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Rezension von:
Kurt Schilde
Potsdam / Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Schilde: Zur Geschichte des jüdischen Sports im nationalsozialistischen Deutschland (Rezension), in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 11 [15.11.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/11/30166.html


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Zur Geschichte des jüdischen Sports im nationalsozialistischen Deutschland

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Die Geschichte des jüdischen Sports im nationalsozialistischen Deutschland ist in den vergangenen Jahren facettenreich erforscht worden. Dies demonstrieren die hier vorgestellten Publikationen (nicht zu vergessen die darin enthaltenen Literaturangaben) eindrücklich.

Eine besondere und sehr bedeutende Publikation ist die Autobiografie von Gretel Bergmann "Ich war die große jüdische Hoffnung". Die am 15. Juli 2017 im Alter von 103 Jahren in New York verstorbene Margaret Lambert - so hieß sie seit ihrer Heirat - hat ihr Leben als einer "außergewöhnlichen Sportlerin" - wie der Untertitel sagt - beschrieben. Das Buch ist zugleich die Geschichte eines - für die damalige Zeit - außerordentlich selbstbewussten jüdischen Mädchens bzw. Frau. Als Kind war sie ein "Wildfang, der lieber auf Bäume kletterte als sich so zu benehmen, wie es von niedlichen kleinen Mädchen erwartet wurde." (41) Die am 12. April 1914 in Laupheim als Tochter einer Fabrikantenfamilie geborene Gretel Bergmann sprang 1931 den deutschen Rekord. Aber sie beschränkte sich - wie andere jüdische Sportlerinnen auch - nicht auf eine Sportart: "Ich trat im 100- und 200-Meter-Lauf, beim Speer- und Diskuswerfen, beim Kugelstoßen mit einer elf Pfund schweren Kugel und im Weitsprung an. Einmal machte ich sogar beim Geländelauf mit." (111) 1933 wurde sie aus dem Ulmer Fußballverein ausgeschlossen, wanderte nach England aus und hoffte, für Großbritannien an den Olympischen Spielen 1936 in Berlin teilnehmen zu können.

Sie beschreibt, wie sie vom Deutschen Reichsbund für Leibesübungen gezwungen wurde, nach Deutschland zurückzukehren. Als Alibi-Jüdin in der Olympiamannschaft sollte sie dazu beitragen, Boykottbestrebungen zu verhindern. "In mir tobte ein ständiger Kampf - der verzweifelte Wunsch, bei den Olympischen Spielen antreten zu können, und die starke Abneigung, für die Nazis antreten zu müssen. (195) Bei einem Trainingskurs lernte sie den Medizinstudenten Bruno Lambert kennen, mit dem sie später lebenslang verheiratet war.

Trotz ausreichender Leistungen ist sie aber von den Olympischen Spielen ausgeschlossen worden. Entgegen der Realität teilte ihr der Reichsbund am 16. Juli 1936 mit: "Sie werden auf Grund der in letzter Zeit gezeigten Leistungen wohl selbst nicht mit einer Aufstellung gerechnet haben." (Faksimile, 177) Ihre Reaktion war: "Verdammt noch mal, ich zählte zu den vier besten Hochspringerinnen der Welt, und nur weil ich zufällig als Jüdin zur Welt gekommen war, hatte man mich weggeworfen wie einen alten Schuh." (213) Nach dieser großen Demütigung reiste sie 1937 nach New York aus.

Erst 62 Jahre später hatten die Bemühungen von Laupheimer Bürgern und deutschen Sportfunktionären Erfolg, dass sie 1999 gemeinsam mit einem Sohn zum ersten Mal Deutschland besuchte. Diese Versöhnungsgeschichte wird in den zahlreichen Geleit- und Grußworten und reichhaltig illustriert sowie durch ein Interview anlässlich ihres 100. Geburtstages in New York ausführlich beschrieben. Das interessante Buch ist zugleich eine Autobiografie und ein Geschichtsbuch.

Jetzt gibt es endlich eine Gesamtdarstellung jüdischer Fußballvereine im nationalsozialistischen Deutschland. Lorenz Peiffer und Henry Wahlig können als Resultat ihrer umfassenden Forschungen die "Existenz von 200 jüdischen Fußballvereinen bzw. Sportvereinen mit einer Fußballabteilung" (10) nachweisen.

