Rezension über:

Christof Dipper: Ferne Nachbarn. Vergleichende Studien zu Deutschland und Italien in der Moderne (= Italien in der Moderne; Bd. 23), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2017, 362 S., 6 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-50787-9, EUR 45,00
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Rezension von:
Amerigo Caruso
Historisches Institut, Universität des Saarlandes
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Amerigo Caruso: Rezension von: Christof Dipper: Ferne Nachbarn. Vergleichende Studien zu Deutschland und Italien in der Moderne, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 4 [15.04.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/04/31163.html


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Christof Dipper: Ferne Nachbarn

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Ferne Nachbarn ist ein Oxymoron. Jedoch schließen sich diese zwei widersprüchlichen Begriffe, wenn man einen genaueren Blick auf die Geschichte Deutschlands und Italiens wirft, nicht gegenseitig aus. Deutschland und Italien sind zwar enge Nachbarn, die voneinander viel zu wissen glauben, sich jedoch nur oberflächlich kennen. Mit dieser programmatischen Aussage leitet Christof Dipper einen neuen Sammelband ein, der dreizehn seiner Aufsätze zu Vergleichs-, Verflechtungs- und Wahrnehmungsgeschichte Deutschlands und Italiens in der Moderne beinhaltet. Dabei handelt es sich um zwölf rezente, teilweise überarbeitete Studien plus ein Ineditum. Die ausgewählten Beiträge sind alle nach 2000 erschienen, mit Ausnahme des 1979 veröffentlichen Aufsatzes zur Agrarpolitik der deutschen und italienischen Jakobiner. Insgesamt ist das Korpus beeindruckend, betrachtet man seine chronologische Breite und die daraus resultierende epochenübergreifende Urteilskraft. Bemerkenswert ist außerdem, dass die Texte eine Vielfalt an thematischen Schwerpunkten und methodologischen Zugängen anbieten. Sie erfassen die Geschichte der Moderne von der Sattelzeit um 1800 bis zur Zeitgeschichte.

Christof Dipper hat während der letzten vier Jahrzehnte die deutsche Italienforschung wie kein zweiter geprägt. Beim Durchblättern seines 21-seitigen Schriftenverzeichnisses fällt sofort auf, dass die Geschichte der Moderne und der italienischen Halbinsel zwei seiner Lieblingsthemen sind. Diese Forschungsinteressen werden in der von ihm mitherausgegebenen Reihe Italien in der Moderne, in die das hier besprochene Buch aufgenommen wurde, subsumiert. In diesem Sammelband versucht Dipper mit der leitenden These der starken Asymmetrie der deutsch-italienischen Geschichte die Beiträge unter ein gemeinsames Label zu bringen. Eine als Titelbild verwendete französische Karikatur von 1893, die die damals im Dreibund alliierten Nachbarn Deutschland und Italien als ungleiches Paar (Ochse und Frosch) persifliert, soll die Asymmetrie-These versinnbildlichen. Um diesen Grundgedanken zu diskutieren, bietet Dipper "ein gutes Dutzend Momentaufnahmen, die zeigen wollen, wie unterschiedlich die Italiener und die Deutschen mit den Herausforderungen der Moderne umgegangen sind" (11).

Auf den ersten Blick sind die wichtigsten Stationen, denen Deutschland und Italien auf dem langen Weg in die Moderne begegneten, ähnlich. Sie schließen die Aufklärung, das Zeitalter der Revolutionen, die Nationalstaatsgründung, die Diktatur, das Wirtschaftswunder und die Zeit nach dem Boom ein. Jedoch sind die Auswirkungen und Folgen dieser Staatsbildungs- und Modernisierungsprozesse partiell oder komplett unterschiedlich. Die Aufklärung erreichte beispielweise einen höheren Popularisierungsgrad nördlich der Alpen, während Revolution und napoleonische Herrschaft bei den italienischen Eliten populärer als in Deutschland waren. Die modernen Wissenschaften prägten die deutsche Gesellschaft maßgeblicher als die italienische. Umgekehrt war die im NS-Staat realisierte soziale Umformung viel stärker als die des Faschismus südlich der Alpen.

Ein wesentliches Ziel dieser Publikation ist es, das schwere Erbe der Parallelgeschichte zu korrigieren. Diese historiographische Tendenz hat teleologisch vorkonstruierte oder stereotypierte und vereinfachte Deutungsmuster hervorgebracht. Jedoch wird eine kritische Haltung gegenüber der traditionellen Parallelgeschichte spätestens seit der Durchsetzung der komparativen und transnationalen Geschichtsschreibung stark vertreten und kann insofern nicht als eine innovative These bezeichnet werden. [1] In der Einleitung des Sammelbandes sucht man vergeblich nach einer synthetischen Gesamteinordnung der Aufsätze bzw. der Asymmetrie-These in die aktuelle Forschungsdiskussion, was vor allem im Hinblick auf die älteren und nicht umgearbeiteten Beiträge wünschenswert gewesen wäre.

