Rezension über:

Matěj Kotalík: Rowdytum im Staatssozialismus. Ein Feindbild aus der Sowjetunion (= Kommunismus und Gesellschaft; Bd. 10), Berlin: Ch. Links Verlag 2019, 399 S., 4 Tbl., ISBN 978-3-96289-071-1, EUR 50,00
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Rezension von:
Eva Schäffler
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Eva Schäffler: Rezension von: Matěj Kotalík: Rowdytum im Staatssozialismus. Ein Feindbild aus der Sowjetunion, Berlin: Ch. Links Verlag 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 4 [15.04.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/04/33676.html


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Matěj Kotalík: Rowdytum im Staatssozialismus

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2012 wurden drei Mitglieder der feministischen Punkrock-Band Pussy Riot in Russland zu zwei Jahren Haft verurteilt. Die Anklage lautete auf chuliganstvo, ein vom englischen Wort hooliganism abgeleiteter Begriff, der Anfang des 20. Jahrhunderts ins Russische übernommen wurde. Nach der Oktoberrevolution entwickelte sich daraus ein stark politisch aufgeladener Straftatbestand. Von Russland aus gelangte das Konzept in die Tschechoslowakei (chuligánství) und in die DDR (Rowdytum). Diesen Weg zeichnet Matěj Kotalík in seiner Dissertation nach. Insbesondere für die Jahre 1956 bis 1979 zeigt er auf, wie chuligánství und Rowdytum von staatlicher Seite definiert und bekämpft und wie sie in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurden.

Kotalík bedient sich dabei einer "Kombination vergleichs-, transfer- und alltagsgeschichtlicher Methoden" (34). Die Gegenüberstellung von ČS(S)R und DDR begründet er damit, dass sich die beiden Staatssozialismen in ökonomischer und politischer Hinsicht ähnelten. Die Studie basiert auf deutschen und tschechischen archivalischen Quellen - nicht aber auf slowakischen - sowie auf Zeitungen und (Fach-)Zeitschriften. Ihr Aufbau ist einleuchtend und übersichtlich. Nichtsdestotrotz hätte eine weniger strikte Trennung der Analysen zu den beiden Ländern die Möglichkeit eröffnet, noch durchgängiger und effizienter zu vergleichen. Die mehrfach gezogenen Zwischenfazits bringen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede aber durchaus auf den Punkt.

Als eher unterschiedlich beschreibt Kotalík beispielsweise die Übernahme des russischen chuliganstvo, die in der Tschechoslowakei früher und geradliniger als in der DDR geschah. In der tschechischen Presse gab es Beschreibungen von russischem Hooliganismus schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Später tauchte immer häufiger der tschechische Begriff chuligánství auf, nun auch bezogen auf inländische Missstände. In der SBZ bzw. DDR gestaltete sich die Übernahme des Konzepts schon aus sprachlicher Sicht schwieriger: Chuliganstvo wurde anfangs als Hooligantum übersetzt, bis sich ab ca. 1950 die Entsprechung Rowdytum durchsetzte und zum politischen Kampfbegriff wurde.

In der ČSR wurde der Hooliganismus 1956 zum Straftatbestand. Dieser knüpfte sowohl an Rechtstraditionen aus der k. u. k.-Zeit als auch an das politisierte Konzept aus der Sowjetunion an, insbesondere durch das Tatbestandsmerkmal der "offenen Missachtung der Gesellschaft" (111). Dessen konkrete Auslegung bereitete jedoch Probleme, so dass das Merkmal 1973 aus dem Gesetzestext entfernt wurde. In der DDR wurde das Rowdytum 1968 zum Straftatbestand, wobei auch dort eine Kontinuität zu älteren Aufruhrbestimmungen bestand. Ebenso vorhanden war das Tatbestandsmerkmal der "offenen Missachtung der Gesellschaft", dessen Streichung in den Folgejahren zwar diskutiert, aber nicht realisiert wurde. Insgesamt erkennt Kotalík in beiden Straftatbeständen "Mischformen im Spannungsfeld fremder Vorbilder und einheimischer Traditionen" (166), wenn auch mit einer ungleichen Gewichtung der Komponenten: Sowohl in der DDR als auch in der ČS(S)R stand die "Persistenz des jeweils Eigenen" und "nicht die erfolgreiche Akkulturation des Fremden" im Vordergrund (169).

