sehepunkte 18 (2018), Nr. 10

Edith Sheffer: Asperger's Children

Edith Sheffer widmet Asperger's Children ihrem inzwischen dreizehnjährigen Sohn Eric, bei dem im Alter von 17 Monaten Autismus diagnostiziert wurde. Diese persönliche Verbindung zum Thema des Buches ist nicht verwunderlich: Auch in anderen Disziplinen wurden wesentliche Beiträge zur Erforschung des Autismus von Eltern betroffener Kinder geleistet. [1] Zudem ist die Frequenz von Autismus-Diagnosen seit den 1990er Jahren sprunghaft angestiegen. Die Ursachen für diesen Anstieg sind genauso heftig umstritten wie der Umgang mit der Autismus-Inflation, bei dem "Cure Autism Now" und "Neurodiversity"-Advokaten einander unversöhnlich gegenüberstehen. [2] Zumindest teilweise dürfte der Anstieg aber auf eine Studie von Hans Asperger bzw. auf deren Einführung in die englische Forschungsdiskussion durch Lorna Wing zu Beginn der 1980er Jahre zurückzuführen sein. Wurden der von Leo Kanner 1943 beschriebene frühkindliche Autismus und das sogenannte Asperger-Syndrom, das erst mit dem Spracherwerb sichtbar wird und populär oft auch als "little professor syndrom" bezeichnet wurde, zunächst als zwei distinkte Störungen begriffen, subsummiert sie das 2013 erschienene Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-V) der American Psychological Association als zwei Ausprägungen einer allgemeineren "autism spectrum disorder" (14f.). Auf diesem breiten Autismusspektrum werden sowohl sogenannte "low-functioning" Autisten, deren Spracherwerb gar nicht oder nur sehr eingeschränkt erfolgt, als auch "high-functioning" Autisten lokalisiert, die beruflich erfolgreich sein und Höchstleistungen in Wissenschaft und Kunst vollbringen können. Die verbindenden Elemente des Spektrums sind die dauerhafte Störung der sozialen Interaktion und Kommunikation in verschiedenen Kontexten sowie die begrenzten, stark repetitiven Interessen und Verhaltensweisen.

Aspergers Autismus-Diagnose von 1944 ist heute nicht nur von großer Bedeutung für das Leben vieler Kinder und Familien, sondern inzwischen auch ein verbreiteter Topos der Populärkultur. Edith Sheffers genaue und umfassende wissenschafts- wie wissensgeschichtliche Untersuchung der Entstehung der Diagnose im Wien der 1930er und frühen 1940er Jahre füllt also eine wichtige psychiatriegeschichtliche Leerstelle. Diese war so offensichtlich, dass der österreichische Medizinhistoriker Herwig Czech parallel mit den gleichen Quellen daran gearbeitet hat, die vor allem in der anglo-amerikanischen Autismus-Community verbreitete Annahme zu widerlegen, Hans Asperger sei ein Gegner des Nationalsozialismus gewesen. [3] So wurde oft behauptet, Aspergers Betonung der besonderen Fähigkeiten autistischer Kinder sei ein Versuch gewesen, diese vor der sogenannten Kinder-Euthanasie zu retten. [4] Über die Untersuchung der Verbindungen Aspergers zum Nationalsozialismus und zu den Tötungen in der Jugendfürsorgeanstalt "Am Spiegelgrund" hinaus ist Sheffers Buch auch eine Kampfschrift gegen die Diagnose. Wie die historische Analyse und das gegenwartsbezogene Argument zusammenhängen, erhellt schon der Untertitel "The Origins of Autism in Nazi Vienna". Mit "Nazi Vienna" bezeichnet Sheffer nicht bloß den Ort und die Zeit der Formulierung von Aspergers Autismus-Theorie, sondern formuliert die wesentlich stärkere These, dass Aspergers Theoriebildung von spezifisch nationalsozialistischen Psychiatrievorstellungen durchdrungen gewesen sei und legt nahe, dass sich dies bis heute auswirke. Auf die gegenwärtige Inflation des Autismus, so schlägt sie abschließend vor, mögen wir vielleicht eines Tages zurückblicken wie auf die der "Hysterie" um 1900: "While hysteria was a diagnosis of supposedly overemotional women, autism could be seen as a diagnosis of supposedly underemotional boys." (248)

