Rezension über:

Aaron Graham: Corruption, Party, and Government in Britain, 1702-1713 (= Oxford Historical Monographs), Oxford: Oxford University Press 2015, XV + 305 S., ISBN 978-0-19-873878-7, GBP 65,00
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Rezension von:
André Krischer
Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Redaktionelle Betreuung:
Bettina Braun
Empfohlene Zitierweise:
André Krischer: Rezension von: Aaron Graham: Corruption, Party, and Government in Britain, 1702-1713, Oxford: Oxford University Press 2015, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 9 [15.09.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/09/29369.html


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Aaron Graham: Corruption, Party, and Government in Britain, 1702-1713

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Vom Titel her scheinbar ein Beitrag zur historischen Korruptionsforschung, handelt es sich bei Aaron Grahams Studie, hervorgegangen aus seiner Oxforder Dissertation, tatsächlich um einen Beitrag zur Geschichte der Staatsbildung in ihrer anglo-britischen Variante.

Graham wendet sich dabei gegen essenzialisierende Vorstellungen von Staatlichkeit im 18. Jahrhundert, gegen ein Verständnis von Staat "as a force external to society" (3), gegen ein Modell bürokratischer Herrschaft im Sinne Max Webers, bei dem Zentrum und Peripherie durch einen nach rational-abstrakten Regeln funktionierenden Verwaltungsstab miteinander verbunden gewesen wären. Welche Historiker für ein derartig abstraktes Verständnis von Staatlichkeit unter Berufung auf Max Weber standen oder stehen, lässt Graham allerdings offen.

Seine Studie zielt vor allem auf John Brewers Konzept des "Fiscal-Military State". Brewer bezeichnete damit ein dynamisches Kreislauf-Modell von Staatsbildung, bei dem ein politisches System durch die Kombination von effizienten Steuern und innovativen Finanzinstrumenten wie Kriegs- und Staatsanleihen ein stehendes Heer unterhalten konnte, dessen militärische Erfolge wiederum die Steuern sprudeln und Anleiheankäufe attraktiv erscheinen ließen. Das Großbritannien nach 1700 war dafür freilich das Paradebeispiel.

Graham geht es nun nicht darum, dieses Modell in Zweifel zu ziehen. Vielmehr möchte er zeigen, wie dieses Modell eigentlich in der Praxis funktionierte, denn genau dieses praktische Funktionieren wurde in der bisherigen Forschung tatsächlich immer schon vorausgesetzt und nicht weiter problematisiert.

Seine These dazu formuliert Graham direkt zu Beginn: Der britische Staat des 18. Jahrhunderts habe seine Herrschaftsansprüche nicht auf Befehl und Gehorsam gründen können, sondern sei allenthalben auf Prozesse sozialer Vermittlung angewiesen gewesen, auf "networks and clusters of interests" (2), zusammengehalten durch persönliche Bekanntschaften und Vertrauen. Bei genauerem Hinsehen, so Graham, seien diese sozialen Netzwerke überall dort anzutreffen gewesen, wo die ältere Forschung die jeweilige Problembearbeitung abstrakten Institutionen und Verfahren zugewiesen habe: bei der Steuerverwaltung ebenso wie bei der Lokalverwaltung und nicht zuletzt im Wirtschaftsleben.

Das erste Kapitel, in dem diese These formuliert und solche Bezüge hergestellt werden, liest sich als nützliche Einführung in den Problemkontext 'Herrschaft und Verwaltung als soziale, kulturelle oder lokal-konsensuale Praxis', bei der Patronage, wechselseitige Gunsterweise oder Gaben eine zentrale Rolle spielten. Entfaltet wurde dieser Problemkontext in den zurückliegenden rund 30 Jahren durch Arbeiten von J.C.D. Clark, Paul Langford, Michael Braddick oder eben auch John Brewer.

Die Kapitel zwei bis sechs stellen die These dann auf ein empirisches Fundament. Erst im zweiten Kapitel, auf S. 45, erfährt die Leserin allerdings, dass das Pay Office, das für die Besoldung des britischen Heeres (nicht der Marine) zuständig war, den exemplarischen Untersuchungsgegenstand darstellt. Dass sich diese Institution dafür sehr gut eignet, wird im Laufe der Untersuchung unzweifelhaft deutlich. Dennoch ist es zumindest unkonventionell, den Gegenstand gewissermaßen en passant einzuführen und nicht schon in der Einleitung (als die wohl das erste Kapitel fungiert) systematisch herzuleiten und gegen andere mögliche Untersuchungskandidaten abzuwägen.

