sehepunkte 20 (2020), Nr. 7/8

Krista Kodres et al. (eds.): A Socialist Realist History?

Der Titel des Buches ist verwirrend: Die Bezeichnung sozialistisch-realistische Geschichte ist ein Neologismus. Das eigentlich sehr interessante Thema bildet sich im Titel nicht ab. Die Thematik des Sammelbandes ist "Die Kunstgeschichte in den sozialistischen Staaten von 1945 bis 1969". Es handelt sich um eine Anthologie von Vorträgen einer Tagung mit dem Titel Art History and Socialism(s) after World War II in Tallinn, Estland, aus dem Jahr 2016. Herausgegeben wurde der Band u. a. von Krista Kodres, die als eine Kennerin der sowjetischen kunstgeschichtlichen Literatur und der östlichen Kunstgeschichte gilt.

Abgesehen von der unklaren Bezeichnung der Anthologie enthält diese eine Reihe guter Einzelstudien über die osteuropäische Kunstgeschichte und ihre Methodologie. Behandelt werden Aspekte der Kunstgeschichte in Estland, in der Tschechoslowakei, in Polen, in der DDR, in der Sowjetunion und in Rumänien. Von großem Wert sind die Literaturangaben einiger zentraler Werke der Kunstgeschichte dieser Länder, die nicht oder nur selten in westlichen Bibliotheken zu finden sind.

Die Kunstgeschichte der 1950er und 1960er Jahre wird also rückblickend analysiert, aus der Perspektive einer Zeit, in der ein ganz anderes ideologisches System vorherrschend ist. Man würde also erwarten, dass eine negative Bewertung der früheren Periode stattfindet und Aspekte besonders betont werden, welche die Ideologie der Gegenwart vorbereitet haben. - Auf den ersten Blick scheint sich diese Vermutung zu bestätigen, denn eine ablehnende Haltung der ideologischen Vorgaben der 1950er und 1960er Jahre ist bei allen Autoren spürbar. Die Grundaussage der Anthologie ist, dass die bürgerliche Kunstgeschichte in den sozialistischen Staaten unter der Oberfläche weiterbestand. Andererseits stellt sich natürlich die Frage, ob dies nicht der damaligen Realität entsprochen hat.

Ein Artikel von Nataliya Zlydneva, der Leiterin des Departments für die Kunstgeschichte der slawischen Völker an der Lomonossow-Universität Moskau, gibt Auskunft über die Methodologie der sowjetischen Kunstgeschichte in den 1950er Jahren (130-142). Man würde vermuten, dass die sowjetische Kunstgeschichte vom Marxismus-Leninismus geprägt war und von daher eine Methodologie entwickelt wurde, die von den anderen sozialistischen Staaten, Polen, Tschechoslowakei und Rumänien, übernommen werden musste. Die Realität war jedoch anders. Man erfährt in dem Artikel von Zlydneva, dass man an diesem zentralen Institut eine Methodologie weiterführte, die ihren Ursprung u. a. in der Wiener Schule (Riegl, Panofsky, Dvořák, usw.) hatte. Diese Behauptung könnte einen gewissen Wahrheitsgehalt haben, denn die deutschen Übersetzungen von Werken der Professoren der Lomonossow-Universität zeigen tatsächlich starke Elemente der bürgerlichen Kunstgeschichte des späten 19. Jahrhunderts. Viele Werke sind nicht frei von einem gewissen Nationalismus. Das kunstgeschichtliche Institut in Moskau konnte sich also an den staatlichen ideologischen Vorgaben der Stalinzeit, salopp ausgedrückt, "vorbeischummeln" und die bürgerliche Traditionslinie bewahren. Es war damit jedoch eine Ausnahme an der Lomonossow-Universität, wie Zlydneva in ihrem Artikel betont. [1]

Wenn man also diesen zentralen Punkt versteht, dass nämlich in der sowjetischen Kunstgeschichte der 1950er Jahre keine spezifische marxistische Methodik verbreitet war, die als ideologische Vorgabe für die anderen sozialistischen Staaten hätte dienen können, hat man einen besseren Zugang zu den anderen Aufsätzen dieser Anthologie. Der Einfluss der Wiener Schule scheint in den meisten slawischen Staaten auch in den 1950er Jahren noch sehr groß gewesen zu sein. Einige Kunsthistoriker haben versucht, selbstständig eine spezifische marxistische Methodologie zu entwickeln, wie etwa Jaromír Neumann und sein Kreis in Prag. Dort wurde eine marxistische Ikonologie entwickelt (100-117). Leider gibt es nur ein Buch in deutscher Übersetzung, in dem diese Betrachtungsweise dargelegt wird. [2] Eine andere Methode war die Anpassung schon vorhandener kunstgeschichtlicher Werke an den Historischen Materialismus: In Rumänien schrieb Grigore Ionescu sein Standardwerk zur rumänischen Architekturgeschichte, das in der 1. Auflage (1937) während der faschistischen Periode herausgekommen war, in der 2. Auflage (1963-65) vollständig um, indem er die geografische Gliederung und die Epocheneinteilung dem Historischen Materialismus anpasste (200-218). [3]