Sheffer untersucht zum einen die Verbindungen und Bezüge Aspergers zum Nationalsozialismus und den systematischen Tötungen "Am Spiegelgrund", wozu sie stark auf Sekundärliteratur und vor allem auf Herwig Czech zurückgreift. Zum anderen analysiert sie anhand von Aspergers Schriften und den Patientenakten die Entwicklung seiner Theorie der "autistischen Psychopathen im Kindesalter". Der 1906 geborene Hans Asperger war als Student Mitglied des katholischen Bunds Neuland gewesen und trat zwar nie der NSDAP bei, wohl aber anderen NS-Organisationen wie der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt. Karriere machte er am Wiener Kinderkrankenhaus, das ab 1930 von Hans Hamburger geleitet wurde, der aus seinen rassenhygienischen Vorstellungen und seiner Nähe zum Nationalsozialismus kein Hehl machte. 1935 übernahm Asperger die Leitung der Heilpädagogischen Station, die von Erwin Lazar in den 1920er Jahren gegründet worden war. Zusammen mit Hamburger und Erwin Jekelius, der für die Tötungen "Am Spiegelgrund" unmittelbar verantwortlich war, gründete Asperger die Wiener Gesellschaft für Heilpädagogik. Grundsätzlich scheint er die Ambition von Hamburger und dessen Schülern geteilt zu haben, nur denjenigen Kindern zu helfen, die leistungsfähige Mitglieder der "Volksgemeinschaft" werden konnten, die anderen aber zu eliminieren. So empfahl er seinen Kollegen, "schwierige Fälle" nach "Spiegelgrund" zu überstellen, in Kenntnis der dortigen Tötungspraxis. Allerdings war Asperger der einzige von Hamburgers Schülern, der nach 1945 als unbelastet eingestuft wurde und weiter Karriere machte. Während Sheffer bisweilen etwas freigiebig mit dem Begriff Nazi umgeht, kommt sie am Ende zu einem nuancierten Urteil über Asperger. Einerseits habe er selbst Kinder aus seiner Abteilung in den grausamen Tod am "Spiegelgrund" geschickt. Darüber hinaus stand Asperger einer Kommission vor, die 35 von 210 untersuchten Kindern Erwin Jekelius zur Tötung übergab. Andererseits sei er damit aber "a minor figure in the Nazi child euthanasia program, [und] nowhere near as active as some of its associates" gewesen (236), und es sei sehr wohl möglich, dass er sich auch darum bemüht habe, Kinder vor der Tötung zu bewahren. Einige Indizien deuten darauf hin, dass er sich aus strategischen Gründen nationalsozialistischen Vokabulars bediente, erläutert Sheffer. Sie tendiert aber eher dazu, diese Äußerungen für seine zumindest temporäre Überzeugung zu halten.

So differenziert Sheffers Urteil über Asperger als Person ausfällt, so harsch und radikal ist ihre Kritik seiner Diagnose der "autistischen Psychopathen". Zunächst zeigt sie, dass das Adjektiv "autistisch" in der Klinik schon zu Beginn der 1930er Jahre kursierte, allerdings nicht als diagnostischer, pathologisierender Begriff, sondern rein deskriptiv zur Beschreibung bestimmter Verhaltensweisen. Grundsätzlich habe das Klinikpersonal umfassende Labels für Verhaltensweisen abgelehnt und vielmehr die Notwendigkeit betont, die Kinder als Individuen zu betrachten und die Beweggründe ihres Verhaltens zu bestimmen. Erst nach dem "Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich, argumentiert Sheffer, habe Asperger Autismus zu einem diagnostischen Begriff erhoben, um eine bestimmte Pathologie zu bezeichnen: "Had it not been for the Nazi invasion, Asperger may never have envisioned autistic psychopathy as he did." (82) Asperger habe sich zum nationalsozialistischen Ideal der "Volksgemeinschaft" bekannt und zudem die von nationalsozialistischen Psychiatern bemühte Kategorie des Gemüts übernommen. Während das Gemüt als Bedingung für die Integration in die Volksgemeinschaft galt, argumentierte Asperger, das Gemüt "autistischer Psychopathen" mache sie unfähig zu reziproken Gemeinschaftsbeziehungen. Aufgrund ihrer Spezialbegabungen könnten einzelne Autisten aber doch der "Volksgemeinschaft" dienlich sein. Von der ersten Formulierung 1938 bis zu seinem Aufsatz von 1944 habe Asperger autistische Kinder immer negativer und letztlich als abnorme Wesen außerhalb der "Volksgemeinschaft" dargestellt, erklärt Sheffer: "He was, essentially, defining autism and Nazism as inverse states of being." (220)