Eingeleitet von einem Kapitel zur Geschichte des jüdischen Fußballs in Deutschland vor 1945 werden lexikonartig Bundesland für Bundesland, ergänzt durch die frühen deutschen Gebiete Ostpreußen, Pommern und Schlesien, die Sportvereine vorgestellt. Eine wesentliche Quellenbasis war die systematische Auswertung zeitgenössischer jüdischer Zeitungen einschließlich lokaler und regionaler Publikationen bis hin zu Gemeindeblättern. Während sich Archive in Deutschland als wenig ergiebig herausstellten, war die Suche in ausländischen Archiven erfolgreicher. Hier wurden bemerkenswerte Erinnerungen von geflüchteten Sportlern und Dokumente gefunden. Wertvolle Zeugnisse stammen auch aus dem Archiven der Maccabi World Union in Ramat Gan (Israel) und des Leo Baeck Institute in New York.

Der Ausschluss jüdischer Fußballspieler aus den allgemeinen Sportvereinen hatte eine wachsende Selbstorganisation in jüdischen Vereinen zur Folge. Sie profitierten vom fußballerischen Vermögen der Sportler und den organisatorischen Qualifikationen der ebenfalls ausgeschlossenen Funktionäre.

Die neu entstandenen Vereine ordneten sich den bereits bestehenden Strukturen zu: Es gab die im Sportbund Schild (des Reichsbundes Jüdischer Frontsoldaten) organisierten Fußball- bzw. Sportvereine, die zunehmende Zahl der sich dem Deutschen Makkabikreis anschließenden zionistisch orientierten Clubs und - bis 1933 - die neutralen VINTUS-Vereine. Seit 1925 existierte der Verband jüdisch-neutraler Turn- und Sportvereine mit überwiegend im Rheinland und im Ruhrgebiet ansässigen Clubs. Nach dem Machtwechsel 1933 änderte sich dies schnell: "Alle VINTUS-Vereine wurden dazu gezwungen, sich entweder dem Makkabi oder dem Sportbund Schild anzuschließen." (313) Vereinzelt hat es auch jüdische Fußballvereine gegeben, die der Arbeitersportbewegung angehört haben. Ein Beispiel ist die 1927 entstandene Jüdische Sportvereinigung Bar Kochba Duisburg-Hamborn-Oberhausen, die Mitglied im Arbeiter-Turn- und Sport-Bund (ATSB) war und deren Sportgruppen sich 1929 dem Deutschen Makkabikreis angeschlossen hatten. (335)

Die unterschiedlich umfangreichen Vereinsartikel enthalten Angaben zur Gründung und Auflösung sowie der Verbandszugehörigkeit, Namen von bekannteren Funktionären und Spielern sowie Angaben zum Vorhandensein eines Sportplatzes. Die Darstellungen zur Geschichte der Vereine werden ergänzt durch biografische Skizzen von Funktionären und (vereinzelt) Funktionärinnen und zahlreichen Spielern. Hier wurde umfangreiches Material für weitere Forschungen erhoben.

Schon bei der ersten dokumentierten Fußballmannschaft des Sportbundes Schild Bad Mergentheim in Baden-Württemberg taucht ein häufig auftretendes Problem auf: "Das Fehlen eines Sportplatzes in Bad Mergentheim erklärt [...], warum die Herren- und die Schülerelf zu ihren Spielen überwiegend auswärts antraten." (39) Diese Schwierigkeit hat sich im Fall von Schild Göppingen relativ einfach lösen lassen: Der Besitzer der örtlichen Filzhutfabrik "richtete dem Klub auf seinem Fabrikgelände [...] einen Sportplatz ein." (44) Bei diesem Vereinsbeispiel zeigte sich auch die Bedeutung des Fußballspiels für das jüdische Gemeinwesen: Im November 1936 nahm der Verein mit anderen aus dem südwestdeutschen Raum an Spielen zu Gunsten der Jüdischen Winterhilfe teil. Mit deren Einnahmen konnten jüdische Hilfsbedürftige unterstützt werden.