Die einfache Methodik der "Anpassung" erklärt auch, warum man Werke mit einer komplexeren marxistischen Methodologie im Osten nicht verstand, so etwa Florentine Painting von Frederick Antal, das 1954 in einer tschechischen und 1958 in einer deutschen Ausgabe erschien. [4] Die Sichtweise Antals, der das Kunstwerk als das ideologisches Produkt der Klasse sieht, die das Kunstwerk in Auftrag gibt, mit dem die Ideologie der untergeordneten Klassen gesteuert werden soll, ist selbst im Westen nur teilweise verstanden worden. - Von Jaromír Neumann wurde Antals Werk als "vulgär-soziologisch" und als nicht konform mit dem Stalinismus bezeichnet (51-52).

Das Fazit des Sammelbandes ist also, dass ältere Traditionslinien in der Kunstgeschichte in den 1950er und 1960er Jahren unter der Oberfläche weiterbestanden. Es gab allerdings auch neue Ansätze, die teilweise auch auf dem Historischen Materialismus basierten. Leider enthält der Band keinen Abriss zur Kunstgeschichte der DDR, in Ungarn und in Bulgarien, die in den 1950er Jahren möglicherweise stärker marxistisch geprägt waren.

Der rätselhafte Titel der Anthologie "A Socialist Realist History?" kann mit diesem Hintergrundwissen besser erklärt werden: Wie Kodres und Jõekalda im einleitenden Essay über den "sowjetischen Kanon" darlegen (11-35), wurden in den 1950er Jahren als ideologische Vorgabe die verschwommenen Schlagwörter "Marxismus-Lenininsmus " und "Realismus" ausgegeben (so wie dies heute etwa mit dem Begriff "Digitalisierung" der Fall ist). Es ging jedoch kein Impuls einer spezifisch marxistischen Methodik von der Sowjetunion aus. Die Kunsthistoriker der verschiedenen Länder versuchten also ohne genaue Vorgaben die Kunstgeschichte der neuen Ideologie anzupassen, indem sie die Kunst nach den Kriterien "realistisch - nicht realistisch" betrachteten. Diese Gliederung der Kunstgeschichte nach einer Abfolge verschiedener Realismen und Antirealismen hat ihren Ursprung nur zu einem geringen Teil in den Schriften von Marx und Engels. Sie war jedoch in den 1950er Jahren eine gängige Methodik um die ideologischen Vorgaben des Staates zu erfüllen. Aber war dieses "Umschreiben" wirklich eine fundierte Methodologie? Dies erklärt auch das Fragezeichen am Ende des Buchtitels.


Anmerkungen:

[1] Die marxistische kunstgeschichtliche Methodik der 1920er Jahre fällt nicht in den Betrachtungszeitraum dieses Bandes und wird auch nicht erwähnt. Möglicherweise war diese Methode nur in St. Petersburg präsent. Das Verschwinden dieses Ansatzes ab 1934/35 bleibt rätselhaft.

[2] Rudolf Chadraba: Dürers Apokalypse. Eine ikonologische Deutung, Prag 1964.

[3] Grigore Ionescu: Istoria arhitecturii în Romănia, 2 Bde., Bukarest 1963-65.

[4] Frederick Antal: Florentské malířství, Prag 1954.

Rezension über:

Krista Kodres et al. (eds.): A Socialist Realist History? Writing Art History in the Post-War Decades, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2019, 279 S., ISBN 978-3-412-51161-6, EUR 50,00

Rezension von:
Boris Röhrl
Hochschule RheinMain, Wiesbaden
Empfohlene Zitierweise:
Boris Röhrl: Rezension von: Krista Kodres et al. (eds.): A Socialist Realist History? Writing Art History in the Post-War Decades, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 7/8 [15.07.2020], URL: https://www.sehepunkte.de/2020/07/34557.html


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