Rezension über:

Marina Mestre Zaragozá: L'Espagne de Charles II, une modernité paradoxale. 1665-1700 (= Constitution de la modernité; 18), Paris: Classiques Garnier 2019, 293 S., 6 Tbl., ISBN 978-2-406-09373-2, EUR 36,00
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Rezension von:
Horst Pietschmann
Universität Hamburg
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Horst Pietschmann: Rezension von: Marina Mestre Zaragozá: L'Espagne de Charles II, une modernité paradoxale. 1665-1700, Paris: Classiques Garnier 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 11 [15.11.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/11/33681.html


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Marina Mestre Zaragozá: L'Espagne de Charles II, une modernité paradoxale

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Der aus einem Projekt der Agence Nationale de la Recherche (ANR) an der Universität Lyon stammende Band mit dem Obertitel "Investissements d'avenir" und seinem provozierenden Untertitel ist der spanischen Monarchie im Zeitalter des letzten Herrschers aus dem Hause Habsburg gewidmet. 'Provozierend' deshalb, da gleich zu Beginn der Einleitung mit Gregorio Marañón der Historiker zitiert wird, der weithin das lange Zeit dominierende Urteil über Karl II. formulierte: "von den fünf Austrias inspirierte Karl V. Enthusiasmus, Philipp II. Respekt, Philipp III. Indifferenz, Philipp IV. Sympathie, Karl II. Mitleid" [1]. Karl II. war also ein schwacher, vielfach kranker und kinderloser Herrscher, dessen bedeutendste Leistung - für viele Spanier auch sein größter Fehler - es war, ein Testament zu unterzeichnen, das den Bourbonen Philipp zum Alleinerben seines Reiches einsetzte und Europa in den Spanischen Erbfolgekrieg verwickelte. Dieses Urteil einer kritischen Revision durch die aktuelle, sich mit Karl II. befassende Historiographie zu unterziehen, ist der in der Einleitung formulierte Anspruch des Bandes. Dem suchen zwei französische und sieben spanische Historiker und Historikerinnen in dem Band, der aus einem Pflichtprogramm für Doktoranden der Hispanistik (Agrégation) hervorging, nachzukommen. Ungeachtet des Titels sind nur die Obertitel der vier Kapitel und zwei Beiträge auf Französisch und sieben in spanischer Sprache verfasst.

Der Einleitung der Koordinatorin folgt ein erster Hauptteil zur 'Regierung der spanischen Monarchie', den Jean-Pierre Dedieu, CNRS Toulouse, mit seinem 'Der Schwanengesang des Imperiums und der Schwanengesang der Größe' überschriebenen Beitrag eröffnet, der Stoff für ein ganzes Buch enthält. Unter Betonung der imperialen Dimension dieser Monarchie verfolgt der Verfasser mithilfe von Bibliographie und (s)einer umfangreichen Datenbank zum Verwaltungspersonal die Strategie der Krone bei der Auswahl des Führungspersonals - Regenten, Vizekönige, Gouverneure, etc. für die einzelnen Teilreiche -, dessen jeweilige Stellung im Adel, bzw. innerhalb der Adelsfamilien, Regierungserfahrung, Statuserhöhungen durch königliche Titelvergabe, die Nähe zur Herrscherfamilie und Nobilitierungen etc. Er konstatiert dabei die Schwächung der traditionellen Eliten der Monarchie, oft der von Karl V. eingeführten Grandeza angehörig, aus der Zeit von Spaniens Aufstieg, durch Aussterben bzw. Vererbung an Seitenlinien. Karl II. suchte dem durch die Vergabe vieler neuer Titel gegenzusteuern. Antonio Alvarez-Ossorio verfolgt unter dem Titel "(Spiel-) Raum des Günstlings" die Rolle, die Fernando de Valenzuela als Verwalter der königlichen Hofhaltungen in der Zeit der Regentschaft von Mariana de Austria für den minderjährigen Sohn spielte. Die Innenansicht höfischen Lebens und des Aufstiegs einer Person bescheidener Herkunft ist interessant für die zeitgenössischen Umbrüche, bedeutender aber sind die Umstände von Valenzuelas Ende durch das Eingreifen des illegitimen Sohnes Philipps IV. von der Peripherie her. Héloise Hermant, Université Côte d'Azur, untersucht dies in ihrem auf Bibliographie und zeitgenössischen Drucken basierenden Beitrag "Loi du sang et essentialisation du lien social. Le retour des Grands sur la scène politique dans la monarchie de Charles II". Um Juan José de Austria gruppiert sich eine Opposition, artikuliert sich schriftlich, bis dieser gegen die Regentin eingreift, den Emporkömmling stürzt und Nachkommen der alten Eliten erneut zu Einfluss verhilft, selbst aber zu früh stirbt, um längerfristig Einfluss auszuüben. Die Diskussion der konkurrierenden Werteordnungen bildet ein wesentliches Element des den ersten Teil beschließenden Beitrags.

