Rezension über:

Daniel Brückenhaus: Policing Transnational Protest. Liberal Imperialism and the Surveillance of Anti-Colonialists in Europe, 1905-1945, Oxford: Oxford University Press 2017, XIII + 300 S., ISBN 978-0-19-066001-7, GBP 47,99
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Rezension von:
Jürgen Dinkel
Historisches Seminar, Universität Leipzig
Redaktionelle Betreuung:
Amit Das Gupta
Empfohlene Zitierweise:
Jürgen Dinkel: Rezension von: Daniel Brückenhaus: Policing Transnational Protest. Liberal Imperialism and the Surveillance of Anti-Colonialists in Europe, 1905-1945, Oxford: Oxford University Press 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 1 [15.01.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/01/30293.html


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Daniel Brückenhaus: Policing Transnational Protest

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Warum kam es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem intensiveren Ausbau transnationaler antikolonialer Netzwerke? Warum kam es insbesondere in den 1920er Jahren zu persönlichen und institutionellen Verflechtungen zwischen Gegnern der Kolonialpolitik und antikolonialen Bewegungen aus verschiedenen Weltregionen und der Herausbildung einer kosmopolitischen antikolonialen Elite? Diese Fragen haben Historikerinnen und Historiker in den letzten Jahren unterschiedlich beantwortet: Sie haben unter anderem darauf verwiesen, dass die repressive Politik der Kolonialmächte zur vermehrten Migration von antikolonialen Akteuren aus den Kolonien in die liberaleren europäischen Metropolen führte. Dort bildeten die Alltagserfahrungen sowie die Politisierung von Migranten eine wichtige Basis für die Entstehung grenzüberschreitender Beziehungen. Bedeutend waren auch die Gründung und Politik des Völkerbundes und der Sowjetunion. Schließlich trugen kolonialkritische Konferenzen wie beispielsweise in Brüssel 1927 und die Organisationstätigkeit einzelner Personen wie Willi Münzenberg und Virendranath Chattopadhyaya (Chatto) zur Herausbildung von transnationalen Netzwerken bei. Die Gewichtung dieser Faktoren ist noch umstritten. Unstrittig ist allerdings, dass es insbesondere im Europa der Zwischenkriegszeit zum vermehrten Austausch zwischen Gegnern der Kolonialpolitik kam.

Diesen Debatten fügt Daniel Brückenhaus, Assistant Professor of History am Beloit College, mit seiner Dissertation einen weiteren, bisher wenig beachteten Aspekt hinzu. Seine These lautet, dass die zunehmenden transnationalen Kooperationen von Polizei und Geheimdiensten zur Überwachung und Verfolgung von Gegnern der Kolonialpolitik zu Beginn des 20. Jahrhunderts zentral für die Entstehung transnationaler antikolonialer Netzwerke waren. Denn sie zwangen die Kritiker immer wieder, ihren Aufenthaltsort zu wechseln, um sich ihrer Überwachung zu entziehen. Auch trugen sie dazu bei, dass Kolonialgegner ihren Kampf immer stärker als einen globalen verstanden. Die Ausbildung antikolonialer Netzwerke war somit unter anderem sowohl das Produkt von einer transnationalen Zusammenarbeit der Sicherheitsorgane als auch eine Reaktion auf dieselbe.

Der Schwerpunkt der Analyse richtet sich auf Überwachungsmaßnahmen der Regierungen in Großbritannien, Frankreich und Deutschland sowie antikoloniale Netzwerkbildung in diesen Ländern. Kooperationen der drei genannten Regierungen sowie die Zusammenarbeit von Kolonialgegnern mit entsprechenden Partnern in den Vereinigten Staaten, in Osteuropa und in den Kolonien werden nur am Rande thematisiert. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich vom Beginn des Jahrhunderts bis ins Jahr 1945.

Indem Brückenhaus staatliche Überwachungsmaßnahmen und antikoloniale Netzwerkbildung zusammendenkt und untersucht, erweitert er die Geschichte des Antikolonialismus. Ihm gelingt es, detailliert aufzuzeigen, wie nationale Polizeibehörden und Geheimdienste in Großbritannien und Frankreich seit Beginn des Jahrhunderts einen Austausch mit Kollegen in anderen Ländern anstrebten. Dies sollte es ihnen ermöglichen, die sie interessierenden Personen möglichst flächendeckend und lückenlos zu observieren. Deutlich werden auch die Widerstände gegen diese Kooperation. In Großbritannien und Frankreich standen liberale Öffentlichkeiten ihnen skeptisch gegenüber. In der Weimarer Republik sprachen sich nationalistische Gruppierungen und Mitarbeiter in den Ministerien gegen eine Zusammenarbeit mit der britischen und der französischen Regierung aus: Aus der Perspektive eines Landes ohne Kolonien stellten Gegner der Kolonialpolitik keine Gefahr dar. Im Gegenteil: gerade für Nationalisten und Kommunisten waren sie potentielle Verbündete für eigene politische Projekte, für Regierungspolitiker zumindest eine Verhandlungsmasse im Dialog mit der französischen und britischen Regierung.

