Rezension über:

Maren Lorenz: Menschenzucht. Frühe Ideen und Strategien 1500-1870, Göttingen: Wallstein 2018, 416 S., 24 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-3349-9, EUR 34,90
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Rezension von:
Vitus Huber
Centre Alexandre-Koyré, École des Hautes Études en Sciences Sociales, Paris
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Vitus Huber: Rezension von: Maren Lorenz: Menschenzucht. Frühe Ideen und Strategien 1500-1870, Göttingen: Wallstein 2018, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 4 [15.04.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/04/32433.html


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Maren Lorenz: Menschenzucht

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Im November 2018 löste die Nachricht, dass die ersten genmanipulierten Babys der Welt geboren worden seien, einen Aufschrei in der scientific community und darüber hinaus aus. [1] Sofern die bislang nicht bestätigte Behauptung des chinesischen Forschers He Jiankui stimmt, hat dieser damit eine bisher existierende Grenze überschritten: Er ignorierte die offenen juristischen Fragen, die großen ethischen Bedenken und die starken Vorbehalte gegenüber den fehlerhaften Techniken mit ihren unschätzbaren Risiken und befeuerte damit die Debatte um gentechnische Eingriffe am Menschen. Dass sowohl die Diskussionen um Maßnahmen zur Züchtung der idealen Bevölkerung als auch der jeweilige Widerstand gegen solche Vorschläge eine lange und interessante Geschichte haben, zeigt das im September 2018 erschienene Buch Menschenzucht von Maren Lorenz.

In ihrer fünften Monografie widmet sich die Professorin der Ruhr-Universität Bochum der Frage nach Normalisierungsprozessen bei vormodernen Gedankenexperimenten zur Menschenzucht. Sie rekonstruiert, wie sich die Diskursgrenzen proto-eugenischer Ideen von einem Tabubruch - als was auch der Fall von He Jiankui aktuell (noch) beurteilt wird - verschoben zu öffentlich Sag- und sozial Machbarem. Eine ihrer Thesen lautet, dass Diskurse, die "zu ihrer Zeit noch nicht mehrheitsfähig" waren, dennoch "langfristig und grenzüberschreitend durchaus ihre gesellschaftlichen Spuren hinterlassen" (10) hätten. Des Weiteren will Lorenz "die Zweischneidigkeit des Verhältnisses von Wissenschaft und Ethik" (9) sowie die Verknüpfung der Fortpflanzungsfrage mit politischen und vor allem ökonomischen Interessen aufzeigen.

Das Forschungsdesign richtet sich nach Michel Foucaults Konzept der Gouvernementalität und der damit verbundenen Biopolitik. Dementsprechend geht Lorenz ihrer Frage methodisch teils diskurs- und primär ideengeschichtlich nach. Das Quellenkorpus besteht aus edierten normativen Texten, vornehmlich aus medizinischen, religiösen - vor allem moraltheologischen - und ökonomischen Traktaten. Zeitlich und geografisch wagt sich Lorenz an einen ambitionierten Zuschnitt, den sie sinnvollerweise über die klassische Frühe Neuzeit hinaus bis 1870 wählt. In je eigenen Kapiteln behandelt die 360-seitige Studie das Alte Reich (II), Frankreich (III), Großbritannien (IV) und die jungen USA (V und VI).

Im ersten Kapitel (33-66) stellt die Autorin kurz antike philosophische Überlegungen - primär jene aus Platons Politeia - vor. Daran sowie anhand diverser Beispiele aus der berühmten Utopie-Literatur (Morus etc.) macht sie die enge Verbindung von idealen Staats- und Gesellschaftsordnungen mit Ehe-, Familien- und Erziehungskonzepten deutlich.

Im zweiten Kapitel (67-148) versammelt Lorenz sozialreformerische Vorschläge aus dem Alten Reich zur Erlangung einer gesünderen Bevölkerung. Die oft nicht umgesetzten Reformansätze reichen von Zeugungs- und Heiratsgeboten beziehungsweise -verboten über die richtige "Samenökonomie", Staatsbordelle, Impfverordnungen, aktiven und passiven Kindsmord ("Himmeln-Lassen"), Sterbehilfe bis hin zu einem umfassenden Gesundheitsmonitoring. Ihren Höhepunkt erreichten die Optimierungsbestrebungen im Alten Reich mit der Einführung einer "Medizinalpolizei" zwischen 1770 und 1800 (98). Lorenz hebt auch hier die Interdependenz von Staat und Bevölkerung hervor (73) sowie die proto-eugenischen Ansichten, die meist auf Johann Peter Süßmilch (1707-1767) und Johann Peter Frank (1745-1821) zurückgingen. Außerdem verweist Lorenz immer wieder auf die ökonomischen und politischen Interessen, die beispielweise hinter den Plädoyers von Ärzten für die Pockenimpfung oder hinter gewährten Ausnahmen gesetzlich untersagter Eheschließungen steckten (87, 110f., 119, 144f.).

