sehepunkte 18 (2018), Nr. 9

Dan Arav: Dying to See

Was hat Kriegstrauma mit Nostalgie zu tun? Wie wird die Erinnerung an den Krieg gestaltet? Welche Rolle spielt dabei das Medium Fernsehen? Dan Arav, Kulturwissenschaftler und an der Tel Aviver School of Communication, setzt sich mit der krisenhaften Situation auseinander, die seit dem Sechstagekrieg von 1967 entstanden ist. Genauer gesagt, beschäftigt er sich mit der Darstellung des Kriegs im israelischen Fernsehen, wobei es ihm vor allem um Folgendes geht: um den Zusammenhang von "Trauma und Nostalgie, Zeugnislegung und Wiederholung, Krieg und Unterhaltung" und damit um "die sonderbare Wechselwirkung zwischen dem Medium und der Kriegserinnerung". Für Arav gibt es keinen Zweifel daran, dass es sich beim israelischen Fernsehen um einen "Agenten der Erinnerung an die Kriege" handelt (16), um einen "ideologischen Agenten" der israelischen Ordnung (18). Aravs zentrale Frage lautet: Wann wird ein Fernsehtext zu einem Erinnerungsort beziehungsweise zu einem kanonischen Text der israelischen Erinnerung? Die Antwort des Autors ist provokant: Das israelische Fernsehen mit seinen Wiederholungs- und Unterhaltungsmechanismen trage maßgeblich dazu bei, dass sich die Erinnerung an den Krieg zu einem nostalgischen Trauma verdichte. Das Fernsehen neige dazu, Kriege losgelöst vom konkreten politisch-historischen Kontext darzustellen, daher werde die Erinnerung daran entpolitisiert und gewissermaßen aufgeweicht.

Das hier zu besprechende Buch bietet neben theoretisch-kritischen Ausführungen zum Medium Fernsehen die bemerkenswerte Analyse eines umfangreichen Quellenkorpus, der aus Fernsehtexten zu den fünf israelisch-arabischen Waffengängen zwischen 1967 und 1991 besteht. Das Resultat ist eine faszinierende Geschichte des israelischen Fernsehens von seiner Gründung im Jahr 1968 bis hin zum Zweiten Golfkrieg Anfang 1991. Das erste Kapitel - "Fernsehen und Erinnerung: Zwischen Wiederholung und Markenbezeichnung" - befasst sich mit den Anfängen des israelischen Fernsehens und mit dem nationalen Projekt, den kurz davor beendeten Sechstagekrieg in bewegte und bewegende Bilder zu setzen. Dafür wurden tatsächlich einige Kämpfe "neu gedreht": Den militärischen Sieg wollte man festhalten, zur nationalen Erinnerung, ja zur israelischen Marke machen. Kapitel 2 - "Therapie" - befasst sich mit dem Trauma des Yom-Kippur-Kriegs in der israelischen politischen Kultur. Trauer, Ohnmacht, Melancholie, Aufarbeitung und Wiederholung sind hier die zentralen Begriffe in Aravs Analyse. Kapitel 3 - "Wiederholung" - thematisiert den Konnex von Trauma und Nostalgie. Hier vermischen sich Trauer über den Krieg und Ohnmachtserfahrungen, und gerade diese Mischung ist von prägender Bedeutung für Erinnerung und politische Kultur in Israel. In diesem Kapitel erläutert Arav auch den für ihn wichtigen Begriff "rituelle Unterhaltung" (93).

