Rezension über:

Rolf Bidlingmaier: Das Kronprinzenpalais in Stuttgart. Fürstensitz-Handelshof-Streitobjekt. Ein Palast am Übergang vom Klassizismus zum Historismus (= Stuttgarter Schlösser; Bd. 1), Petersberg: Michael Imhof Verlag 2017, 231 S., 165 Farb-, 38 s/w-Abb., ISBN 978-3-7319-0636-0, EUR 39,95
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Rezension von:
Klaus Jan Philipp
Institut für Architekturgeschichte, Universität Stuttgart
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Klaus Jan Philipp: Rezension von: Rolf Bidlingmaier: Das Kronprinzenpalais in Stuttgart. Fürstensitz-Handelshof-Streitobjekt. Ein Palast am Übergang vom Klassizismus zum Historismus, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 5 [15.05.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/05/31178.html


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Rolf Bidlingmaier: Das Kronprinzenpalais in Stuttgart

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Die Stuttgarter Stadtbaugeschichte des 19. Jahrhunderts ist bislang trotz wichtiger, überregional wirksamer Architekten wie Christian Friedrich von Leins oder Josef von Egle von der Forschung eher stiefmütterlich behandelt worden. Die Gründe für dieses Desiderat sind vielfältig, und erst in jüngerer Zeit im Zusammenhang mit dem Bauprojekt Stuttgart 21, dem Teilabriss des Hauptbahnhofs sowie der Aufnahme der Häuser von Le Corbusier auf dem Weißenhof ins Weltkulturerbe erwacht ein stärkeres Interesse an der Architekturgeschichte der Baden-Württembergischen Hauptstadt. Das an zentraler Stelle direkt am Schlossplatz gelegene Kronprinzenpalais wurde ab 1844 vom Stuttgarter Architekten Ludwig Friedrich von Gaab (1800-1869) geplant und konnte im Dezember 1854 vom Kronprinzen Karl und Kronprinzessin Olga bezogen werden. Bis 1918 blieb es im Besitz des Königshauses, dann zog der Stuttgarter Handelshof, der Vorläufer der Stuttgarter Messe, in das Gebäude ein; ab 1923 wurde das Palais durch die württembergische Staatsregierung als Dependance der Staatsgalerie genutzt. Zwischenzeitlich war zunächst eine Gasbeleuchtung und später eine elektrische Beleuchtung eingebaut worden, sowie auch eine Zentralheizung. 1943 und 1944 wurde das bislang baulich nahezu unverändert gebliebene Gebäude durch Brandbomben schwer beschädigt und brannte bis auf die Umfassungsmauern vollständig aus. Beim Wiederaufbau der Stadt Stuttgart standen das Gebäude und seine Zukunft von Beginn an in der Diskussion. Die Verkehrsplaner führten es wegen eines geplanten Straßendurchbruchs auf der Abrissliste, andere städtische Gruppen setzten sich für eine Restaurierung ein. Die staatliche Denkmalpflege setzte sich zunächst für den Erhalt ein, kippte dann jedoch um, und stimmte gegen einen Erhalt, die historistische Architektur des Palais hatte um 1960 keine Befürworter. 1962/63 wurde das Palais abgerissen und machte Platz für einen überdeckelten Verkehrsknotenpunkt, den "Kleinen Schlossplatz". Wenige Fragmente des Baus sind heute im Lapidarium der Stadt Stuttgart aufbewahrt.

Rolf Bidlingmaier arbeitet in seinem Buch die Bau- und Nutzungsgeschichte des Palais minutiös anhand von bislang unbeachteten Quellen vor allem aus dem Staatsarchiv Ludwigsburg und dem Hauptstaatsarchiv Stuttgart auf und erweitert die Kenntnisse über den Bau und seine Lebensgeschichte enorm. Eingehend beleuchtet werden ebenfalls der Bauherr, König Wilhelm I, der Architekt Gaab sowie alle am Bau beteiligten Künstler und Kunsthandwerker vom Maurer bis zum Flaschner und Vergolder. Dank der sehr guten Quellenlage, hauptsächlich Rechnungsbücher, kann zudem sowohl die wandfeste als auch die mobile Ausstattung fast jeden Raums rekonstruiert werden, zumal auch viele bislang nicht publizierte Innen- und Außenaufnahmen neu gefunden werden konnten.

