1909. Die Inschriften, in: MDAI(A) 32 (1910), 438 Nr. 239.

[5] Volker Kästner: Das Heiligtum der Athena, in: Ralf Grüßinger (Hg.): Pergamon. Panorama der antiken Metropole, Petersberg 2011, 185-97 Abb. 4.

[6] Vgl. dazu Christian Kunze: Zum Greifen nah. Stilphänomene in der hellenistischen Skulptur und ihre inhaltliche Interpretation, München 2002, 40-51, sowie jetzt Jens-Arne Dickmann / Ralf von den Hoff (Hgg.): Ansichtssache. Antike Skulpturengruppen im Raum, Ausstellungskatalog Freiburg i. Br., Bönen 2017, 148-59 (Janos Ruf).

[7] So schon Volker Kästner: Das Heiligtum der Athena (wie Anm. 5), 186, mit Verweis auf Britta Rabe: Tropaia. τροπή und σκῦλα. Entstehung, Funktion und Bedeutung des griechischen Tropaions, Rahden 2008, 129-32.

[8] Stadtmauer: Felix Pirson: Pergamon - Bericht über die Arbeiten der Kampagne 2006, in: AA (2007.2), 27-34; Janet Lorentzen: Die Stadtmauern des hellenistischen Pergamon, in: dies. (Hg.): Aktuelle Forschungen zur Konstruktion, Funktion und Semantik antiker Stadtbefestigungen, Istanbul 2010, 107-39. - 'Untere Agora': Felix Pirson, Pergamon - Bericht über die Ausgrabungen in der Kampagne 2014, in: AA (2015.2), 115-26 (Burkard Emme).

[9] Adolf Hoffmann: Das Asklepieion 5. Die Platzhallen und die zugehörigen Annexbauten in römischer Zeit, Berlin 2011; Volker Michael Strocka: Bauphasen des kaiserzeitlichen Asklepieions von Pergamon, in: MDAI(I) 62 (2012), 199-287.

Ralf von den Hoff