sehepunkte 18 (2018), Nr. 9

Wolfgang Kemp: Wir haben ja alle Deutschland nicht gekannt

Manche Leser suchen während der Lektüre möglicherweise die Betrachterfunktion im hier präsentierten Deutschlandbild - ist der Autor Wolfgang Kemp doch Experte der Rezeptionsästhetik. [1] Tatsache ist: Wer eine konventionelle Darstellung eines wie auch immer sich zusammensetzenden Deutschlandbildes erwartet, wird schon nach dem Vorwort sehr nachdenklich sein. Der Leser sollte sich um einen eigenen Standpunkt in Sachen Deutschlandbild bemühen - gepaart mit der Fähigkeit, diesen Standpunkt jederzeit verlassen zu können. Verlassen muss man mit Wolfgang Kemp auch die Sicherheit (?) der eigenen Disziplin - er entzieht sich weitgehend solchen Zuordnungen (naheliegend wäre die Kunstgeschichte als sein eigentliches Metier oder die Geschichte).

Mit diesem im jungen Verlag Heidelberg University Publishing (heiUP) erschienenen Buch sind auch andere, sicher schon länger nicht mehr feststehende, Grenzen überschritten: Die Seite https://heiup.uni-heidelberg.de öffnet den Zugang zum HTML-Format, zum PDF-Dokument (beide kostenlos im Open Access) und gleichermaßen zur Print(on-Demand)-Version (59,95 EUR). Schnell merkt man, dass vielfach beschworene Qualitätsverluste, die mit dem elektronischen Publizieren einhergehen würden, nicht zwangsläufig sind. Hier hält man ein sehr gut lektoriertes, auch qualitativ überzeugendes Werk in Händen - oder sieht dieses bequem navigierbar am Bildschirm.

"[...] dass Deutschland nach dem Großen Krieg überhaupt zum ersten Mal einer intensiven und genauen Betrachtung unterzogen und nicht nur von der Geographie beschrieben und von der Publizistik ermahnt oder bejammert wurde." (9). Man neigt zum Widerspruch bei diesem Befund Wolfgang Kemps. Sicher: Bei "Bejammern" könnte z.B. Heinrich Heine gemeint sein. Aber Theodor Fontane oder all die Zeugen der Rheinromantik - von den Autoren des Realismus und Naturalismus ganz zu schweigen?

Nein, Wolfgang Kemp meint ein anderes Deutschlandbild - genauer: Werke, die "anders mit dem Thema Deutschland um[gehen]" (9). Seine Autoren sind "pragmatische Patrioten", bei denen "sorgfältiges Entfalten vor Projektion [rangierte], Empirie vor Imagination kam" (10).

Der Leser ist damit gewarnt; das, was ihn auf den knapp 400 Textseiten erwartet, wird keine leichte Kost sein. Die 905 z.T. umfangreichen Anmerkungen füllen weitere 40 Seiten und belegen vieles, was man als Leser wissen möchte.

Zurück zu Kemps Ausgangslage: Sind seine "pragmatischen Patrioten" wirklich relevant für die Weimarer Zeit? Ist diese nicht einerseits dominiert von Autoren, die sich an einer Verarbeitung von Krieg und Kriegsniederlage versuchten - andererseits von einer Hinwendung zu Klassikern, neben Goethe und Schiller vor allem Hölderlin und Kleist (man denke etwa an die Gründung der Kleist-Gesellschaft 1920)? Wahrscheinlich ist es gerade das Verdienst Wolfgang Kemps, diese Dominanz aufzubrechen. Die Auswahl seiner Akteure reicht von Walter Benjamin, Ernst Bloch, Alfred Döblin, Gerhart Hauptmann, Ricarda Huch, Alfred Kerr, Thomas Mann oder Kurt Tucholsky bis hin zu Autoren, deren Namen mancher Leser hier zum ersten Mal liest. [2] Dabei ist es beileibe nicht nur das Genre des Schriftstellers und Journalisten, das Kemp sich vorgenommen hat. Bilder, grafische und fotografische Werke, mit denen der Autor nach eigenen Worten "etwas ausführlicher umzugehen gewohnt [ist]" (10), bilden besondere Bausteine des hier präsentierten Deutschlandbilds, das schon durch den Umfang der ihm zugrundeliegenden Bibliografie mit mehr als 300 Titeln beeindruckt.

Fundus und Auswahl sind das eine - die Frage nach dem Erkenntnisinteresse (und wie der Autor zum Erreichen desselben vorgeht) das andere. Wieso interessiert ihn die Einschätzung der Befangensten aller Beobachter [3] - auf die Gefahr eines "So sind wir eben" hin, wie die ZEIT im Juli 2015 titelte. [4] Das "Deutschlandbild" könnte in der Tat konturlos bleiben, hätte der Autor nicht ein spezielles Auswahlkriterium: Es zählen Autoren, Grafiker oder Fotografen, die Deutschland "neu entdecken wollten", ohne nationale Stereotypen: Deutschland ohne Kölner Dom und Völkerschlachtdenkmal wie das Eugen Diesel in "Das Land der Deutschen" praktizierte - und damit überzeugt.

Gegliedert ist die Arbeit in drei Teile: "Deutsche Vielfalt, ihre Freunde und ihre Feinde", "Das Land der Deutschen" und "Deutschland, das Land der Städte". Ob der von Kemp als fehlend angezeigte Aspekt - die Deutschen "als Volk, als Typ" - wirklich fehlt ("Das wäre ein zweites Buch geworden", 11), ist schon nach der Lektüre von Teil 1 vergessen. Gleich hier zeigt der Autor, wie weit er den Bogen spannen will.