In einem instruktiven Kapitel vergleicht Sheffer den Umgang Aspergers und des Klinikpersonals mit Jungen und Mädchen. Während Asperger Autismus für eine Extremform "männlicher Intelligenz" hielt und meinte, nie eine weibliche Autistin mit dem vollständigen Set an Symptomen gesehen zu haben, zeigt Sheffer anhand von Krankenakten, wie geschlechtsspezifisch der diagnostische Blick in seiner Heilpädagogischen Station war. Die gleichen Verhaltensweisen, die bei Aspergers paradigmatischen Autisten Fritz V. und Harro L. als Zeichen ihrer besonderen Intelligenz und Kreativität oder eben ihres Autismus dienten, wie zum Beispiel ihre Wortneuschöpfungen, wurden bei Margarete S. und Elfriede G. nur als seltsam und abnorm wahrgenommen, so dass die beiden Mädchen "Am Spiegelgrund" getötet wurden.

Sheffers Fundamentalkritik an Aspergers Autismusdiagnose bezieht sich letztlich auf das Faktum der Diagnose selbst. Während andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Klinik die Anerkennung der Individualität der Kinder zur Bedingung für deren Behandlung erhoben hätten, seien Fritz und Harro bei Asperger letztlich zu bloßen Trägern einer Pathologie geworden, die er als Autismus bezeichnete. Dieser Akt der Generalisierung vom individuellen Fall zum allgemeinen Krankheitsbild scheint mir einen wesentlichen Aspekt jeglicher Produktion psychologischen und psychiatrischen Wissens zu beschreiben. Sheffer legt in ihrem Buch jedoch in vielen Formulierungen nahe, dass sie in dieser Diagnostik eine Spezifik des Nationalsozialismus sieht. So formuliert sie eingangs: "This book suggests a new lens on the Third Reich - as a diagnosis regime. [...] At its core, the Third Reich was about the continual evaluation and remaking of humanity." (18f.) Diese Perspektive ist nun allerdings zum einen nicht so neu, sondern die Klassifikation von Volksgenossen und Gemeinschaftsfremden ist seit Jahrzehnten Gegenstand intensiver Forschungen zum Nationalsozialismus. Zum anderen zeigen diese Arbeiten aber zugleich, dass es zwar Spezifika nationalsozialistischer Diagnostik gab, das Aufkommen und die Zunahme der klassifizierenden Beobachtung menschlicher Verhaltensweisen und die Entwicklung von Strategien zu deren Veränderung aber alle politischen Systeme des 20. Jahrhunderts kennzeichnete. Insofern läuft Sheffers Kritik des Autismus-Labels ins Leere. Eine solche müsste vielmehr an der allgemeineren Inflation der Erfassung und Regulierung menschlichen Verhaltens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts ansetzen und würde dann allerdings deutlich differenzierter ausfallen. Trotz dieses grundsätzlichen Einwands ist Asperger's Children sowohl ein wertvoller Beitrag zur Psychiatriegeschichte als auch zur Diskussion über Autismus und das wahrscheinlich nicht mehr lange so genannte "Asperger-Syndrom".


Anmerkungen:

[1] Zum Beispiel Bernard Rimland: Infantile autism. The syndrome and its implications for a neural theory of behavior, New York, NY 1964; Lorna Wing: Autistic Children. A Guide for Parents and Professionals, Hoboken 2013.

[2] Andrew Solomon: Far from the tree. Parents, children and the search for identity, New York u. a. 2013, 219-292.

[3] Herwig Czech: Hans Asperger, National Socialism, and "race hygiene" in Nazi-era Vienna, in: Molecular autism 9 (2018), URL: https://molecularautism.biomedcentral.com/articles/10.1186/s13229-018-0208-6.

[4] Steve Silberman: NeuroTribes. The legacy of autism and the future of neurodiversity, New York, NY 2015, 119, 128-130.

Rezension über:

Edith Sheffer: Asperger's Children. The Origin of Autism in Nazi Vienna, New York: W.W. Norton & Company 2018, 317 S., ISBN 978-0-393-60964-6, USD 27,95

Rezension von:
Rüdiger Graf
Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam
Empfohlene Zitierweise:
Rüdiger Graf: Rezension von: Edith Sheffer: Asperger's Children. The Origin of Autism in Nazi Vienna, New York: W.W. Norton & Company 2018, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 10 [15.10.2018], URL: https://www.sehepunkte.de/2018/10/32280.html


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