Rezension über:

Norbert Frei (Hg.): Wie bürgerlich war der Nationalsozialismus? (= Vorträge und Kolloquien; Bd. 22), Göttingen: Wallstein 2018, 439 S., ISBN 978-3-8353-3088-7, EUR 20,00
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Rezension von:
Horst Sassin
Solingen
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Horst Sassin: Rezension von: Norbert Frei (Hg.): Wie bürgerlich war der Nationalsozialismus?, Göttingen: Wallstein 2018, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 12 [15.12.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/12/32164.html


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Norbert Frei (Hg.): Wie bürgerlich war der Nationalsozialismus?

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Die Leitfrage des Jenaer Symposiums vom Oktober 2016, wie bürgerlich der Nationalsozialismus war, wird in drei chronologisch geordneten und einem biografischen Panel untersucht. Einleitend konstatiert Norbert Frei die nicht gegebene Gegensätzlichkeit von Regime und Bürgertum, womit er Hermann Becks These zurückweist, der Nationalsozialismus sei grundsätzlich antibürgerlich gewesen. Vielmehr sei seine antibürgerliche Haltung spätestens durch die Annäherung an die staatlichen Machtpositionen überholt worden. Daraus leitet er die Frage nach dem Agieren und Verhalten des Groß- und Klein-, Wirtschafts- und Bildungsbürgertums zwecks Interessenwahrung ab.

Im ersten Panel über die Hoffnungen und Befürchtungen des krisengeschüttelten Bürgertums 1930-1934 macht Manfred Gailus am Beispiel eines Publizisten und zweier Theologen, die Nähe und Distanz zum Nationalsozialismus repräsentierten, "hochgespannte Führererwartungen" (21) im deutschen Protestantismus aus. Kerstin Thieler thematisiert den Zustrom der großbürgerlichen und mittelständischen Studentenschaft zum Nationalsozialismus schon vor 1933. Mark Roseman arbeitet an persönlichen Zeugnissen die komplizierte Lage der deutschen mittelständischen Juden heraus, die, national ausgegrenzt und sozial gedemütigt, ihre schwindenden Hoffnungen auf menschlichen Anstand dokumentieren. Eric Kurlander untersucht die Reaktionen Liberaler auf die nationalsozialistische Machtübernahme auf der Basis ihrer Entwicklung nach rechts seit 1930 und vergleicht ihre Anpassungsbereitschaft mit ihrem Beharren auf den Errungenschaften der Weimarer Republik. Seine Trennlinie verläuft zwischen gemäßigten älteren und aktivistischen jüngeren Liberalen.

Das zweite Panel widmet sich der bürgerlichen Selbstverwaltung 1934-1939. Dietmar Süß verdeutlicht, wie das durch rassistische Konnotationen modifizierte bürgerliche Leistungsprinzip individuellen Aufstiegshoffnungen gleichwohl Raum gab. Die Herstellung der "Volksgemeinschaft" am Beispiel bürgerlicher Schützenvereine, die ihre Umzüge nun gemeinsam mit SA und SS organisierten, illustriert den Moment des Übergangs zum neuen System. Franka Maubach wendet sich der bürgerlichen Frauenbewegung im NS-Regime zu. Die Selbstauflösung des Bundes Deutscher Frauenvereine 1933 markiert eine Ausnahme im bürgerlichen Vereinswesen. Doch gab es eine ambivalente Beziehungsgeschichte. Während Agnes von Zahn-Harnack für die westlich-liberale Frauenbewegung stand, repräsentierten andere einen spezifisch deutschen Differenzfeminismus. Liberale Frauen dienten sich dem neuen Regime in einer Art "Politikberatung unter Verfolgungsdruck" (183) an, doch Gertrud Bäumer distanzierte sich publizistisch vom Rassenwahn. Cornelia Rauh verdeutlicht die Fragwürdigkeit des bürgerlichen Eigentumsbegriffs angesichts der Indifferenz des Besitzbürgertums bei Enteignungen von Vermögen der Arbeiterbewegung und Emigranten. Vergleichsweise weist Tobias Freimüller im Fall der Eugenik eine soziale Spaltung nach, da auf der Täterseite bürgerliche Wissenschaftler und Ärzte standen, die Einzelfälle prüften, während die angeblich verantwortungslosen unteren Schichten Eingriffe in Leib und Leben hinnehmen mussten. Die Grenze des Konsenses zwischen Bürgertum und NS-Regime markierte der Mord an Psychiatriepatienten. Helen Roche stellt am Beispiel der Nationalpolitischen Erziehungsanstalten (Napola) deren tendenziell entbürgerlichenden Charakter fest, während die dort minoritären Arbeiterkinder eine nationalsozialistische Verbürgerlichung erlebten.

