Rezension über:

Annette Vowinckel: Agenten der Bilder. Fotografisches Handeln im 20. Jahrhundert (= Visual History: Bilder und Bildpraxen in der Geschichte; Bd. 2), Göttingen: Wallstein 2016, 480 S., Zahlr Farb-, s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-1926-4, EUR 34,90
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Rezension von:
Claudia Moisel
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Claudia Moisel: Rezension von: Annette Vowinckel: Agenten der Bilder. Fotografisches Handeln im 20. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein 2016, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 9 [15.09.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/09/29462.html


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Annette Vowinckel: Agenten der Bilder

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Dass wir von unseren Kindern das Sehen neu gelernt haben: Möglich ist es, denn die habituelle Geringschätzung visueller Kommunikation, die der akademischen DNS der Zeithistorikerin eingeschrieben schien, hat die Generation snapchat bestenfalls mit einem verächtlichen Schulterzucken quittiert. Bereits am Beginn der 2000er-Jahre hat Thomas Lindenberger auf diese grundlegende Problematik mit Nachdruck verwiesen. [1] Es ist das Verdienst Annette Vowinckels, die vermeintlich tiefe Kluft von Text und Bild einmal mehr sachkundig und überzeugend überwunden zu haben. Dass sie sich mit ihrer Studie zum "Bildhandeln" der Fotografen im 20. Jahrhundert auf das dünne Eis der Interdisziplinarität begibt, ist ihr bewusst, und so verweist sie bereits in den einleitenden Überlegungen, welche die per definitionem bildkundigeren Kunsthistoriker in gleicher Weise adressieren wie die Kollegen im eigenen Fach, freundlich (aber bestimmt) auf spezifische Qualitäten der historischen Theorie und Methode.

Nicht als bloße Übersetzungsleistung kunstwissenschaftlicher Diskurse in das historische Idiom will sie ihren Beitrag verstanden wissen, vielmehr einen eigenständigen Zugriff zur Diskussion stellen, indem sie Fotografien im Kontext ihrer Texte untersucht, dabei Fragen nach politischen und strukturellen Rahmenbedingungen, nach biografischen Optionen, Netzwerken, Handlungsspielräumen und kontingenten Faktoren in das Zentrum ihrer Analysen stellt. [2] Nicht den Bildern allein gilt ihre Aufmerksamkeit, sondern vor allem ihren "Agenten", Fotografen, Bildagenturen, Regierungen, die diese Aufnahmen erstellt und reproduziert, ausgewählt und gegen Konkurrenz verteidigt, andere dagegen verworfen, vergessen, aussortiert haben. [3] Als "Bildhandeln" definiert sie in der Folge Formen der Kommunikation, die gezielt das Bild als Medium einsetzen: "Ich [...] gehe also nicht von den Bildern aus", erläutert sie ihren Zugriff (15). Ein interdisziplinärer Brückenschlag ist damit eröffnet, denn wie gehen wir damit um, dass wir als (Zeit-) Historiker nicht unbedingt das in den Blick nehmen, was Kunsthistoriker an den fotojournalistischen Arbeiten, die hier zur Diskussion stehen, möglicherweise am meisten interessiert: die Bilder selbst betrachten, kompositorische Aspekte, Farbe, Formbewusstsein, ihre ästhetische Qualität? Oder, grundsätzlicher: Gehören solche Auftragsarbeiten überhaupt ins Museum, und ist auch das Kunst? [4]

Vowinckels Fokus dagegen liegt auf der spezifischen Qualität visueller Impulse für politische Kommunikation im 20. Jahrhundert, auf der Visualisierung von Macht (und Ohnmacht), praxeologischen Perspektiven auf die Zirkulation dokumentarischer Bilder im Zeitalter der Massenmedien, weniger den habituell kulturkritischen Vorbehalten gegen die emotionale Wucht der Fotografie, ihr vermeintlich irrationales Beziehungsangebot, das propagandistische Verführungspotential, welches im Kontext der NS-Geschichte bereits vor längerer Zeit extensive Erforschung erfahren hat. [5] Und nicht zu Unrecht verweist sie darauf, dass das Bildhandeln demokratisch verfasster Staaten, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, bislang vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit erfahren hatte. [6] Auf der Entstehung der "globalen" visuellen Öffentlichkeit (wobei der Singular eine Begründung erfährt und die Autorin Sprachkenntnisse als Erklärung für die selbst gewählte Begrenzung auf die "westliche" Welt einschränkend anführt), mit einem institutionengeschichtlichen Schwerpunkt auf den Netzwerken der Bildagenturen, liegt eingangs der Fokus, wobei die damit verbundenen technischen Herausforderungen und Innovationen breiten Raum einnehmen. [7] Der fast in Vergessenheit geratene Umstand, dass das Versenden der Bilder die längste Zeit ein überaus kompliziertes, vor allem auch kostspieliges Unterfangen und dieser Umstand im Bewusstsein der Fotografen fest verankert war, hat deshalb vielfach Arbeitsweisen und Handlungsspielräume definiert. Fotografien seien eben "nicht nur ästhetische Objekte, sondern auch eine Handelsware" und den Gesetzen eines globalisierten Marktes unterworfen, so ihr nüchternes Fazit (53).

