Rezension über:

David Rousset: Das KZ-Universum, Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2020, 141 S., ISBN 978-3-633-54302-1 , EUR 22,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Nina Rabuza
München / Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Nina Rabuza: Rezension von: David Rousset: Das KZ-Universum, Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2020, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 9 [15.09.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/09/34472.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

David Rousset: Das KZ-Universum

Textgröße: A A A

Mehr als 70 Jahre nach der französischen Erstausgabe erscheint David Roussets "L'Univers Concentrationnaire" in deutscher Übersetzung. Das Buch zählt zu den frühen Veröffentlichungen über die Konzentrationslager wie Eugen Kogons "Der SS-Staat" [1] oder Robert Antelmes "L'Espèce humaine". [2] In Frankreich gilt es schon lange als Standardwerk.

Rousset verknüpft in seinem Werk die autobiografische Erzählung mit der Analyse des Konzentrationslagersystems. Er beschreibt zum einen Szenen seiner Haftzeit in den Lagern Buchenwald, Neuengamme, Porta-Westfalica, Helmstedt und Wöbbelin. Dabei schildert er konkrete Ereignisse wie seine Einlieferung in Neuengamme und porträtiert seine Mitgefangenen. Im Mittelpunkt stehen seine französischen Leidensgenossen wie der Sozialist Pierre Martin und der Schriftsteller Benjamin Crémieux, der in Buchenwald starb.

Zum anderen analysiert Rousset das Konzentrationslager als Herrschaftssystem der SS. Dafür prägt er den Begriff KZ-Universum. Sein Zweck sei die "physische[...] Vernichtung" (61) der Gefangenen. Jedoch genügt es der SS nicht, so Rousset, dass die Gefangenen sterben. Das Individuum soll im Lager zerstört werden durch Folter, Isolation und entwürdigende Lebensbedingungen. Der Gefangene sei für die SS "ein Ausdruck des Bösen, kein Mensch" (62). Rousset unterscheidet zwischen der Verfolgung politischer Gegner und der Verfolgung "von Geburt an" (62). Diese träfe Polen, Juden und Russen (61).

Rousset beschreibt ein Spektrum verschiedener Lager, das von Konzentrationslagern wie Dachau oder Buchenwald bis hin zum Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau reicht. Er unterscheidet ihre Funktionsweise anhand von Metaphern, die er aus dem Städtebau entlehnt: Buchenwald sei eine "chaotische Siedlung" (28), Neuengamme eine "reine Industriestadt" (28) und Birkenau "die größte Stadt des Todes" (31). Das Ziel sei in allen Konzentrationslagern gleich: die Vernichtung der Gefangenen, ob durch den industriellen Massenmord oder durch die Arbeitsbedingungen (31).

Im KZ-Universum herrschen eigene Gesetze. Rousset beschreibt, wie die SS die Verwaltung in den Konzentrationslagern organisiert. Sie verteilt Aufgaben unter den Häftlingen, wie die Aufsicht in den Baracken. Dadurch schafft die SS eine interne Führungsriege, die einerseits mit Macht und Privilegien ausgestattet ist. Andererseits muss auch diese "Häftlingsaristokratie" (60) stets um ihr Leben fürchten, da sie nicht vor dem Terror der SS sicher ist. Jeder Gefangene kämpft im KZ-Universum um sein Leben. "Gewalt und Hinterlist" (39) bestimmen die Beziehungen unter den Gefangenen und erschweren den kollektiven Widerstand gegen die SS.

Jeder Gefangene leidet unter den Gesetzen des KZ-Universums, egal woher er stammt oder welche Überzeugung er vor der Internierung hatte. Die Menschen werden zu "KZ-Menschen" (14). Mit diesem Begriff, analog zum Begriff KZ-Universum, versucht Rousset zu fassen, wie die Gefangenen im Lager ihrer Persönlichkeit beraubt und zu Hüllen ihrer selbst erniedrigt werden: "Im KZ löst der Mensch sich Stück für Stück auf" (41).

