Rezension über:

C.W. Marshall / Tom Hawkins (eds.): Athenian Comedy in the Roman Empire, London: Bloomsbury 2016, VI + 295 S., ISBN 978-1-47258-883-8, GBP 22,99
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Rezension von:
Heinz-Günther Nesselrath
Seminar für Klassische Philologie, Georg-August-Universität, Göttingen
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Heinz-Günther Nesselrath: Rezension von: C.W. Marshall / Tom Hawkins (eds.): Athenian Comedy in the Roman Empire, London: Bloomsbury 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 6 [15.06.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/06/28926.html


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C.W. Marshall / Tom Hawkins (eds.): Athenian Comedy in the Roman Empire

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Die vorliegende Aufsatzsammlung, hervorgegangen aus einem "panel" der APA-Jahresversammlung von 2014, widmet sich der Rezeption der athenischen Komödie in der römischen Kaiserzeit und damit einem Thema, das in den letzten Jahren vermehrt Aufmerksamkeit erfahren hat.

Die von den Editoren verfasste Einleitung ("Ignorance and the Reception of Comedy in Antiquity", 1-23) bietet nach einem gerafften Überblick über die Komödienentwicklung im 5. und 4. Jahrhundert v.Chr. und ihr Fortleben in hellenistischer Zeit eine knappe Bestandsaufnahme der soziokulturellen Kontexte, in denen die athenische Komödie noch im römischen Kaiserreich präsent ist (12-18): im Theater selber (mit freilich prekärer Quellenlage), bei privaten Veranstaltungen der Elite (vgl. die Menander-Mosaiken in großen Villen sowohl im Osten wie im Westen des Reiches), in Schul-Kontexten und schließlich im allgemeinen kulturellen Bewusstsein.

In der anschließenden ersten "case study" ("Juvenal and the Revival of Greek New Comedy at Rome", 25-41) kann Mathias Hanses zeigen, dass Juvenals dritte Satire eine offenbar in seiner Zeit sogar zunehmende Praxis von Aufführungen griechischer Neuer Komödien (vor allem Menanders) zu reflektieren scheint (26-31), dass Juvenal ferner in der ersten Satire offenbar polemisch auf in seiner Zeit geschriebene neue fabulae togatae reagiert (32f.) und dass er diesem Trend seine Satiren als "bessere Komödien" entgegenstellt.

Der Rezeption eines besonderen Topos der Alten Komödie in der römischen Satire (eingerechnet Martial) widmet sich Julia Nelson Hawkins ("Parrhêsia and Pudenda: Speaking Genitals and Satiric Speech", 43-68): Nachdem sie zu zeigen versucht hat, dass der sprechende Penis in Horaz' zweiter Satire von einer Szene in Aristophanes' Acharnern inspiriert ist, in der ein choiros ("Ferkel") quiekt, den man auch (in der obszönen Nebenbedeutung von choiros) als "Vagina" verstehen kann, verfolgt sie das Motiv sprechender (und selbstständig handelnder) Geschlechtsorgane auch bei den anderen römischen Satirikern. Ob dabei ihr tiefgründiger Erklärungsversuch - die Geschlechtsorgane sprächen, weil den eigentlichen Sprechorganen die Freiheit der Rede verwehrt sei -, wirklich zutrifft, sei hier dahingestellt.

Tom Hawkins ("Dio Chrysostom and the Naked Parabasis", 69-87) versucht an zwei Reden des Dion von Prusa (or. 32 und 33) zu zeigen, wie Dion das vor allem in den frühen Aristophanes-Stücken charakteristische Strukturelement der Parabase in diesen Reden gewissermaßen verselbständigt und wie der Komödiendichter seinem Publikum tadelnd und zurechtweisend gegenübertritt. Dies gelingt ihm für die Rede 32 (an die Alexandriner) besser als für die Rede 33 (an die Einwohner von Tarsos).

Dem "Schüler" von Dion, Favorinos, wendet sich Ryan B. Samuels zu ("Favorinus and the Comic Adultery Plot", 89-116) und führt aus, wie das Motiv "Eunuch als Ehebrecher", das offenbar erstmals in den Menanderstücken Androgynos und Eunuchos in Erscheinung trat, über manche Zwischenstationen zu Favorinos gelangte und von ihm selber aufgegriffen wurde, um seiner eigenen persona besondere Konturen zu verleihen.

In einem kürzeren, aber sehr substanziellen Beitrag zeigt Fritz Graf ("Comedies and Comic Actors in the Greek East: An Epigraphical Perspective", 117-129), wie sich aus Inschriften des griechischen Mutterlandes und Kleinasiens für das 2. und 3. Jahrhundert n.Chr. ein lebendiges Bild von Festivals an nicht wenigen Orten dieser Regionen ergibt, in denen sowohl "alte" Komödien (d.h. Stücke vor allem Menanders) als auch neu geschriebene aufgeführt wurden und ihre Schauspieler und Dichter (im Fall der neu geschriebenen) um Preise wetteiferten.