Kollektivbiografische Muster, die "Agenten" der Bilder stehen im Mittelpunkt der anschließenden Überlegungen, wobei Vowinckel neben bekannten (Star-) Fotografen auch die in der Regel weniger prominenten, nichtsdestoweniger überaus einflussreichen Bildredakteure in den Blick nimmt. Untrennbar verknüpft war ihr Aufstieg mit dem der Fotoreportage der 1920er-Jahre und, paradigmatisch, "Life" als dem wohl bekanntesten Magazin. Dass die Wege in den Fotojournalismus vielfältig waren, ist ein Gemeinplatz; selten jedoch war er archivalisch so dicht belegt: Die vielfältigen Verflechtungen zwischen Fotografie, Emigration und Mobilität haben sich in den Akten niedergeschlagen. Dass der damit verbundene Professionalisierungsschub, die anfängliche Offenheit möglicher Wege in den Fotojournalismus, für die Frauen unter ihnen mit spezifischen Chancen und Risiken verbunden war, versteht sich fast von selbst (neu und aufschlussreich dagegen die Beobachtung, dass sie in den Bildredaktionen der großen Magazine, welche die Wahl der Bilder und Motive am Ende maßgeblich bestimmten, kaum vertreten waren).

Der Informationspolitik demokratisch legitimierter Regierungen widmet Vowinckel den längsten Teil ihrer Fallstudien zu Fotografen im Staatsdienst: faszinierend und stilbildend bis heute die Arbeit der amerikanischen Farm Security Administration in der Großen Depression, befremdlich dagegen das "Bildprogramm" des MfS, von besonderem Interesse deshalb alles, was Vowinckel unter Ambivalenzen und "Grenzfälle" jenseits offener Zensur subsumiert (263). Zutreffend ist, dass Bildredakteure und Fotojournalisten im 20. Jahrhundert ein vielfach symbiotisches Verhältnis eingegangen waren, Staaten und Regierungen die neuen Medien in ihre Dienste, auf die Bildinhalte und auch die Produktionsbedingungen Einfluss nahmen. Am Beispiel Edward Steichens, dem Leiter zunächst der Fotografie-Abteilung der U.S. Navy und später des New Yorker Museum of Modern Art, erweist sich dabei, dass die im Buch aus analytischen Gründen oftmals getrennt verhandelten Untersuchungsfelder in einem Fotografenleben in der Regel vielfältige Überschneidungen aufwiesen, die Mehrzahl der staatlich alimentierten Armeefotografen vor und nach dem Krieg auch für Journale und Agenturen tätig waren und die Frage nicht immer einfach zu beantworten ist, ob es am Ende persönlicher Stil, politischer Auftrag, materielle Zwänge oder andere Gründe waren, die bildsprachlich den Ausschlag gaben.

Damit eine Fotografie öffentlich wahrgenommen und wirksam werden kann, so Vowinckel in ihren zusammenfassenden Überlegungen, bedürfe es eines komplexen Zusammenspiels der Bilder und ihrer Agenten, also den Akteuren, die sie in die Welt bringen: "Diese Form des Bildhandelns hat eine dezidiert politische Dimension." (427) Dass es sich bei den Vertretern dieser Berufsgruppe mehrheitlich um "hochmobile, risiko- und experimentierfreudige, kommunikationsbegabte und in Netzwerken organisierte Menschen" gehandelt habe, sei nicht ohne Auswirkungen auf die von ihnen produzierten Bilderwelten geblieben (428). Will heißen: Politisch irgendwie links, denn die Selbstzuschreibungen von Capa & Co als "Concerned Photographer" werfen bis heute ihre langen Schatten und das Sichtbarmachen massiver Menschenrechtsverletzungen avancierte spätestens mit dem amerikanischen Vietnamkrieg zu ihrem Markenzeichen (175ff.).