Die Überlebenden kehren gezeichnet aus den Lagern zurück: "Sie sind von den anderen Menschen durch eine Erfahrung getrennt, die sich nicht vermitteln lässt" (100). Rousset versucht dennoch darzustellen, was die "KZ-Menschen" durchleben mussten. Dafür löst er die Form der autobiografischen Erzählung auf. Seine Darstellung folgt nur einer losen Chronologie. Sie wechselt abrupt zwischen den Orten der Erzählung. Manche Sätze sind unvollständig, beinahe abgehackt. Begriffe aus der Sprache des Konzentrationslagers wie "Block", "Stube" oder die Bezeichnungen der SS-Ränge behält er auf Deutsch bei. In der deutschen Übersetzung sind diese Begriffe kursiv gesetzt, um die sprachliche Besonderheit sichtbar zu machen. Zudem nutzt Rousset Zitate aus der Literatur. Er bezieht sich mehrfach auf "König Ubu" aus dem gleichnamigen Schauspiel von Alfred Jarry und auf die literarischen Welten Franz Kafkas. Dadurch verdeutlicht er, dass die absurde Gewalt der Fiktion in den Konzentrationslagern real wurde.

Den Übersetzern Olga Radetzky und Volker Weichsel ist es auf eindrückliche Weise gelungen, die komplexe sprachliche Form des Werks ins Deutsche zu übertragen. Roussets Wortneuschöpfung "concentrationnaire" übersetzen sie durch die adjektivische Verwendung der Abkürzung "KZ-" für Konzentrationslager. Damit knüpfen sie an Begriffe aus der deutschen Lagersprache an, wie beispielsweise "KZler". Zudem ergänzen sie den Text durch sprachliche und historische Anmerkungen. Der Herausgeber Jeremy Adler kommentiert das Werk und ordnet es in einem ausführlichen Nachwort in den zeithistorischen Kontext ein.

Nach mehr als 70 Jahren Forschungsgeschichte zu den Konzentrationslagern trägt die Übersetzung von Roussets "KZ-Universum" wenig Neues zur Forschung bei. Einige seiner Thesen sind überholt, wie die Annahme, Konzentrations- und Vernichtungslager unterschieden sich nur graduell. Zudem fehlen Rousset die Begriffe, um die rassistische und antisemitische Verfolgung durch die Nationalsozialisten präzise zu bestimmen. Das zeigt sich zum Beispiel, wenn er schreibt, dass Juden, Polen und Russen gleichermaßen "von Geburt an" (62) durch die SS verfolgt seien.

Allerdings wäre die Forderung nach etwas Neuem verfehlt bei einem Buch, das wenige Monate nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes verfasst wurde. Das "KZ-Universum" gewinnt seine Bedeutung als Zeitdokument. An ihm lässt sich die frühe Darstellung und Rezeption der Lager untersuchen, sowohl in Frankreich als auch darüber hinaus. So bezog sich beispielsweise Hannah Arendt in ihrer Analyse des Konzentrationslagers auf Rousset. Der Autor und politische Aktivist Rousset ist außerdem eine bedeutende Person der französischen Zeitgeschichte. Mit seinen Veröffentlichungen über den Gulag verursachte Rousset in den 1950er Jahren einen Skandal innerhalb der Kommunistischen Partei Frankreichs, wie Jeremy Adler in seinem Nachwort darlegt.

Das "KZ-Universum" ist aber auch über den wissenschaftlichen Kontext hinaus interessant. Roussets eindrückliche Beschreibungen eröffnen Leserinnen und Lesern einen präzisen Blick in das Innere der Konzentrationslager. Das Buch ist dadurch auch noch heute ein großer Gewinn für die deutschsprachigen Leserinnen und Leser.


Anmerkungen:

[1] Eugen Kogon: Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, München 2006.

[2] Robert Antelme: L'Espèce humaine, Paris 2009.

Nina Rabuza