Eine gesonderte Betrachtung verdient der einzige Originalbeitrag des Sammelbandes. Der Aufsatz Gleichgewicht oder Asymmetrie? beinhaltet interessante Überlegungen zur Kontroverse über die schleichende Entfremdung der deutsch-italienischen Beziehungen nach dem Mauerfall. In den letzten Jahren hat die Entfremdungsdiagnose den politischen und teilweise auch den wissenschaftlichen Diskurs geprägt. Mit Rückblick auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hebt Dipper hervor, dass Missverständnisse und Rivalitäten die diplomatische und politische Geschichte der fernen Nachbarn charakterisieren. Diese Entfremdung wurde aufgrund des europäischen Integrations- und des deutsch-italienischen Freundschaftsnarrativs unterschätzt. Dippers Stellungnahme in der Entfremdungsdebatte überzeugt, indem sie zwischen der Krise auf der Ebene der Politik und den lebendigen und besonders engen Beziehungen im Alltag differenziert. Auf der Ebene der kulturellen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Begegnungen ist nämlich keine Krise zu spüren. Problematisch bleibt vor allem die "Selbstlähmung Italiens" (321), ein Land, das wegen der wachsenden globalen Konkurrenz und der Unfähigkeit seiner politischen Eliten zunehmend marginalisiert wird.

Kunstgeschichtlich gilt Symmetrie seit jeher als das große Ideal, historisch hat sie jedoch eher teleologische oder einseitige Narrationen generiert. Dieser Sammelband trägt dazu bei, die Symmetrie als langanhaltendes Erklärungsmuster der deutschen und italienischen Geschichte zu dekonstruieren. Statt fast die gesamte Einleitung der Zusammenfassung der Beiträge zu widmen, wäre es zielführender gewesen, die übergreifenden Thesen und vor allem das Asymmetrie-Konzept eingehender zu diskutieren. Interessant wäre auch ein Kommentar über die verschiedenen methodischen Zugänge der Aufsätze gewesen. Die meisten Beiträge sind im Sinne einer kulturell erweiterten Sozialgeschichte geschrieben. Oft sind auch begriffsgeschichtliche Einflüsse zu spüren, wie zum Beispiel in dem Aufsatz über die Traditionen des deutschen Italienbildes, wo die klassische Wahrnehmungsgeschichte mit der Koselleck'schen These der asymmetrischen Gegenbegriffe produktiv erweitert wird. Methodologische und programmatische Ausführungen zur deutsch-italienischen Komparatistik sind in dem letzten, titelgebenden Aufsatz des Sammelbandes zu lesen. Hochinteressant ist außerdem der Beitrag zu mediterraner Industrialisierung, der im Rahmen der aktuellen Renaissance historischer Mittelmeerstudien produktiv eingeordnet werden könnte.

Das ambitionierte Vorhaben, Asymmetrie nicht im Deutungsschemata von Fort- und Rückschrittlichkeit einzuordnen, wird für die Beiträge zum 19. Jahrhundert erfolgreich umgesetzt, während die Aufsätze zur Zeitgeschichte eher ein rückschrittliches Italien-Bild wiedergeben. Die italienische Rückschrittlichkeit ist wirtschaftlicher, aber vor allem politischer Natur und sie wäre angeblich auch auf der Ebene der Wissenschaftskultur und der Geschichtsschreibung zu spüren - darüber hat sich Dipper in einem rezenten Aufsatz deutlich geäußert. [2] Würdigen kann man an dieser Arbeit vor allem die thematische und methodologische Vielfalt sowie die chronologische longue durée. Die Fähigkeit, historische Ereignisse und Prozesse aus mehr als zwei Jahrhunderten kritisch zu hinterfragen und mit Rückgriff auf mehrere Aspekte und Methoden kausal miteinander zu verknüpfen, wirkt sicherlich inspirierend - auch als Gegentendenz zu den aktuell zunehmend hochspezifischen und arbeitsökonomischen Forschungskonzepten.


Anmerkungen:

[1] Zuletzt: Christian Goeschel: A Parallel History? Rethinking the Relationship between Italy and Germany, ca. 1860-1945, in: JMH 88 (2016), 610-632.

[2] Christof Dipper: Die italienische Zeitgeschichtsforschung. Eine Momentaufnahme, in: VfZ 63 (2015), 351-378.

Amerigo Caruso