Als weitere Gemeinsamkeit beschreibt Kotalík die immer stärkere Verwässerung und Stigmatisierung der Konzepte. In beiden Ländern wurde mit Hooliganismus zum Teil bereits ein auffälliger Tanz- oder Kleidungsstil assoziiert. In den 1960er Jahren mehrten sich aber kritische Stimmen auf gesellschaftlicher, wissenschaftlicher und staatlicher Seite. Insbesondere in der ČSSR gab es eine Tendenz "weg von der Moralisierung, hin zur Verwissenschaftlichung" (187), die aber nach dem Prager Frühling wieder an Relevanz verlor. Kotalík erklärt dies in erster Linie mit einer Orientierung an Polen, wo es schon länger eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Hooliganismus gab. Unerwähnt bleibt hingegen, inwieweit der für die allgemeine Reformentwicklung in den 1960er Jahren typische Einfluss technokratischer Ansätze und Expertenkulturen eine Rolle spielte. [1]

Auch bei der Bekämpfung des chuligánství und des Rowdytums erkennt Kotalík Parallelen: In beiden Ländern blieben die Kampagnen weit hinter ihren Zielsetzungen zurück, insbesondere im Hinblick auf die Idee, vorbeugend und unter Beteiligung der Öffentlichkeit zu agieren. In der ČSSR verfolgte man nach dem Prager Frühling zwar einen härteren Kurs, erzielte damit aber keine merklich besseren Ergebnisse. Ebenso wenig erfolgreich war die Volkspolizei in der DDR, die ab Mitte der 1970er Jahre auf eine Abkehr von rein physischer, öffentlich sichtbarer Gewalt setzte, was aber vielfach nicht als bewusster Akt, sondern als Unvermögen oder Feigheit interpretiert wurde.

Kotalík zeigt weiterhin, dass auch die öffentliche Wahrnehmung in beiden Ländern einer ähnlichen Entwicklung folgte. Das staatliche Vorgehen gegen den Hooliganismus wurde zwar durchaus von (Teilen) der Bevölkerung unterstützt, doch geriet dieser Rückhalt ab den 1970er Jahren ins Wanken. Waren eigene Familienmitglieder von Bekämpfungsmaßnahmen betroffen, schreckten selbst systemkonforme Bürgerinnen und Bürger nicht vor negativen Reaktionen zurück - eine Beobachtung, die der Autor als Beleg für eine "wachsende Rückeroberung des Privatraums" wertet.

Mit seiner Studie hat Kotalík seine Zielsetzung, sowohl vergleichs-, transfer- als auch alltagsgeschichtlich zu arbeiten, umgesetzt. Angesichts des Forschungsgegenstands - chuligánství und Rowdytum waren weitestgehend männliche Domänen - wäre es jedoch von Vorteil gewesen, sich zumindest an einigen Stellen stärker auf die Analysekategorie Geschlecht einzulassen. Die Anmerkung, dass Forschungsarbeiten zur Rolle von weiblichen Hooligans wünschenswert wären, erscheint jedenfalls nicht ausreichend. Ebenso wichtig wären andere Fragestellungen, zum Beispiel: Warum traten vor allem Männer als Täter auf? Welche Gruppen von Frauen und Männern wurden zu Opfern? Welche Rolle spielten möglicherweise Misogynie oder Homophobie als Tatmotiv?

Kotalík fördert eine Vielzahl neuer Erkenntnisse zutage - nicht nur zu seinem Forschungsgegenstand, sondern auch in allgemeinerer Hinsicht, zum Beispiel, was den Einfluss der Sowjetunion auf ihre Satellitenstaaten oder was die Bedeutung des Privaten im Spätsozialismus angeht. Erwähnenswert ist auch sein Interpretationsansatz, der nach dem spezifisch Staatssozialistischen im Umgang mit chuligánství und Rowdytum fragt. Insgesamt stellt Kotalík drei Besonderheiten fest: einen "eher legeren[n] oder pragmatische[n] Umgang mit geschriebenen Normen", eine von einer "akklamierenden Rhetorik" und von "inszenierter Homogenität" geprägte mediale Kommunikation sowie einen "nach einem überbordenden Freiwilligentum der Bürger" verlangenden Öffentlichkeitsbegriff (354). Auch für andere Forschungsgegenstände aus der Zeit des Staatssozialismus könnte es anregend sein, sie auf die Existenz dieser Merkmale hin zu untersuchen.


Anmerkung:

[1] Vgl. hierzu beispielsweise die Aufsätze von Vítězslav Sommer und Johannes Gleixner in: Martin Schulze Wessel (ed.): The Prague Spring as a Laboratory, Göttingen 2019.

Eva Schäffler