Im dritten Panel, bürgerliche Verlusterfahrungen und Beharrungskräfte im Zweiten Weltkrieg, arbeitet Felix Römer die Teilidentität der Ziele und Mentalitäten von Offizierskorps und Bürgertum heraus. Bürgerliche Konzepte und Praktiken wirkten, nationalsozialistisch relativiert, weiter. Die Persönlichkeit, die im bürgerlichen Konzept des 19. Jahrhunderts der Masse gegenübergestellt wurde, war nun nicht der reflexive, sondern der rassistisch basierte, dezisionistische Tatmensch. Moritz Föllmer betont die massenhafte Zugänglichkeit der bürgerlichen Hochkultur in den Kriegsjahren, wobei der Mangel an modernistischen Neuentwicklungen einen gravierenden Substanzverlust erzeugte. Randall Hansen gibt, auf Hermann Becks Bürgertumsbegriff aufbauend, einen breiten Überblick über den deutschen Widerstand auf teilweise überholter Forschungslage, wenn er etwa die "Rote Kapelle" dem kommunistischen Widerstand zuordnet. Der nichtsozialistische Widerstand basiere nicht auf vorrangig bürgerlichen Wertvorstellungen, sondern auf einer politisch-moralisch-religiösen Mischung mit sozialstaatlichem und agrarischem Aspekt. Am deutlichsten sieht er bürgerliche Prinzipien bei den Konservativen vertreten. Seine quantitative Auswertung weist eine deutliche Mehrheit bürgerlichen Führungspersonals im Widerstand nach, begründet durch sozial bedingte Handlungsspielräume. Benjamin Lahusen arbeitet die Funktion der konservativ-reaktionären Klassenjustiz für die Heimatfront heraus. Er bezieht sie auf die Revision des Strafrechts, das nicht mehr auf Resozialisierung, sondern auf Vergeltung zielte. Hingegen blieb das Zivilrecht weitgehend unverändert erhalten, vor allem das Bürgerliche Gesetzbuch, dessen Umarbeitung zum Volksgesetzbuch in den Kriegsjahren pausierte, während das Reichsgericht etwa in Form des antisemitisch fokussierten "berührungslosen Geschlechtsverkehr[s]" (253) das Zivilrecht völkisch anpasste. Bei den bürgerlichen Berufsgruppen der Ärzte und Juristen lässt die Tagung eine hartnäckige Simulation von Normalität bis zum Ende erkennen, um das bürgerliche Selbstverständnis inmitten des Untergangs aufrecht zu erhalten. Bürgerlich war nun weniger der Inhalt als der professionelle Habitus.

Im vierten Panel werden unter dem Titel "Bürgertum danach. Selbst- und Umdeutungen nach 1945" fünf bürgerliche Biografien vorgestellt: der Industrielle Albert Vögler (Tim Schanetzky), die Pädagogin und Publizistin Inge Aicher-Scholl (Christine Friederich), der Bildungsbürger par excellence Carlo Schmid (Kristina Meyer), der Bekenntnispfarrer Martin Niemöller (Benjamin Ziemann) und der rechtskonservative Publizist Giselher Wirsing (Maik Tändler). Die nach 1945 einsetzenden Stilisierungen und Selbstrechtfertigungen verdienen als Konsequenzen des Moralverlusts breitere Untersuchungen. Jedes Panel schließt mit einem Kommentar und ausführlicher Diskussion. Wiederholt nehmen Referenten und Diskussionsteilnehmer Bezug auf Hans Mommsens Kritik, das Bürgertum habe schon vor 1933 das Ideal von Freiheit und Eigenverantwortlichkeit verloren. Die umfassenden Kompromisse bürgerlicher Handlungsträger mit dem Regime führten, so Bernd Weisbrod, zur moralischen Selbstentwaffnung. Das war umso wirkungsmächtiger, als der verbrecherische Charakter des Regimes für Zeitgenossen erkennbar war. Statt für soziale Gleichheit in der Volksgemeinschaft sorgte das Regime für kompensatorische Politiken. David Abraham fällt das schlüssige Urteil, Teile des Bürgertums hätten das Recht zu regieren zugunsten des Rechts, Geld zu verdienen, aufgegeben. Die Schlussrunde widmet sich der gesamten Tagung.

Der anregende Tagungsband dokumentiert die multiperspektivische Anlage des Symposiums, die durch Referate und deren fundierte Kommentierung kontroverse Debatten auslöste. Dem Band ist ein breites Leserinteresse zu wünschen.

Horst Sassin