Rezension über:

Felix Schürmann: Der graue Unterstrom. Walfänger und Küstengesellschaften an den tiefen Stränden Afrikas (1770 - 1920) (= Reihe "Globalgeschichte"; Bd. 25), Frankfurt/M.: Campus 2017, 682 S., 48 s/w-Abb., ISBN 978-3-593-50675-3, EUR 59,00
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Rezension von:
Arno Sonderegger
Institut für Afrikawissenschaften, Universität Wien
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Arno Sonderegger: Rezension von: Felix Schürmann: Der graue Unterstrom. Walfänger und Küstengesellschaften an den tiefen Stränden Afrikas (1770 - 1920), Frankfurt/M.: Campus 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 1 [15.01.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/01/29907.html


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Felix Schürmann: Der graue Unterstrom

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Schürmann zielt auf eine "Betrachtung des Walfangs als einer mobilen Praxis mit globaler Tragweite und weitreichenden Nebenfolgen" (12). Seinen Ausgangspunkt formuliert er griffig: "Walfänger aus Nordamerika und Europa haben im Zuge der Ausweitung ihrer Fahrten auf alle Ozeane ab Mitte des 18. Jahrhunderts ein Geflecht aus Jagdgebieten, Verkehrswesen, Umladehäfen und Transportketten um die Welt gespannt." (12) Das Thema bildet damit unmissverständlich einen Teil der Globalgeschichte. Schürmann selbst konzentriert seine maritime Geschichte auf den Atlantischen und den Indischen Ozean, bzw. auf Orte an der West- und Ostküste Afrikas und ihnen vorgelagerte Inseln. Dabei interessiert er sich für die lokalen Ereignisse und kleinen Geschichten, sowohl die der Walfänger (an Bord und an Land) als auch der afrikanischen Küstenbewohner, mit denen sie in Kontakt traten. Schürmanns erklärtes Interesse, "das Unerwartete und das Uneindeutige, das Paradoxe und Gegenläufige, das Disparate und das Eigensinnige" (14) in den Vordergrund zu rücken, führt zu einer reichhaltigen, dichten Darstellung sowohl global- wie lokalhistorischer Zusammenhänge. Verallgemeinerungen werden vorsichtig und umsichtig vorgetragen, und schon einleitend durch Bezugnahme auf theoretisch-reflexive Literatur aus mehreren Wissenschaftsdisziplinen abgesichert (37-44).

Innerhalb der Afrika-Historiographie ist dem Walfang bis dato kaum Aufmerksamkeit geschenkt worden; einzelne Pionierstudien der 1960er Jahre fanden keine Fortsetzung (17-21). Angesichts der Quellenfülle, die Schürmann ausgemacht und bewältigt hat, verwundert das auf den ersten Blick. Doch erscheint es plausibel, wenn man sich die damals starke Afrika-Zentrierung der Subdisziplin in Erinnerung ruft und ihr Bestreben, kontinentalafrikanische Akteure und ihre Stimmen in den Mittelpunkt historischer Darstellung zu rücken. In den Quellen zum Walfang - von Logbüchern, die die "öffentliche Geschichte" der Unternehmung notierten, zu den "privaten Geschichten", die in Tagebüchern und Briefen festgehalten, aber auch in Form von Reiseberichten und Memoirenliteratur veröffentlicht wurden, bis hin zu Aufzeichnungen von amerikanischen Konsulaten und Zeitschriften (22-36) - kommen diese selbstredend maximal indirekt zur Sprache. Umso beeindruckender ist Schürmanns Leistung einzuschätzen, in den acht lokalisierten Fallstudien diese Quellen mit der afrikahistorischen Literatur in Beziehung zu setzen.

Das Bemühen um Akteurszentrierung zieht sich wie ein roter Faden durch Schürmanns Buch. Es schlägt sich schon in den Überschriften seiner Rahmenkapitel nieder, für die er Begriffe aus der Sprache der Walfänger benutzt: Einleitung: Outward bound (7-48) und Schluss: Homeward bound (613-619), "Auf Ausfahrt" und "Auf Heimfahrt" also. In der Strukturierung des Buches schlägt sich die doppelte Orientierung am Lokalen und am Globalen in einer gewissen gebrochenen Zweiteilung des Buches nieder. Zum einen sind da die acht nummerierten Abschnitte zu den in den Blick genommenen Küsten- bzw. Inselorten, die jeweils unter verschiedenen thematischen Gesichtspunkten und mit unterschiedlichem zeitlichen Fokus behandelt werden: 1. Vom Walgrund zum Handelshafen: Walvis Bay, 1780-1860 [Namibia] (81-141); 2. Die Zuspitzung der Zwietracht: Delagoa Bay, 1780-1845 [Mosambik] (143-190); 3. Stabilisierende Warenflüsse: Saint Augustin, Madagaskar, 1830-1860 (257-290); 4. Der Provianthandel als Machtressource: Mutsamudu, Anjouan, 1835-1890 [Komoren] (291-338); 5. Verheißung und Wagnis: Port Louis, Mauritius, 1789-1878 (339-394); 6. Im Zeichen der Abolition: Cabinda, 1850-1885 [Angola] (441-484); 7. Die Herausbildung einer westafrikanischen Walfanggemeinschaft: San Antonio, Annobón, 1825-1950 [Äquatorialguinea] (485-536); 8. Walfänger zu Migrationsvehikeln: Furna, Brava, 1770-1920 [Kapverden] (537-611).