Das dritte Kapitel (149-191) zeigt, dass die französischen Ideen zur Bevölkerungsvermehrung gegenüber dem Alten Reich progressiver waren. Sie bezweckten unter anderem mit libertinärerem Sexualverhalten, das durch Kriege dezimierte Heer aufzufüllen und die Landwirtschaft produktiver zu machen. Gleichzeitig standen sie einem "Angstdiskurs" gegenüber. In diesem wurde vor der "Degeneration" der Bevölkerungsqualität gewarnt und angesichts grassierender Armut für Maßnahmen zur selektiven Beschränkung des Bevölkerungswachstums plädiert (149-157). Die in allen untersuchten Sprachregionen auftauchenden Analogien zwischen der Tier-, Pflanzen- und Menschenzucht wurden auch für die Experimente mit versklavten Schwarzafrikanern und Schwarzafrikanerinnen in den französischen Kolonien herangezogen (164-166).

Im vierten Kapitel (193-228) stellt Lorenz die 'Malthusianische Katastrophe' ins Zentrum: Der Pfarrer Thomas Malthus formulierte im Essay on the Principle of Population von 1798 die These, dass die Bevölkerungszahl exponentiell zunehme, während die Nahrungsmittelproduktion dies nur linear tue. Eine größere Bevölkerung bedeute daher nicht höhere Wirtschaftsleistung, sondern ab einem bestimmten Zeitpunkt Ressourcenknappheit und steigende Armut. Während Malthus primär spätere Heiraten empfahl, kursierten vor dem Hintergrund der Industrialisierung und der rasant wachsenden Städte Englands proto-eugenische Konzepte in der heftigen Diskussion zur Eindämmung der Armut.

Im fünften Kapitel (229-282) zeichnet Lorenz nach, wie sich phrenologisches Vermessen der Schädel und die Angst vor Degeneration der neuenglischen weißen Elite in den USA des 19. Jahrhunderts etablierten. Dazu liefert sie anschauliche Beispiele von der Baby Show (275-282) und von Züchtungsexperimenten, deren männliche Initianten Promiskuität, Polygamie und Inzest als christlich und wissenschaftlich legitimiert propagierten (265-275).

Das sechste Kapitel (283-315) zeigt unter anderem auf, wie Frauenrechtler und Frauenrechtlerinnen die Theorien zur Zeugung physiologisch und charakterlich erwünschten Nachwuchses nutzten, um für die Besserstellung der Frauen zu argumentieren. Wirkten sich doch Lustlosigkeit beim Zeugungsakt, Sorgen während der Schwangerschaft und Disharmonie zwischen dem Elternpaar negativ auf die Kinder aus (306f.). Es ist ein bereicherndes Verdienst dieser Arbeit, dass die Rolle der Frauen durchgehend betont wird. Abgesehen vom ersten Unterkapitel, das nochmals Entwicklungen in Europa aufnimmt, gehört das Kapitel eigentlich noch zum fünften Kapitel zu den USA. Die Abweichung vom sonst geografischen Gliederungskriterium lässt sich nur durch das hinzugezogene Quellenmaterial (Ehe- und Sexualratgeber) nachvollziehen.

Die grundsätzlich überzeugende und klug angelegte Studie weist zeitliche und räumliche Schwerpunkte auf, die pragmatisch erklärbar sind, aber von Lorenz nicht begründet werden. So erhalten das Alte Reich und die USA jeweils doppelt so viel Platz wie Frankreich und Großbritannien, und der zeitliche Fokus liegt klar zwischen der Mitte des 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts. Gerade in Hinblick auf den gewählten methodischen Ansatz hätte es sich aufgedrängt, die hier verdichtete Quellenlage zu thematisieren. Der Zugang über normative Texte lässt zudem, wie die Autorin selbst einräumt, die Frage nach der Praxis offen. Die Verschiebung der Denkstile, um die es in dieser Ideengeschichte schließlich geht, zeichnet Lorenz aber detailreich und spannend nach. Besonders aus den deutschen und englischsprachigen Quellen veranschaulichen die häufigen Zitate und die Bebilderung die zeitgenössischen Ideen zusätzlich. Menschenzucht ist eine äußerst lesenswerte Studie, die nicht zuletzt den historischen Kontext einer topaktuellen Debatte liefert.


Anmerkung:

[1] Christoph Gießen / Kathrin Zinkant: Ein Mann spielt Gott, in: Süddeutsche Zeitung, 29.11.2018, https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/genmanipulation-china-crispr-1.4230761?reduced=true (6.3.2019).

Vitus Huber