Rezension über:

Stephan Deutinger / Roman Deutinger (Hgg.): Die Abtei Niederaltaich. Geschichte, Kultur und Spiritualität von der Gründung bis zur Säkularisation (= Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Bendediktinerordens und seiner Zweige; 53), St. Ottilien: EOS Verlag 2018, XVI + 575 S., 14 s/w-Abb., 3 Tbl., ISBN 978-3-8306-7903-5, EUR 49,95
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Rezension von:
Daniela Bianca Hoffmann
Forschungsstelle für Vergleichende Ordensgeschichte, Technische Universität, Dresden
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Daniela Bianca Hoffmann: Rezension von: Stephan Deutinger / Roman Deutinger (Hgg.): Die Abtei Niederaltaich. Geschichte, Kultur und Spiritualität von der Gründung bis zur Säkularisation, St. Ottilien: EOS Verlag 2018, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 4 [15.04.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/04/32336.html


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Stephan Deutinger / Roman Deutinger (Hgg.): Die Abtei Niederaltaich

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Das Benediktinerkloster Niederaltaich, in der Nähe von Deggendorf gelegen, ist nicht nur eines der ältesten, sondern auch eines der bedeutendsten bayerischen Klöster. Seine Geschichte erhielt im Jahr 1971 eine umfassende Darstellung von Georg Stadtmüller und Bonifaz Pfister, die in zwei weiteren Auflagen bis 1986 und dann 2012 ergänzt und überarbeitet wurde. [1] Diesem Werk möchte der vorliegende, von Stephan und Roman Deutinger herausgegebene voluminöse Sammelband "Tiefenbohrungen" (XIV) zu ausgewählten Themen zur Seite stellen, die weiterführende Perspektiven aufzeigen und sich dabei neuerer Methoden der Geschichtswissenschaft bedienen. Im Wesentlichen enthält er die Ergebnisse zweier Fachtagungen aus den Jahren 2014 und 2016 sowie einige ergänzende Beiträge.

Die einzelnen Aufsätze umfassen die Zeit von der Gründung der Abtei im 8. Jahrhundert bis hin zu ihrer Auflösung im Zuge der Säkularisation im Jahr 1803; die Zeit seit der Wiederbegründung im Jahr 1918 wurde ausgeklammert. Im Anschluss an das Vorwort der Herausgeber und einen einführenden Beitrag von Alois Schmid zur Geschichtskultur der Abtei gliedert sich der Band in einen mittelalterlichen und einen frühneuzeitlichen Teil auf. Entsprechend der Thematik der zwei Tagungen widmen sich die Aufsätze in beiden Teilen zunächst den Außenbeziehungen und Außenwirkungen der Abtei sowie, darauf folgend, dem klösterlichen Beitrag zu Geschichtsschreibung, Kunst, Musik, Erziehung und Wissenschaft. Die überwiegend geschichtswissenschaftlichen Aufsätze werden hier durch Beiträge aus Kunst- und Musikwissenschaft ergänzt.

Die wenigen Schwächen des insgesamt sehr gelungenen Bandes finden sich gleich am Anfang - in der Einleitung und zu Beginn des ersten, bereits erwähnten Beitrags von Alois Schmid. So ist die Einleitung mit einem Umfang von nur wenig mehr als zwei Seiten sehr knapp geraten. Die Bedeutung der Abtei wird nicht umrissen, das Konzept des Bandes kaum erläutert und in den Forschungskontext eingeordnet, die einzelnen Beiträge nicht zusammengefasst und die neuen Ergebnisse weder dargelegt noch gewürdigt. Dies ist verwunderlich, da die Herausgeber an dieser Stelle auf die zwei von Roman Deutinger verfassten Tagungsberichte hätten zurückgreifen können. [2]

Der erste Beitrag von Alois Schmid ersetzt zum Teil die fehlende Einführung, da er neben der eigentlich thematisierten Geschichtskultur auch ein informatives Gesamtbild der Geschichte, Bedeutung und Identität des Klosters bis zur Säkularisation vermittelt; daher ist er gut am Beginn des Bandes platziert. Störend ist jedoch der erste Absatz, in dem Schmid die in manchen konservativen Kreisen bevorzugte Definition Europas als christliches "Abendland", das einem "völlig anders geprägten Morgenland" gegenübersteht, als "klare Antwort" der "Geschichtswissenschaft" auf die Frage nach möglichen EU-Beitrittskandidaten (konkret also wohl der Türkei) präsentiert (1). Es ist gerade an so prominenter Stelle unschön, dass hier die fachwissenschaftlichen Debatten um verschiedene Europabegriffe sowie die Ansätze der transkulturellen Geschichte übergangen und implizit individuelle politische Positionen als wissenschaftlich fundiert dargestellt werden. Dieser irritierende Beginn sollte die Leser aber nicht abschrecken.