Das vierte Kapitel - "Sechs Tage für die Ewigkeit" - befasst sich mit den langfristigen Konsequenzen des Kriegs von 1967 für das israelische Fernsehen. Einige Sendungen basieren auf den Bildern dieses Kriegs und verstärkten das israelische Selbstverständnis: ein kleiner Staat in permanenter Gefahr, der bedingungslosen Solidarität seiner Bürger und der Bereitschaft seiner Soldaten bedürftig, für diesen Staat ihr Leben zu lassen. Kapitel 5 - "Israels Broadcasting" - thematisiert den "israelischen Kulturmilitarismus" (127), der über die Jahre hinweg durch die audiovisuelle Darstellung des Kriegs verstärkt worden sei. Der Krieg sei so etwas wie der Anker der politischen Kultur; dies zeige sich an hohen Einschaltquoten und den geradezu feierlichen Ritualen, mit denen sich die Israelis in Kriegszeiten um ihre Fernsehgeräte versammelten: "Der Krieg wird immer wieder zum 'Erlebnis', zu einem 'Fernseh-Moment', dem auf Dauer ein nostalgisches Potenzial innewohnt. Immer wieder ruft man die Ikonen der verschiedenen Kriege auf, um erneut zu einem Erinnerungsort zu gelangen, ja zum schönen [weil vertrauten, altbekannten] Bild des realen Grauens." (129)

Im sechsten Kapitel - "Schießen und Singen" - nimmt Arav den wenig glamourösen, fast vergessenen Abnutzungskrieg an der Südgrenze Israels zwischen 1967 und 1973 unter der Lupe, und zwar unter dem Aspekt der damals sehr populären, kulturwissenschaftlich bedeutsamen "Musikbands" der israelischen Armee. Diese provisorisch entstandenen Bands hatten ihre goldene Zeit gerade in jenen Jahren der Verzweiflung: Die Songs über die Kriege und die Bilder des Schreckens - häufig im Radio und Fernsehen präsent - rühren die Israelis bis heute. Hier zeigt sich ein besonders enges Verhältnis von Trauma und Nostalgie: Als Soundtrack einer ganzen Generation prägten die Bands aus den Streitkräften einen "weichen Militarismus", da sie den Krieg und damit das Trauma in "unterhaltsamer, zuweilen ironischer Form" (143) zu präsentieren wussten. Diese wiederholt ausgestrahlten "schönen" Stimmen und Bilder hätten den israelischen Militarismus beziehungsweise Patriotismus legitimiert. Vom Krieg sei die an Trauma gekoppelte Nostalgie geblieben.

In Kapitel 7 hinterfragt Arav den Begriff "Archiv", und zwar bezogen auf den konkreten Ort der historischen audiovisuellen Bilder im Jerusalemer Archiv des Israelischen Fernsehens (Channel 1). Seit seiner Gründung 1968 bis Anfang der 1990er Jahre fungierte Channel 1 als einziger Sender im Lande und verfügte daher über das meiste audiovisuelle Material zu den Kriegen Israels. Arav reflektiert in diesem Zusammenhang über das Verhältnis von Krieg, Erinnerung und Archiv und stellt dabei die Frage nach der Deutungsmacht. Sein Fazit: Das israelische Fernsehen habe das vorherrschende staatstragende, zionistische Narrativ von der Notwendigkeit des Kriegs durchgehend mitgetragen, selbst wenn hie und da auch kritische Stimmen zu hören gewesen seien.