Den 2. Teil eröffnet Manuel Herrero Sánchez, Universidad Pablo de Olavide / Sevilla, mit einer Untersuchung über 'die Niederlande innerhalb der spanischen imperialen Struktur während der Regierungszeit Karls II', die aus einem von der Europäischen Union finanzierten Forschungsprojekt resultiert. Nach einer knappen aber treffenden Charakteristik der neueren Forschungen - angesichts der schon länger mit der Revision der Regierungszeit des letzten Habsburgers befassten Historiographie sehr zu Recht - verfolgt der Verfasser die Ursachen der stabilen Rolle der Niederlande im spanischen Herrschaftssystem. Nach Dedieu meist von Verwandten des Herrscherhauses regiert, profitierte die sehr dynamische Region trotz zahlreicher Gebietsverluste vom hohen Grad politischer Autonomie, dem Schutz überkommener Privilegien und sozialer Stabilität. Danach verfolgt Luis Ribot, Real Academia de la Historia, Madrid, das lange dominierende Konzept der "Dekadenz Spanien" in Bezug auf die Person Karls II., auf sein politisches Führungspersonal und die Armee gegen Ende des 17. Jahrhunderts und betont im Vergleich zu dem Bourbonen Philipp V., wie übertrieben diese Vorstellung von Dekadenz in der älteren Historiographie war.

Teil 3 des Bandes befasst sich mit dem Denken und der Kultur. Eröffnet wird er von Harald Ernst Braun, Universität Liverpool, mit einer Übersicht, die die Modernität des politischen Denkens im Spanien des 17. Jh. vor Augen führt, ein Unternehmen, dem sich schon lange zuvor der Franzose Pierre Vilar gewidmet hatte. Aktueller wirkt der Beitrag von Carmen Sanz Ayán über die Einschätzung des neuen, auf Karl II. zurückgehenden Titularadels anhand schriftlicher Widmungen.

Den abschließenden 4. Teil bestreiten Michel Bertrand, Direktor der Casa de Velázquez, des französischen Forschungszentrums in Madrid, und Jesús Pérez-Magallón, McGill University. Nach einigen einleitenden Bemerkungen zu Außenansichten auf Spanien aus der Feder von Klassikern wie de Bry und Montaigne wendet sich Bertrand dem Pater Labat und dessen kritischer Haltung zu Spanien und seiner Sicht auf Cádiz zu. Labat, ein französischer Dominikaner, kam in Diensten seines Ordens weit in der Welt herum und berichtete ausführlich über seine Reisen. Pérez Magallón, McGill University, beschließt den Band mit 'Optimistischer oder pessimistischer Blick? Eine metahistoriographische Reflexion' durch eine Übersicht über die wechselnden Ansichten spanischer und ausländischer Historiker zur Entwicklung des Landes zur Zeit Karls II. Auch dies ist eine Thematik mit vielen Vorgängern, von denen zu Recht der Engländer Henry Kamen als derjenige bezeichnet wird, mit dessen 1980 erschienenem Buch zur Epoche Karls II. der historische Revisionismus einsetzte.

Das Namensregister, kurze Zusammenfassungen der einzelnen Beiträge und das Inhaltsverzeichnis beschließen ein Buch, das die Frage der "paradoxen Modernität" weder zusammenhängend bilanziert noch wichtige Aspekte derselben untersucht. So fehlt im Themenkanon z.B. die Veröffentlichung der umfangreichen "Recopilación de las Leyes de Indias" im Jahr 1680, ein Rechtskodex für die überseeischen Gebiete, der diesen den Rechtsstatus eigener Königreiche verlieh und damit der Dynastie der Bourbonen im 18. Jahrhundert manche Probleme verursachte. Ebenso fehlt ein Blick auf die Versuche zur Reform des Steuersystems in den 1690er Jahren. Immerhin vermitteln die ausführlichen bibliographischen Verzeichnisse am Ende der einzelnen Beiträge weiterführende Einsichten in die Problematik.


Anmerkung:

[1] Gregorio Marañón: El Conde-duque de Olivares, 4. Aufl., Madrid 1959, 232.

Horst Pietschmann