Ähnlich unkonventionell ist auch der Verzicht auf einen 'richtigen' Schluss. Vielmehr richtet das siebte und letzte Kapitel, wie schon das erste, den Blick auf das 'lange' 18. Jahrhundert (1660-1830). Eine derartige Langfristperspektive gibt das empirische Material aus der Zeit des Spanischen Erbfolgekriegs, das dieser Arbeit zugrundliegt, nicht wirklich her. Dass auch das 18. Jahrhundert noch 'early modern' war, weil allenthalben Cluster aus Bekannten und Vertrauten fortwirkten, ist als Idee bedenkenswert, aber mit Grahams Material nicht zu unterfüttern und, nebenbei bemerkt, in der Forschung auch nicht wirklich neu. Inwiefern aber nun parteilicher Antagonismus, der nach der Glorious Revolution soziale Beziehungen bis hin zu Heiratsverbindungen überformte (29), einen Schub zu mehr Bürokratisierung und abstrakter Staatlichkeit bewirkte (245) oder aber politisch-soziale Netzwerke entlang politischer Präferenzen nur neu sortierte, bleibt dagegen unklar. Ebenso blass bleibt auch der Korruptionsbegriff, der immerhin für das Buch titelgebend ist. Weder werden damit zeitgenössische Zuschreibungen aufgegriffen, die es am Beginn des 18. Jahrhunderts schon in mannigfacher Weise gab, noch die analytischen Konzeptualisierungen der neueren historischen Forschung.

In seinem Hauptteil ist das Buch eine höchst solide, aus vielfältigen Quellen gearbeitete Studie über die finanziellen Transaktionen der Generalzahlmeister (Paymaster General) im Spanischen Erbfolgekrieg Charles Fox (1702-1705) und James Brydges (1705-1714). Graham kann hier auf eindrucksvolle Weise zeigen, wie die britischen Soldaten in den Niederlanden, Flandern, Norditalien und auf der iberischen Halbinsel ganz konkret ihren Sold in die Hand bekamen, sei es in Form von Bargeld oder auch in Form von Banknoten oder Wechselscheinen. Es geht um die komplexen Transformationen von Stammrollenbüchern und Lohnlisten der jeweiligen Offiziere in Zahlungsmittel für ihre Soldaten, was unter den gegebenen Bedingungen nur durch ein Gemisch aus formalen Ämtern und Positionen und informalen Praktiken möglich gewesen waren. Ohne den neuartigen Londoner Finanzmarkt sowie an verschiedenen Orten tätige Zwischenhändler hätten die Zahlungen nie fließen können. Umgekehrt kann Graham zeigen, dass die Vermischung von privaten und dienstlichen Finanztransaktionen, die für Brydges typisch war, nicht einfach korrupt, sondern durchaus systemfunktional, jedenfalls nicht nur Bereicherung war (137).

Graham hat damit auch einen beachtlichen Beitrag zur historischen Informalitätsforschung vorgelegt, und es ist bedauerlich, dass er die Arbeiten, die es dazu außerhalb der englischsprachigen Forschung bereits gibt, ausblendet, denn sie hätten sein Argument gut weiter stützen können. Gewinnbringend wäre auch gewesen, die Perspektiven über die letztlich ubiquitär anzutreffenden sozialen Netzwerke auf jene Dimensionen zu richten, die die ältere Forschung ebenfalls nicht thematisiert hatte. So war Heeresbesoldung ganz offensichtlich auch abhängig von allerlei paper technologies, beruhte die Organisation des "flow of money" (181) auf einem Akteur-Netzwerk, auf materiellen Ressourcen ebenso wie auf personalen. Letztere werden in einem tabellarischen Anhang allerdings sehr anschaulich rekonstruiert.

Obwohl Graham es seinen Leser*innen nicht immer leicht macht und das Buch vielleicht auch einen nicht wirklich passenden Titel trägt, ist es ohne Zweifel ein sehr gewinnbringender Beitrag über die Mikrofundierungen frühmoderner Staatlichkeit, über die informalen Seiten formaler Ämter und Organisationen sowie über die Praktiken des bargeldlosen Zahlungsverkehrs. Mit diesen Hinsichten wird Grahams Studie in der Historiographie zur frühneuzeitlichen Staatsbildung eine wichtige Referenz darstellen.

André Krischer