Das achte Kapitel - "Die Augen Israels" - thematisiert die Darstellung des Yom-Kippur-Kriegs im Fernsehen. Paradoxerweise erweckte gerade dieses traumatische Ereignis eine in Israel bis heute vorhandene "starke Sehnsucht nach den Schlüsselbildern dieses Kriegs". Aravs provokante Erklärung für das Phänomen: Dem Schock und dem Grauen konnte man nur mit Wiederholung effektiv begegnen; das Trauma wurde gleichsam mit Nostalgie bekämpft. Der Krieg sollte als "natürliche Angelegenheit", ja als "Schicksal" dargestellt werden, und in diesem Sinne fungierten die wiederholt ausgestrahlten Kriegsbilder als Mittel zur "Normalisierung des Kriegs" (206). Kapitel 9 handelt vom Libanonkrieg im Juni 1982 - oder "Frieden für Galiläa", wie dieser Waffengang im Hebräischen heißt. Hier geht es um die israelische Erinnerung vor allem mithilfe des preisgekrönten, viel diskutierten dokumentarischen Trickfilms "Waltz with Bashir". Filmemacher Ari Folman, selbst israelischer Soldat in besagtem Krieg, arbeitete 2008 die gut verdrängten Gräuelbilder von Massakern in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Shatila auf. Den israelischen Diskurs um diesen Antikriegsfilm kritisiert Arav als "verkrampft" und "allzu selbstbezogen". Den internationalen Erfolg hätten die Israelis als Selbstbestätigung aufgefasst, während sie die kritischen Elemente des Films lieber übersehen wollten. Auch hier zieht der Autor das Normalisierungsprinzip als Erklärungsmuster heran: Selbst einen Antikriegsfilm wie "Waltz with Bashir" wisse man in Israel in die von Krieg geprägte politische Ordnung zu integrieren - als sei der Krieg "das Schicksal der Israelis" (237).

Im zehnten Kapitel wird Israels offizielle Gedenkkultur im Fernsehen thematisiert, vor allem der "Gedenktag für die israelischen Gefallenen aller Kriege und Terrorattentate". Hier steht weniger der Krieg im Vordergrund als der Tod im Dienste der Nation. Die Trauer um die Gefallenen stelle "kostbares Fernsehmaterial" (239) dar, das hohe Einschaltquoten garantiere: Das israelische Fernsehen spielt für Arav als audiovisueller Ort rituellen Trauerns eine zentrale Rolle. Das Rituelle integriere die Trauer ins System, und dies verleihe der Trauer einen "nostalgischen Rahmen": "Altbekannte Bilder der Reinheit, der Unschuld und der verlorenen Jugend" (250) werden wiederholt erzeugt und gesendet.

Arav schließt sein Buch mit dem Zweiten Golfkrieg im Fernsehen: "Heute Abend im Golf" hieß auch eine erfolgreiche Satire-Sendung des im Anfang der 1990er Jahre gegründeten Channel 2. "Schrecken und Unterhaltung" (251) - so bezeichnet der Autor die Phase um den "merkwürdigsten Krieg", den das Land erlebt habe. Israel war nämlich offiziell nicht involviert, dafür aber stand das ganze Land gefühlt kurz vor einer "zweiten Shoah". Gerade in diesen Monaten kam dem Fernsehen eine überragende Rolle zu, es diente nämlich als Sprachrohr der zur Untätigkeit gezwungenen Armee. In Schutzräumen und mit Gasmasken versehen hätten die Israelis quasi nur noch ihren Fernseher als Informationsquelle besessen, der sich rückblickend aber auch als unverzichtbarer Unterhaltungsapparat erwiesen habe: "In der israelischen Erinnerung blieb der Golfkrieg eine paradoxe Mischung aus Nostalgie, Verdrängung, Schrecken und Unterhaltung." (251)

Dan Arav bringt die Integration des Kriegs in Israels (kultur-)politische Ordnung eindrucksvoll auf den Punkt. Seine herausfordernde These vom engen Konnex von Trauma und Nostalgie, von Zeugnis und Wiederholung, von Krieg und Unterhaltung zeigt ein reflektiertes Verständnis der prägenden Rolle von Krieg und Militarismus. Diese überzeugende Analyse gewährt tiefe Einblicke in ein zugleich von Opfertum und Täterschaft geprägtes Selbstverständnis.

Rezension über:

Dan Arav: Dying to See. War, Memory and Television in Israel 1967-1991, Tel Aviv: Resling 2017, 304 S.

Rezension von:
Tamar Amar-Dahl
Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Tamar Amar-Dahl: Rezension von: Dan Arav: Dying to See. War, Memory and Television in Israel 1967-1991, Tel Aviv: Resling 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 9 [15.09.2018], URL: https://www.sehepunkte.de/2018/09/32219.html


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