Denn dieser Sammelband ist für die Erforschung der Abtei immens wichtig, wirft er doch zahlreiche Schlaglichter auf noch nicht hinreichend behandelte Themen und enthält Thesen und Interpretationen, mit denen sich die Forschung künftig wird auseinandersetzen müssen. Der mittelalterliche Teil lotet zunächst das umfassende politische Beziehungsgeflecht der Abtei aus. Nacheinander werden die Akteure der Gründung (Roman Deutinger), die Beziehung zum Königtum (Hubertus Seibert), zu den Vögten (Jürgen Dendorfer) und den Bischöfen von Bamberg (Dieter J. Weiß) beleuchtet. Auch das Ausgreifen und die Gestaltungskraft des Klosters in verschiedenen Regionen, so die Siedlungstätigkeit (Wolfgang Janka) und die Besitzungen in Niederösterreich (Roman Zehetmayer), werden gewürdigt. Darauf folgen Beiträge zum klösterlichen Buchbestand (Julia Knödler), zu liturgischen Quellen (Roman Deutinger, Robert Klugseder), dem berühmten hochmittelalterlichen Geschichtswerk der Annales Altahenses (Jörg Schwarz) und der Lex Baioariorum, als deren Entstehungsort Niederaltaich vermutet wurde (Roman Deutinger). Die Schnittstelle zum neuzeitlichen Teil bildet ein Beitrag zur Melker Reform im Kloster (Christof Paulus).

In diesem Teil finden sich mehrere Aufsätze, die Neubewertungen und -zuordnungen enthalten oder bisherige Positionen infrage stellen. So trägt Roman Deutinger abweichend von der gängigen Forschungsmeinung, der zufolge Niederaltaich im Jahr 731 oder 741 gegründet und von Mönchen aus der Reichenau besiedelt worden sei, die neue These vor, dass das Kloster zwischen 736/7 und 748 mit Mönchen aus einem Kloster der Ortenau, vermutlich Ettenheimmünster, begründet worden sei. Wolfgang Janka wiederum relativiert die Rolle Niederaltaichs und des heiligen Gunther für die Erschließung des Mittleren Bayerischen Waldes ab dem 11. Jahrhundert und verweist auf wohl bereits vorhandene frühmittelalterliche Strukturen. Darüber hinaus widerlegt Roman Deutinger die zuweilen vertretene These, dass die Lex Baioariorum in Niederaltaich niedergeschrieben worden sei, und Jürgen Dendorfer stellt die bekannte Definition der Klostervogtei aus dem Werk "De advocatis Altahensibus" des Abtes Hermann (1242-1273) erstmals in ihren historischen Kontext und bewertet sie dadurch neu.

Der neuzeitliche Teil wirkt einheitlicher als der mittelalterliche; die einzelnen Beiträge sind thematisch enger verwoben und beziehen sich immer wieder aufeinander. Die Geschichte der Abtei wird im Kontext der großen Umbrüche dargestellt. Das Ausgreifen des frühmodernen bayerischen Staates auf Niederaltaich und seine Gebiete wird dabei ebenso deutlich wie die Auseinandersetzung des Klosters mit der Aufklärung im Vorfeld der Säkularisation. Wie im ersten Teil finden sich hier Aufsätze zu den klösterlichen Außenbeziehungen, so über das Verhältnis zum Bistum Passau (Herbert W. Wurster) und den eigenen Grundholden (Martin Hille) sowie zum Jesuitengymnasium und der Domus Gregoriana in München (Hannelore Putz). Nach einem Beitrag über die klösterliche Hauschronistik (Johannes Molitor) folgen sechs Aufsätze über das 18. Jahrhundert. Diese behandeln Identität, Selbstinszenierung und Außenwahrnehmung des Klosters (Ernst Schütz), den Rangstreit mit Tegernsee (Stephan Deutinger), die klösterliche Musik (Bernhard Greiler), den für die Abtei tätigen Rokokomaler Franz Anton Rauscher (Heike Mrasek), den Niederaltaicher Pater und Mineralogen Lorenz Hunger, der den Titanit entdeckte (Stephan Deutinger), und die Streitschrift des Niederaltaicher Paters Gregor Pusch gegen die obrigkeitlich verordnete Feiertagsreduktion (Stephan Deutinger).