Nicht eigens vertiefter Betrachtung unterzogen hat Vowinckel den Umstand, dass der Qualität fotografischer Bilder in diesem Prozess eine zentrale Bedeutung zukam, vielmehr dieses wohl unausgesprochen vorausgesetzt, denn als "ikonisch" haben sich am Ende in der Regel qualitativ hochwertige, ästhetisch anspruchsvolle, musealen Anforderungen in besonderem Maße genügende Aufnahmen durchgesetzt: Für den trennschärferen Begriff der "Kanonisierung" plädiert Vowinckel an dieser Stelle unter Verweis auf die dominierende Stellung der großen Bildagenturen in diesem Prozess (53). Dieser inneren Logik folgend schließt die Untersuchung mit dem Einzug der digitalen Bilder in das Nachrichtenwesen, welche zumindest das klassische Zeitalter des Fotojournalismus an sein Ende führten und nicht nur neue Vertriebswege, sondern vor allem auch eine explosionsartige Zunahme von "Agenten" erzeugten, darunter "zufällige Passanten, Bloggerinnen" (433), vulgo: Laien (Kennern hingegen als "vernacular photography" geläufig).

Den großen Reichtum archivalischer Quellen, die vielfach weit verstreuten Nachlässe in Museen und Zeitungsarchiven, auch die Vielfalt der bereits heute vorliegenden Interviews mit den als Zeitzeugen oftmals besonders dicht am Ereignis agierenden Fotografen aufgezeigt zu haben, gehört, ganz en passant, zu den nicht geringsten Verdiensten der Studie. "Le goût de l'archive", nannte die französische Frühneuzeithistorikerin Arlette Farge ihr vielleicht bedeutendstes, zumindest aber ihr persönlichstes Buch. [8] Auch geschriebenen Quellen wohnt eine ästhetische Dimension inne, bleibt die haptische Erfahrung im Umgang mit den materiellen Überresten vorvergangener Zeit integraler Bestandteil historischer Wissenschaftspraxis. Das Archiv als ein emotional besetzter, keineswegs vorwissenschaftlicher Erfahrungsraum: In diesem Sinne lehrt uns die Kunstgeschichte, die ästhetische Qualität unserer Materialien ernst zu nehmen, ja überhaupt einmal zur Kenntnis zu nehmen und in ein Gespräch darüber einzutreten, was wir gesehen haben. Nicht um die Bilder herum schreiben, nicht an ihnen vorbei, sondern die Bilder selbst, das Sehen und Betrachten als einen integralen Bestandteil fachwissenschaftlicher Kommunikation zu begreifen und in unser Schreiben zu integrieren: Annette Vowinckel hat gezeigt, wie es gelingen kann.


Anmerkungen:

[1] Vgl. in diesem Sinne die programmatischen Überlegungen von Thomas Lindenberger: Vergangenes Hören und Sehen. Zeitgeschichte und ihre Herausforderung durch die audiovisuellen Medien, in: Zeithistorische Forschungen 1 (2004), 72-85.

[2] Grundlegend Jürgen Danyel / Gerhard Paul / Annette Vowinckel: Arbeit am Bild. Visual History als Praxis (= Visual History. Bilder und Bildpraxen in der Geschichte; Bd. 3), Göttingen 2017.

[3] "Die Bilder, die bei Staatsbesuchen entstanden und nicht veröffentlicht wurden, erweisen sich als äußert aussagekräftiges Material." Simone Derix: Bebilderte Politik. Staatsbesuche in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1990, Göttingen 2009, hier 27.

[4] Zuletzt Anja Niedringhaus: At War, Ostfildern 2014; sowie Jean-Christoph Ammann: Kunst? Ja, Kunst! Die Sehnsucht der Bilder, Frankfurt/M. 2014.

[5] Rudolf Herz: Hoffmann & Hitler: Fotografie als Medium des Führer-Mythos, München 1994; Gerhard Paul: Aufstand der Bilder. Die NS-Propaganda vor 1933, Bonn 1990.

[6] Vgl. Simone Derix: Performative Bildpolitiken. Das Problem der Sichtbarkeit und die Präsenz von Bildern in politischen Inszenierungen des 20. Jahrhunderts, in: Reinhart Koselleck und die Politische Ikonologie, hgg. von Hubert Locher / Adriana Markantonatos, Berlin / München 2013, 178-189.

[7] Das Gleiche gilt, mit gewissen Einschränkungen, auch für die Geschichte der Internationalen Organisationen: Erst in den letzten Jahren ist dieses Forschungsfeld in Bewegung geraten, ein bisschen auch ist es aus der Not geboren, denn der in den vergangenen Jahren vermehrt vorgetragene Anspruch, Geschichte global oder zumindest transnational zu schreiben, scheitert nur zu oft an den Sprachkenntnissen, die ausschlaggebend sind dafür, ob dieser Anspruch überzeugend eingelöst werden kann. Was die Internationalen Organisationen betrifft, kommt man dagegen mit Englisch und Französisch in der Regel schon sehr weit (und das kommt zumindest der Mehrzahl der "klassisch" ausgebildeten Historiker in Westeuropa und Nordamerika entgegen).

[8] Arlette Farge: Le Goût de l'archive, Paris 1989.

Claudia Moisel