In "Plutarch, Epitomes, and Athenian Comedy" (131-139) kann C. W. Marshall plausibel machen, dass die in Plutarchs Moralia erhaltene Comparatio Aristophanis et Menandri durch die zweifache Kürzung, die sie erfahren hat, sehr wahrscheinlich nicht mehr die Schwerpunktsetzung ihres ursprünglichen Autors - für den Aristophanes noch keineswegs der alleinige Vertreter der Alten Komödie war - hat, sondern die Kontrastierung nur noch zwischen Aristophanes und Menander ein Ergebnis der Kürzungsprozesse ist.

Zwei Beiträge sind der Präsenz der Alten Komödie bei Lukian gewidmet. Ralph M. Rosen ("Lucian's Aristophanes: On Understanding Old Comedy in the Roman Imperial Period", 141-162) versucht durch detaillierte Interpretationen von Partien aus Lukians Piscator und Bis Accusatus zu zeigen, dass Lukian der Alten Komödie und ihrem komplexen Charakter mehr abzugewinnen vermochte als die meisten seiner Zeitgenossen. Ian C. Storey ("Exposing Frauds: Lucian and Comedy", 163-180) bietet eine umfassende Bestandsaufnahme der Spuren, die die Alte Komödie in Lukians Werk hinterlassen hat, und kann dabei auch die Rezeption von Stücken in manchen Schriften (z.B. des Marikas des Eupolis im Lexiphanes) zumindest plausibel machen, wo dies bisher noch nicht erkannt worden ist (lediglich die Verbindung zwischen Kratinos' Dionysalexandros und Lukians Iudicium Dearum scheint etwas zu spekulativ).

In "Revoking Comic License: Aristides' Or. 29 and the Performance of Comedy" (181-196) deutet Anna Peterson - unter Zuhilfenahme zeitgenössischer Inschriften aus anderen Orten Griechenlands und Kleinasiens - die im Titel genannte Aelius Aristides-Rede als einen wichtigen Beleg, dass im 2. Jahrhundert n.Chr. in Smyrna noch Komödien im Stil der attischen Alten Komödie neu geschaffen und aufgeführt wurden, deren obszöne Komik und Polemik Aristides ein Dorn im Auge war. Ob es sich dabei um ein lediglich lokales Phänomen handelte, bleibt freilich offen.

In "Aelian and Comedy: Four Studies" (197-222) belegt C. W. Marshall in vier Fallstudien (der Geschichte von Aristophanes und Sokrates in Var. Hist. 2,13; einer detaillierten Übersicht über die Komödien, die Aelian wahrscheinlich noch bekannt waren; einer genauen Analyse der Komposition von Aelians Epistolai Agroikikai, mit besonderen Augenmerk auf die Briefe 13-16, denen Menanders Dyskolos Pate stand; und einer Untersuchung der Geschichte vom Hund des Eupolis in Nat. An. 10,41, mit der Marshall Storeys These, dass diese Geschichte auf den ersten Autolykos des Eupolis zurückgeht, stützen will) die umfassenden Komödienkenntnisse Aelians, denen nur noch die Lukians gleichkämen.

In "The Menandrian World of Alciphron's Letters" (223-238) zeigt Melissa Funke, wie Alkiphron die Welt des menandrischen Athen neu erschafft, indem er in seinen Briefen diese Welt durch Briefe von "sekundären" Figuren aus Menanders Komödien (Fischern, Bauern, Parasiten und Hetären) aus ungewohntem Blickwinkel beleuchtet.

In "Two Clouded Marriages: Aristainetos' Allusions to Aristophanes' Clouds in Letters 2.3 and 2.12" (239-258) schließlich weist Emilia A. Barbiero nach, wie in den beiden im Titel ihres Beitrags genannten Aristainetos-Briefen die Eingangs-Situation der aristophanischen Wolken (die ungleiche Ehe zwischen dem bäuerlich-sparsamen Strepsiades und seiner städtisch-verschwenderischen Frau) gewitzt nachgeahmt und zugleich invertiert wird und wie diese beiden Briefe mit zwei aus dem ersten Buch (5 und 22) durch ein ingeniöses Motiv- und Namensgeflecht ein Quartett bilden, in dem Alte und Neue Komödie bemerkenswerte Inspirationsquellen darstellen.

Der Band schließt mit einem umfangreichen Literaturverzeichnis und einem hilfreichen Index. Insgesamt eine Kollektion, die vor allem für die griechische Rezeption der athenischen Komödie manche neuen Aufschlüsse bringt; etwas ärgerlich dagegen, dass zu viele orthografische Fehler (nicht zuletzt bei Namen) stehengeblieben sind und die Anmerkungen stets erst hinter den Beiträgen stehen, was beim Lesen zu häufigem mühsamen Hin- und Herblättern führt und im Zeitalter des Computer-Layouts nun wirklich nicht mehr sein müsste.

Heinz-Günther Nesselrath