Rezension über:

Claudia Deglau / Patrick Reinard / Kai Ruffing (Hgg.): Klio und die Nationalsozialisten. Gesammelte Schriften zur Wissenschafts- und Rezeptionsgeschichte Volker Losemann (= Philippika. Altertumswissenschaftliche Abhandlungen; 106), Wiesbaden: Harrassowitz 2017, XVII + 311 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-3-447-10771-6, EUR 68,00
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Rezension von:
Beat Näf
Historisches Seminar, Universität Zürich
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Beat Näf: Rezension von: Claudia Deglau / Patrick Reinard / Kai Ruffing (Hgg.): Klio und die Nationalsozialisten. Gesammelte Schriften zur Wissenschafts- und Rezeptionsgeschichte Volker Losemann, Wiesbaden: Harrassowitz 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 2 [15.02.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/02/30954.html


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Claudia Deglau / Patrick Reinard / Kai Ruffing (Hgg.): Klio und die Nationalsozialisten

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Die NS-Zeit zählt zu den am besten untersuchten Abschnitten der Geschichte und der Zeitgeschichte. Dies gilt auch für das Verhältnis der Wissenschaften zur NS-Ideologie und zum NS-System. An welche Disziplinen wir auch immer denken, ob an Anthropologie, Biologie, Mathematik, Medizin, Naturwissenschaften, Physik, Psychologie, Psychiatrie, Recht, Theologie oder an die Wissenschaften vom Altertum und unter diesen gerade an die Alte Geschichte: Es fehlt wirklich nicht an Publikationen zu ihnen, und es ist so gut wie unmöglich, sie alle zu lesen. Etliche Hindernisse sind indes der Forschung im Weg gestanden. Und viele grundsätzliche Fragen stellen sich nach wie vor: Bis heute wird deshalb trotz des guten Forschungsstandes immer wieder ein Nachholbedarf moniert.

Nach 1945 wollte man vergessen und verdrängen. Lange ist das so geblieben. Die hier gesammelten Schriften Volker Losemanns, eine Auswahl von gut einem Dutzend Aufsätzen aus den Jahren 1980 bis 2010, haben geholfen solche Bestrebungen zu konterkarieren. Sie bieten Forschungsgeschichte, Einzeluntersuchungen und Übersichtsdarstellung.

Vom lebendigen Interesse an diesem Thema zeugt etwa auch der bei deutschen Althistorikern (so Stefan Rebenich und Uwe Walter) zum Teil recht kritisch beurteilte Erfolg von Alain Chapoutot: Übersetzt von Walther Fekl ist 2014 sein Buch Le national-socialisme et l'antiquité (2008) auf Deutsch erschienen. Seit letztem Jahr ist es bei der University of California Press auf Englisch erhältlich und trägt nun den Titel Greeks, Romans, Germans. How the Nazis Usurped Europe's Classical Past. Als Ergebnis sorgfältiger Archivforschungen ist insbesondere an Hans Peter Obermayers Deutsche Altertumswissenschaftler im amerikanischen Exil. Eine Rekonstruktion (2014) zu erinnern. 2016 ist ein zweiter Band von Porträts Klassischer Archäologen im Rahmen des Forschungsclusters 5 des Deutschen Archäologischen Instituts (Die Geschichte des Deutschen Archäologischen Instituts im 20. Jahrhundert) erschienen. Mehrere Publikationen widmen sich gerade wieder Werner Jaeger und seinem "Dritten Humanismus". Bei dieser wichtigen Bewegung ist die Frage nach ihrem Verhältnis zu Faschismus und NS besonders diffizil zu beantworten.

Eben hat Claudia Deglau ein eindrucksvolles und wichtiges Buch über den Althistoriker Franz Hampl vorgelegt, und zugleich ist eben frisch von der Presse ein von Volker Losemann und Kai Ruffing herausgegebener Band mit Beiträgen zur Geschichte des Seminars für Alte Geschichte in Marburg erhältlich. [1] In den beiden zuletzt genannten Büchern geht es unter anderem auch um die Auseinandersetzung mit den Anregungen des verehrten Lehrers von Volker Losemann, Karl Christ, der zusammen mit Arnaldo Momigliano zu einem der bekanntesten Forscher im Bereiche der Alten Geschichte und hier gerade der Wissenschaftsgeschichte der Alten Geschichte geworden ist, lange bevor das Lexikon Der neue Pauly der "Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte" ein Viertel der publizierten Bände widmete und mit einem von Peter Kuhlmann und Helmuth Schneider herausgegebenen Supplementband Geschichte der Altertumswissenschaften. Biographisches Lexikon ergänzte. Volkers Losemanns Beiträge im Neuen Pauly (so zu "Nationalsozialismus" und "Sparta") sind in den vorliegenden Gesammelten Schriften übrigens nicht abgedruckt, nicht zuletzt wohl auch, weil sie leicht zu finden sind.