Von den vielen interessanten Details zum Bauablauf, die auch für die allgemeine Architekturgeschichte von Interesse sein können, seien hier nur ein paar hervorgehoben. Der König hatte eine Summe von 400.000 Gulden für den Bau vorgesehen, jedoch überstieg Gaabs erster Kostenvoranschlag diese Summe um 20.000 Gulden. Einsparungen nahm Gaab z.B. durch die Dachbedeckung mit Zinktafeln und Blech statt Kupferblech vor. Viel Geld konnte gespart werden, indem das Audienzzimmer und die Nebensäle des Tanzsaales tapeziert anstatt lackiert wurden. Auch bei Vergoldungen konnte kostengünstiger gebaut werden, indem etwa Gesimsprofile vereinfacht oder goldene Farbe anstelle von Blattgold aufgetragen wurde. Bei den notwendigen Öfen konnten Einsparungen durch Bestellung von einfacheren Ausführen realisiert werden. Interessant ist auch, dass für fast alle Parkettböden Musterzeichnungen der Schreinermeister in den Akten erhalten sind und somit ein großes Spektrum an verschieden kostbaren Böden (z.B. Intarsienparkette) ausbreiten. Wirtschafts- und sozialgeschichtlich von Interesse sind die Beauftragung von Möbeln aus einer Möbelfabrik, die sich zunächst gegen Ansprüche der Stuttgarter Schreinerzunft durchsetzen musste, jedoch mit Verweis auf sehr produktive Möbelfabriken in Mainz und Mannheim beim König Gehör fand.

Die negative Bewertung des Palais in der Diskussion um den Abriss war auch dadurch geprägt, dass der Bau stilistisch eng dem Herzog-Max-Palais in München von Leo von Klenze ähnelt, der von 1828 bis 1831 in der Ludwigstraße ausgeführt wurde und als eines der ersten Neorenaissancegebäude in Deutschland gilt. Tatsächlich ähneln sich beide Bauten in ihrer Fassadengestaltung sehr, es sind jedoch deutliche Differenzen auszumachen. Die Innendisposition des Kronprinzenpalais ist zudem völlig verschieden von derjenigen des Münchner Baus.

Es ist Rolf Bidlingmaier hoch anzurechnen, dass er der Beschreibung des neoklassizistischen Baus samt seiner Innenausstattung und -einrichtung hohe Präzision und Sorgfalt angedeihen lässt. Dies geschieht auch, um die künstlerische Leistung des Architekten Gaab herauszustellen. Zu schnell ist die Architekturgeschichtsschreibung zum 19. Jahrhundert bereit, solche Bauten als bloße Kopien abzuqualifizieren sowie der Kritik und Polemik der Moderne gegen den Historismus bedenkenlos zu folgen. Am Beispiel des Kronprinzenpalais wird vielmehr deutlich, wie gewinnbringend es ist, Bauten des Historismus mit derselben Ernsthaftigkeit zu behandeln, wie Bauten früherer Epochen. Insbesondere darf man bei der Betrachtung solcher Bauten nicht an der Fassade stehen bleiben, sondern muss das Raumprogramm samt Raumbildung in den Foyers oder den großen Sälen, die Ausstattung vom Fußboden bis zur Decke, das Mobiliar und die technische Ausstattung nicht außer Acht lassen und bedenken, dass der Architekt für alle diese Dinge verantwortlich zeichnet. Hierzu gehört auch die städtebauliche Bedeutung des Gebäudes schräg gegenüber dem Neuen Schloss und in der Achse gegenüber dem Prinzessinnen-Palais (Wilhelmspalais) von Giovanni Salucci. Die zahlreichen Fotografien des Baus aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert belegen eindrücklich die Bedeutung des Gebäudes als gewichtiger Stadtbaustein; selbst noch als Ruine zwischen 1944 und 1962 bewahrte sich das Gebäude seine Stadtbild prägende Bedeutung. Umso stärker empfindet man nach der Lektüre von Bidlingmaiers Buch den Abriss des Kronprinzenpalais als fatalen Fehler, der sich bereits 15 Jahre später als unnötig erwies und eine lange Folge von Architekturwettbewerben auslöste, bis im Jahr 2004 das Kunstmuseum der Stadt Stuttgart an seiner Stelle erbaut wurde. [1]

Das sehr gut ausgestattete Buch erweist sich über seinen eigentlichen Gegenstand hinaus als eine grundlegende Arbeit zur Stuttgarter und zur allgemeinen Architekturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Geschichte des Abrisses in der Nachkriegszeit ist zudem ein Lehrbeispiel für den Umgang mit Bausubstanz des 19. Jahrhunderts bevor in den 1970er-Jahren damit begonnen wurde, der Architektur des Historismus mit ebenso viel Respekt zu begegnen wie der Architektur früherer Epochen.


Anmerkung:

[1] Zu Wettbewerbsgeschichte siehe: Klaus Jan Philipp: Deckel oder Platz. Der "Kleine Schlossplatz" in Stuttgart, in: Platz-Architekturen. Kontinuität und Wandel öffentlicher Stadträume vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart (= Italienische Forschungen des Kunsthistorischen Instituts in Florenz - Max-Planck-Institut; I Mandorli; Bd. 24), hgg. v. Brigitte Sölch / Elmar Kossel, München 2018, 137-152.

Klaus Jan Philipp