In diesem Teil wird nebenbei dem Bild entgegengewirkt, das die Aufklärer von den Klöstern zeichneten: Diese seien rückständig und nutzlos, als Grundherren und gegen die eigenen Mönche unterdrückerisch, der Vernunft und Wissenschaft abgeneigt. Die Aufnahme aufklärerischen Gedankenguts und die Misswirtschaft der nach wie vor den Barock feiernden Äbte führten zu einer Spaltung des Konvents und zu Klosteraustritten. Ein schlechtes Image Niederaltaichs wurde unter anderem von seinem ehemaligen Mönch Joachim Schuhbauer (1743-1812) verbreitet, der sich in seinen aufklärerischen Schriften gegen die Mönche generell und speziell die Benediktiner und ihr Schulwesen ausließ. Der Band macht demgegenüber die Einbindung der Niederaltaicher Mönche in die gelehrten Netzwerke der Zeit deutlich; unter anderem legt Johannes Molitor die Beziehungen des Niederaltaicher Hauschronisten Placidus Haiden zu Bernhard Pez und zu den Maurinern offen. Doch besonders der zu Unrecht fast vergessene P. Lorenz Hunger (1757-1813) sticht hier hervor, der aufgrund seiner Leistungen in der damals brandaktuellen Mineralogie in exklusive Fachgesellschaften aufgenommen wurde. Die Auflösung des vermeintlichen Widerspruchs zwischen "Kloster" und "Vernunft" mündet am Schluss des Bandes in einen Appell Stephan Deutingers, sich für die Lösung von Problemen und Herausforderungen der ökonomisierten Gegenwart auch auf den Traditionsfundus der Klöster zu besinnen.

Wer sich wissenschaftlich mit dem Kloster Niederaltaich beschäftigen will, wird an diesem Band nicht vorbeikommen. Für weitere Forschungen zur Abtei ist der Sammelband eine wahre Fundgrube: Es werden Quellen vorgestellt oder ediert, die ausgewertet werden können; überall wird auf Forschungsdesiderate hingewiesen, wie unter anderem in dem hervorragenden Aufsatz Martin Hilles über die bislang kaum erforschte Niederaltaicher Grundherrschaft im 16. und 17. Jahrhundert. Doch die Publikation bietet mehr: Obwohl die beiden Herausgeber nicht den Anspruch erheben, das Buch von Stadtmüller und Pfister durch eine neue Gesamtdarstellung zu ersetzen, vermitteln die "Tiefenbohrungen" durchaus auch ein umfassendes und sehr lesenswertes Panorama der Niederaltaicher Geschichte bis zur Säkularisation. Die Beiträge sind fast durchweg gut lesbar, stilistisch ansprechend und verzichten auf ein Übermaß an Fremdwörtern; manche Stellen weisen durch lebendige Bilder, interessante Kuriositäten und treffsichere Seitenhiebe sogar ausgesprochenen Unterhaltungswert auf. Die Lektüre ist daher nicht nur lehrreich und inspirierend, sondern bereitet auch Vergnügen.


Anmerkungen:

[1] Georg Stadtmüller / Bonifaz Pfister: Geschichte der Abtei Niederaltaich 741-1971, Augsburg 1971; 2. Auflage: Geschichte der Abtei Niederaltaich 731-1986, Grafenau 1986; 3. Auflage: Geschichte der Abtei Niederaltaich 731/ 741-2012, München 2012.

[2] Roman Deutinger: Tagungsbericht: Die Abtei Niederaltaich vom 8. bis zum 18. Jahrhundert. Bericht über die die [sic!] Fachtagung: Das Kloster und sein Umfeld. Die Abtei Niederaltaich in ihrem Beziehungsgefüge vom 8. bis zum 18. Jahrhundert. 19. bis 21. Juni 2014 im Tagungshaus St. Pirmin der Abtei Niederaltaich, https://histbav.hypotheses.org/2889; Ders.: Das Kloster und seine Kultur. Gelehrsamkeit und Kunstschaffen in der Abtei Niederaltaich in Mittelalter und früher Neuzeit. Bericht zur Fachtagung vom 26. bis 28. Mai 2016 in der Abtei Niederaltaich, in: Die beiden Türme 110 (2/ 2016), 122-127, online unter: http://www.abtei-niederaltaich.de/fileadmin/Dateien/Artikel/2016-2_Deutinger.pdf.

Daniela Bianca Hoffmann