Vereinzelt wird auf Freundschaftsspiele zwischen jüdischen und nichtjüdischen Mannschaften hingewiesen, so 1934 und 1935 in Berlin unter Beteiligung des Jüdischen Sportklubs Berlin. (143) Das Ergebnis der Recherchen von Peiffer und Wahlig zeigt deutlich: "Die Sportvereine und Sportplätze wurden zu einem Treffpunkt des jüdischen Gemeindelebens, sie waren ein Ort des sozialen Austausches und gelebter jüdischer Gemeinschaft." (10)

Neben diesem großen Werk der jüdischen Sportgeschichte stammt von Lorenz Peiffer auch der Katalog zu der deutsch-hebräisch-sprachigen Ausstellung "Zwischen Erfolg und Verfolgung. Deutsch-jüdische Fußballstars im Schatten des Hakenkreuzes. / Mi-kochavim le-nirdafim. Kadureglanim jehudim-germanim be-zel ha-karass". Diese Open-Air-Ausstellung war im Mai 2016 auf dem HaBima Platz in Tel Aviv zu sehen gewesen.

Am Anfang des Kataloges steht zunächst eine gekürzte und überarbeitete Fassung der Einleitung der erwähnten von Peiffer mitverfassten Enzyklopädie "Jüdische Fußballvereine im nationalsozialistischen Deutschland".

In kurzen bebilderten Portraits werden ausgewählte Persönlichkeiten des jüdischen Fußballs vorgestellt. Es beginnt mit dem Pionier und Begründer der heute noch bestehenden Zeitschrift "Der Kicker" Walther Bensemann. Der 1873 in Berlin geborene Mann musste 1933 in die Schweiz fliehen, wo er 1934 in Montreux verstarb. Gottfried Fuchs war einer der besten deutschen Fußballspieler: Der 1889 in Karlsruhe auf die Welt gekommene Fuchs wurde als erster Jude in die deutsche Fußball-Nationalmannschaft berufen. Ihm gelang die Flucht nach Kanada, wo er 1972 in Montreal verstorben ist. "Sein Torrekord hat bis heute Bestand: Beim 16:0-Sieg der deutschen Nationalmannschaft bei den Olympischen Spielen 1912 in Stockholm schoss Gottfried Fuchs in einem Länderspiel zehn (10!) Tore." (59)

Von dem Spieler der Stuttgarter Kickers und von Hakoah Stuttgart Bernhard Grünfeld sind weder Geburts- noch Todesdaten bekannt. Er gehörte zu den Teilnehmern der 2. Makkabiah 1935 in Tel Aviv. Zwei Jahre später floh er aus Deutschland nach Argentinien.

Julius Hirsch gehörte dem Karlsruher Fußball-Verein an und spielte ebenfalls für die deutsche Nationalmannschaft. Er wurde 1943 in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert und gilt als verschollen. Der 1892 in Wien als Fritz Kohn geborene österreichische Nationalspieler hatte 1925 seinen Familiennamen in Kerr geändert. Er übernahm 1928 zum ersten Mal und erneut 1932 den Posten als Trainer der Stuttgarter Kickers. 1933 dort entlassen floh er in die Schweiz und überlebte in Argentinien. 1951 kehrte er nach Europa zurück und lebte seit 1963 wieder in Wien, wo er 1974 verstorben ist. Es geht weiter mit dem ungarischen Nationalspieler und Trainer u.a. des 1. FC Nürnberg Jenö Konrad (1894-1978) und dem mit dem FC Bayern München eng verbundenen Kurt Landauer (1884-1961). Dieser Mann war vor 1933 Präsident des Vereins, wurde als Opfer der Pogrome im November 1938 im KZ Dachau inhaftiert und floh in die Schweiz. 1947 kehrte er nach München zurück und wurde erneut Präsident des FC Bayern. 1961 ist er in München verstorben.