An der kontinuierlichen Intensivierung der internationalen Zusammenarbeit zwischen England und Frankreich, und, in abgeschwächter Form, zwischen diesen Ländern mit Deutschland zumindest bis 1933 änderte das freilich wenig. Es führte allerdings dazu, dass der Informationsaustausch in vielen Fällen nicht auf offiziellem Wege erfolgte, sondern über inoffizielle Kanäle und in rechtlichen Graubereichen. Einzelne Überwachungsstrategien (z.B. die Überwachung von Finanzströmen, die personenbezogene Überwachung, der Einsatz von Spitzeln) und der Ausbau der internationalen Geheimdienstkooperation werden im Buch anschaulich herausgearbeitet. Weniger erfährt der Leser hingegen darüber, welche Strategien und Alternativen (abgesehen von internationaler Kooperation) innerhalb der jeweiligen nationalen Polizeibehörden, Geheimdienste und Ministerien überhaupt debattiert wurden, welche Personen und Institutionen an diesen Entscheidungen beteiligt waren und wodurch sich die Überwachung von antikolonialen Aktivisten von anderen als staatsfeindlich eingestuften Personen unterschied. Das Innenleben von Polizei und Geheimdiensten bleibt stellenweise schemenhaft.

Die zweite Stoßrichtung von Brückenhaus Studie zielt auf die bereits besser erforschten Aktivitäten von Kolonialgegnern. In dieser Hinsicht bietet das Buch nicht nur eine lesenswerte Synthese aktueller Forschungskontroversen. Im gelungenen Zusammenspiel mit seinen Analysen zu staatlichen Überwachungsmaßnahmen arbeitet er überzeugend deren Auswirkungen auf die Handlungen von Gegnern der Kolonialherrschaft heraus. Letztere versuchten sich durch die Verwendung von Tarnnamen, chiffrierten Briefen und vor allem durch häufige Wohnortwechsel ihrer Überwachung und Verfolgung zu entziehen. Dies resultierte in einer erhöhten Mobilität dieser Akteure und führte dazu, dass sie mit zahlreichen Personen, Komitees und Vereinen in ganz Europa in Kontakt kamen. Unter anderem am Beispiel von Chatto zeigt Brückenhaus dabei auf, wie so länderübergreifende antikoloniale Netzwerke entstanden und einzelne Personen lernten, sich in diesen Räumen zu bewegen. Deutlich wird auch, wie geheimdienstliche Kooperation und deren zeitweise Intensivierung immer wieder zur räumlichen Verlagerung antikolonialer Zentren in Westeuropa führten: vor dem Ersten Weltkrieg von London nach Frankreich; in die Schweiz und nach Deutschland während des Ersten Weltkriegs; nach Deutschland in den 1920er Jahren; und wieder zurück nach Paris, London sowie nach Moskau ab Anfang der 1930er Jahre.

Zusammengenommen legt Brückenhaus eine flüssig geschriebene Studie zum Katz- und Mausspiel zwischen Polizei und Antikolonialisten in der ersten Jahrhunderthälfte in Westeuropa vor. Diese ist anregend im Hinblick auf das Wechselspiel zwischen polizeilichem Handeln und der Entstehung antikolonialer Netzwerke. Dem Forschungsstand zur antikolonialen Netzwerkbildung wird damit ein bislang wenig beachteter Aspekt hinzugefügt. Zugleich regt das Buch an, noch einmal genauer darüber nachzudenken, wie die zur Entstehung antikolonialer Netzwerke bisher herausgearbeiteten Faktoren zu gewichten sind und für welche Akteure und Zeiträume sie Erklärungskraft besitzen. Schließlich trägt die Studie zur Verzahnung zweier Forschungsstränge bei: dem zur Geschichte des Antikolonialismus und dem zur Historisierung von staatlicher und internationaler Sicherheitspolitik. Sein Buch hält Anregungen für beide Seiten bereit.

Jürgen Dinkel