Nach einem Geleitwort des emeritierten Marburger Althistorikers Hans-Joachim Drexhage, einem Vorwort der Herausgeber und dem Schriftenverzeichnis Volker Losemanns setzen die Beiträge mit dem Aufsatz Programme Deutscher Althistoriker in der "Machtergreifungsphase" ein. Der Text ist 1980 in den Quaderni di Storia des bekannten italienischen Klassischen Philologen, Wissenschaftshistorikers und aktiven Kommunisten Luciano Canforas erschienen. Der Beitrag vermittelt wie auch weitere Aufsätze - so zu den Doriern, Sparta oder dem Verhältnis zwischen Römern und Germanen - einen Eindruck von der Art und Weise, wie Wissenschaftler sich inhaltlich mit ihren Themen in der Zeit des NS beschäftigt haben, wobei Losemann auch berücksichtigt, was vor und nach der Zeit des NS geschehen ist. Man wird den Band an die Seite seiner 1977 erschienenen Dissertation Nationalsozialismus und Antike stellen. Dort sind vorrangig Personal- und Forschungspolitik behandelt worden. Es kamen die "Lagerarbeit" Dozierender, der "Kriegseinsatz der Altertumswissenschaften" oder das Verhältnis zu Himmlers "SS-Forschungsgemeinschaft Ahnenerbe" und Alfred Rosenbergs "Hoher Schule der Partei" (und dessen von Richard Harder geleitetem "Institut für Indogermanische Altertumskunde") zur Sprache, alles auf Grund sorgfältiger Archivarbeit verlässlich aufgearbeitet und präzise dargestellt.

Die Beiträge Volker Losemanns, so viel ist klar, stehen für Erfolge der Wissenschafts- und Rezeptionsgeschichte der Antike. Diese hat auch zweifellos auch außerhalb der Wissenschaften vom Altertum ihre Bedeutung, obschon sie ungleich wahrgenommen wird. Wenn man beispielsweise gerade das gleichfalls 2017 erschienene Buch von Magnus Brechtken über den Architekten und Minister Albert Speer, einem "führenden Organisator der NS-Rassenpolitik", liest, so ist vielleicht doch daran zu erinnern, dass es nicht gleichgültig ist, was Hitler, Speer und andere NS-Größen über Geschichte, Altertum, Antike, Humanismus und deren Vermittlung gedacht haben und wie sie sich mit Kenntnissen und Vorurteilen über sie inszeniert haben. Dabei hatten sie auch in Mussolini und dem italienischen Faschismus Vorbilder. In der 2016 im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte (dessen stellvertretender Direktor Magnus Brechtken ist) herausgegebenen kritischen Edition von Hitlers Mein Kampf sind solche Verbindungen indes immer wieder kommentiert.

Speer wird in den Gesammelten Schriften Losemanns zwar nicht behandelt, Hitler wiederholt, aber nicht zentral, ausführlich indes Richard Walther Darré, der als Agrarexperte der NSDAP und "Reichsbauernführer" beziehungsweise "Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft" amtierte und seine "Blut- und Boden"-Ideologie aus Spartaphantasien nährte. Zeitgeschichte bedarf des Blickes auf die Auseinandersetzung mit der Antike, so wie die Beschäftigung mit der Geschichte des Altertums des Blickes auf die Zeitgeschichte.


Anmerkung:

[1] Claudia Deglau: Der Althistoriker Franz Hampl zwischen Nationalsozialismus und Demokratie. Kontinuität und Wandel im Fach Alte Geschichte, Wiesbaden 2017 (Philippika. Altertumswissenschaftliche Abhandlungen; 115); Volker Losemann / Kai Ruffing (Hgg.): In solo barbarico. Das Seminar für Alte Geschichte der Philipps-Universität Marburg von seinen Anfängen bis in die 1960er Jahre, Münster 2018 (Academia Marburgensis; 14).

Beat Näf