Der 1891 in Dresden geborene Simon Leiserowitsch - "der erste Star des Berliner Fußballs" (87) - floh 1933 nach Palästina, wo er als Trainer bei Makkabi Tel Aviv und der Jugend von Hapoel Tel Aviv wirkte. Er ist 1962 verarmt und vergessen gestorben. Paul Mahrer stammt aus der Tschechoslowakei, ging 1926 als Profi in die USA und kehrte in seine Heimat zurück. Mit 43 Jahren spielte er in der Ghetto-Liga im KZ Theresienstadt, wurde 1945 durch die Rote Armee befreit und emigrierte in die USA. Er starb 1985 in Los Angeles. Im Unterschied zu ihm ist der 1906 in Aachen geborene Max Salomon vermutlich in Auschwitz ermordet worden, wohin er 1942 deportiert wurde. Emanuel Schaffer war der "erfolgreichste Fußballtrainer Israels" (99). Der gebürtige Pole (geb. 1923 in Drohobycz) verbrachte seine Kindheit im Ruhrgebiet. Er floh mit seiner Familie über Frankreich und das Saarland zurück in seine Geburtsstadt und brachte sich vor der deutschen Wehrmacht im sowjetisch besetzten Ostgalizien in Sicherheit. Nach dem Ende des Krieges ging er wieder zurück nach Polen und von dort nach Israel. Er verwirklichte seinen Traum und wurde 1958 an der Deutschen Sporthochschule in Köln bei Hennes Weisweiler als Fußballtrainer ausgebildet. Er ist 2012 in Israel verstorben. An seinem Grab verabschiedete sich der Präsident des israelischen Fußballverbandes mit den Worten: "Er war der größte Trainer, den wir je hatten." (103)

In Hamburg 1892 geboren und 1970 gestorben ist Martin Abraham Stock, der "Zeit seines Lebens ein begeisterter Fußballspieler, -schiedsrichter und -funktionär" (105) war. Der zum Schluss dieses wichtigen erinnerungspolitischen Bandes gewürdigte Walter Vollweiler stammt aus Ulm (geb. 1912) und ist 1991 in den USA gestorben. Er gehörte dem Ulmer Fußball-Verein an - wie die eingangs erwähnte Gretel Bergmann. Peiffer ist ein sehr wichtiges Buch zur Geschichte jüdischer Fußballspieler und -funktionäre gelungen.

Die hier vorgestellten wichtigen Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus, der Sportgeschichte und der Geschichte des jüdischen Sports ergänzt ein regional orientierter Ausstellungskatalog. Das Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt in Berlin hat "an die vertriebenen, verstoßenen, mit dem Tode bedrohten und oft auch um ihr Leben gebrachten jüdischen Sportlerinnen und Sportler aus Berlin" (7) gedacht. Nach einer ausführlichen historischen Einführung von Ralf Schäfer zum Antisemitismus im Sport vor 1933 werden 14 Personen vorgestellt: In ausführlichen Darstellungen geht es um die Cousins und Turner Alfred und Gustav Felix Flatow sowie die Brüder und Leichtathleten Oscar und Georg Kurz. Es gibt drei Portraits von Frauen: die Leichtathletin und Handballspielerin Lilly Henoch, die Leichtathletin Ingeborg Mello und die Tennisspielerin Nelly Neppach. Henoch wurde in Riga ermordet, Mello gelang die Flucht nach Argentinien, wo sie 2009 verstarb und Neppach hat sich 1933 das Leben genommen.

Der bereits angesprochene Fußballspieler Simon Leiserowitsch wird ebenso vorgestellt, wie die Boxer Bully Schott und Erich Seelig. Es wird weiter auf den Sportarzt Hermann Horwitz, den Leichtathleten und Sportfunktionär Justus W. Meyerhof sowie den Mediziner und ebenfalls Sportfunktionär Werner Ruhemann und abschließend mit Felix Simmenauer erneut auf einen Leichtathleten eingegangen. Von diesem stammt eine Leseprobe aus seinem Buch "Die Goldmedaille" (Berlin 1989). Alle diese Personen werden ausführlich vorgestellt.

Abgerundet wird der sehr informative Ausstellungskatalog mit historischen Beiträgen von dem leider 2016 verstorbenen Martin-Heinz Ehlert. Er hat u.a. auf ein "folgenschweres Handballspiel" zwischen dem Jüdischen Turn- und Sport-Club 05 gegen die Frauenmannschaft des Polizeisportvereins (PSV) - das zum Ausschluss sämtlicher am Spiel beteiligter Mitglieder des PSV führte - hingewiesen. Es sind die letzten Beiträge von Ehlert zur jüdischen und Sportgeschichte. Dem reichhaltig bebilderten Katalog ist ein mehrseitiges Glossar beigefügt.

Kurt Schilde