Zum zweiten stehen neben (und zwischen) diesen mikrohistorisch ausgerichteten Studien zu den Beziehungen zwischen Walfängern und afrikanischen Küstengesellschaften drei allgemein orientierte Abschnitte, die Schürmann "als Abschnitte des Dazwischen" versteht, als "zu schwer [...], um bloß Überbrückungen zu sein." (47) Er nennt sie deswegen "Passagen": So erzählt Passagen I: Wale jagen vor der Küste Afrikas (49-80) die Geschichte des Walfangs auf hoher See in ihren großen Zügen. Schürmann etabliert eine Periodisierung dieses Wirtschaftszweigs und gibt seinen Leserinnen und Lesern damit einen kompakten Kompass in die Hand, um durch die Einzelstudien zu navigieren. Passagen II: Die Welt auf einem Walfänger erfahren (191-256) behandelt sozialgeschichtlich das Leben der Walfänger, verstanden "als eine distinkte Akteursgruppe", tief geprägt vom "Leben und Arbeiten auf dem Schiff", das "sich in das Bewusstsein und in die Körper der Männer ein[schrieb]" (192); Passagen III: An Land gehen (395-439) schließlich behandelt die Landgänge der Mannschaften. Auch hier zeigt sich Schürmanns Gespür für eine nüchtern erzählte "Geschichte von unten", wenn er resümierend die Differenz zwischen den Eignerinteressen, repräsentiert durch die Schiffskapitäne, und den Seeleuten folgendermaßen auf den Punkt bringt: "Kapitäne ließen einen Zwischenhalt in der Regel aus betrieblichen Gründen einlegen, um die Voraussetzungen für das Fortsetzen einer Fahrt zu schaffen (durch Reparaturen und Instandsetzungsarbeiten, die Aufnahme von Proviant, Trinkwasser und Brennholz oder die Rekrutierung von Arbeitskräften) oder um die Produktivität einer Fahrt zu erhöhen (durch Opportunitätsgeschäfte, das Einholen von Informationen oder das Umladen von Tran und Barten). Für die meisten Seeleute aber bedeutete ein Zwischenhalt vor allem eine Möglichkeit des temporären Ausbrechens aus den beengten und zumutungsreichen Verhältnissen auf dem Schiff. In den wenigen Tagen, die ihnen dafür zur Verfügung standen [...], suchten sie die Entbehrungen des Alltags an Bord intensiv zu kompensieren. Für viele, vielleicht die meisten Seeleute hieß das, möglichst oft sexuelle Kontakte zu Frauen zu finden, möglichst viel Alkohol zu trinken und all dem nachzugehen, was an Bord nicht möglich war. Küstengesellschaften erlebten und beargwöhnten Seeleute auf Landgang daher oft als Unruhestifter. Doch auch die einsame Wanderung, der Kirchenbesuch oder der Kauf von Souvenirs bildeten Elemente von Landgängen, ebenso wie harte Arbeit beim Wasserholen, Holzfällen und Umladen von Fässern. Und viele der Männer kehrten nicht auf ihr Schiff zurück: Desertierte, entlassene und ausgesetzte Seeleute säumten die Wegesränder des Walfangs zu Tausenden." (439)

Wiederholt weist Schürmann im Lauf seines Buches darauf hin, dass das "neuartige Raumsystem" (12), das infolge des "Hochsee-Walfangs amerikanischen Stils" (22 und passim) während des langen 19. Jahrhunderts entstand, der ein phasenweise zentraler Zweig der Weltwirtschaft war, nicht einfach mit Imperialismus gleichgesetzt werden kann. "Walfänger verfolgten Wale", schreibt Schürmann pointiert: "Sie verfolgten nicht das Ziel, auf die Verhältnisse in afrikanischen Küstengesellschaften Einfluss zu nehmen oder sie gar umzugestalten. Das aber haben sie mitunter bewirkt [...]." (15) Schürmanns Buch demonstriert überzeugend, dass Walfänger und viele andere, "[...] die im 18. und 19. Jahrhundert über den Atlantik an die Küste Afrikas kamen, [nicht] pauschal als Agenten eines imperialen Projekts" (255) oder eines "»essentialisierten« Westens" (14) ausgewiesen werden können. An die Stelle derartiger Vereinfachungen (und Verfälschungen) setzt Schürmann seine mehrstimmigen Erzählungen über die vielfältigen und vielgestaltigen Kontaktbeziehungen, die sich an verschiedenen Orten am bzw. rund um den afrikanischen Kontinent abgespielt hatten.

Zusammenfassend: Felix Schürmann hat eine monumentale Studie vorgelegt, welche die gesamte "Ära des Hochsee-Walfangs amerikanischen Stils" (50) in primär sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher Perspektive betrachtet, aber auch kulturelle Aspekte berücksichtigt und anregende Fragen zu Macht und Ungleichheit formuliert. Zudem stellt seine lokalisierte Behandlung der Kulturbegegnungen zwischen Walfängern als Akteure eines global operierenden kapitalistischen Wirtschaftszweigs einerseits und afrikanischen Küstengesellschaften andererseits einen überaus originellen und lesenswerten Beitrag zur Globalgeschichtsschreibung dar.

Arno Sonderegger