Angefangen bei dem heute weniger bekannten Josef Hofmiller ("Deutsche Reiseziele nach dem Krieg") präsentiert Kemp eine Tourismusgeschichte in Kurzform: Die Inlandsreise als "bevorzugte Reiseform" der Weimarer Jahre. Man mag zweifeln, ob angesichts der Kriegsfolgen (vor allem die unzureichende Versorgung der Kriegsopfer) und Inflation (auch eine Kriegsfolge!) überhaupt eine nennenswerte Reisetätigkeit stattfand. Belegen lässt sich diese jedenfalls nicht: Die Statistiken des Deutschen Tourismusverband e. V. bzw. seiner Vorläufer beginnen nicht vor 1936. Auch das an der TU Berlin angesiedelte Historische Archiv zum Tourismus (HAT) vermag den Tourismus der Weimarer Zeit nicht umfassend zu quantifizieren. Insofern kann man jede beschriebene Reise für experimentell halten - und das ist sie letztlich auch wie von Max Barthel ("Deutschland - Lichtbilder und Schattenrisse einer Reise") oder Alexander Graf Stenbock-Fermor ("Deutschland von unten. Reisen durch die proletarische Provinz") beschrieben (beide 345ff.).

Größeren Raum als Barthel und Stenbock-Fermor nimmt z.B. Eugen Diesel ein, von dem Kemp gleich mehrere Deutschlandbücher vorstellt - ausführlich "Die deutsche Wandlung: das Bild eines Volkes" aus dem Jahr 1929 (78-84) und "Das Land der Deutschen", erschienen 1931 (85-99). Diesel sei 1929, so Kemp, der "denkbar abgeklärteste und unpolitischste aller Deutschlandkundler" (82) - er denke Deutschland "als Prozess" (84). Aber: Muss nicht ein (Deutschland-)Bild aus ausreichend Momentaufnahmen bestehen? Die liefert Diesel bzw. der Fotograf Robert Petschow in "Das Land der Deutschen" und macht es damit zu einem sehenswerten Deutschlandbild.

Sehenswert, nicht nur lesenswert, sind ferner z.B. die Passagen zum Notgeld der deutschen Städte und ihren Illustratoren, oder die gleichermaßen sehr kenntnisreiche Darstellung zum Werk von Albert Renger-Patzsch.

Der Eindruck, dass Wolfgang Kemp an manchen Stellen Sachverhalte einflicht, die vom eigentlichen Thema - Weimar - entfernt zu sein scheinen ("Als 1565 Malta von den Türken besetzt und die Stadt Valetta belagert wurde [...]", 297), entsteht gelegentlich und führte beim Rezensenten vereinzelt zu einer gewissen Ratlosigkeit.

Zu korrigieren sind nur Kleinigkeiten - bis auf die Feststellung, dass Deutschland 1919 "um ein Fünftel seines Territoriums beschnitten" worden sei (22). Diese (falsche) Angabe findet sich auch in der zeitgenössischen Propaganda gegen den Versailler Vertrag. Sicher: Die Gebietsverluste waren - zusätzlich zum Verlust der Kolonien - erheblich. Das Deutsche Reich der Weimarer Zeit war mit 474.303,9 km2 [5] jedoch nur 66.553,6 km2 kleiner als zuvor (540.857,5 km2) [6]; dies entsprach (nur) 12,3% seiner vormaligen Fläche. [7]

In der Summe bietet das vorliegende Werk auf noch überschaubarem Raum eine schwer zu übertreffende, stets erkenntnisfördernde Fülle - nicht nur Steine, sondern ein ganzes Deutschlandbild-Mosaik.


Anmerkungen:

[1] Vgl. z.B. Wolfgang Kemp: Der explizite Betrachter. Zur Rezeption zeitgenössischer Kunst, Konstanz 2015.

[2] Vgl. hierzu das 281 Namen zählende Personenregister auf den Seiten 475-478.

[3] Mit einer englischen Sicht auf Deutschland hat sich Wolfgang Kemp beschäftigt in: Foreign Affairs. Die Abenteuer einiger Engländer in Deutschland 1900-1947, München 2010.

[4] DIE ZEIT Nr. 28/2015, 9. Juli 2015.

[5] Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, hg. vom Statistischen Reichsamt, 41 (1920), Berlin 1921, 1.

[6] Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, hg. vom Kaiserlichen Statistischen Amte, 39 (1918), Berlin 1918, 1.

[7] Gebietsabtrennungen z.B. nach der Volksabstimmung in Oberschlesien betreffen in den Folgejahren nur wenige weitere 1.000 km2. So weist das Statistische Jahrbuch für das Deutsche Reich 1921/22 eine Fläche von 472.082,1 km2 aus.

Rezension über:

Wolfgang Kemp: Wir haben ja alle Deutschland nicht gekannt. Das Deutschlandbild der Deutschen in der Zeit der Weimarer Republik, Heidelberg: Heidelberg University Publishing 2016, 480 S., 67 Farbabb., ISBN 978-3-946054-06-1, EUR 59,95

Rezension von:
Michael Braun
Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte, Heidelberg
Empfohlene Zitierweise:
Michael Braun: Rezension von: Wolfgang Kemp: Wir haben ja alle Deutschland nicht gekannt. Das Deutschlandbild der Deutschen in der Zeit der Weimarer Republik, Heidelberg: Heidelberg University Publishing 2016, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 9 [15.09.2018], URL: https://www.sehepunkte.de/2018/09/29229.html


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