sehepunkte 21 (2021), Nr. 3

Friederike Heinze / Martina Rebmann / Nancy Tanneberger (Hgg.): Die Beethoven-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin

Nur wenige Orte in Deutschland können von sich behaupten, über Schätze dieser Art verfügen zu dürfen: Die neben der Sammlung des Beethoven-Hauses in Bonn für die musikwissenschaftliche Forschung weltweit wichtigste Sammlung an Musikautographen Ludwig van Beethovens gehört zu den Beständen der Staatsbibliothek zu Berlin. Aus Anlass des 250. Geburtstags des Komponisten hatte die Staatsbibliothek ihre Tresore geöffnet - jedenfalls für einen durch die Pandemie begrenzten Zeitraum: Unter dem Titel »Diesen Kuß der ganzen Welt! « fand für wenige Tage vom 11. März 2020 an und schließlich vom 25. Juni bis 24. Juli 2020 eine Ausstellung von den bedeutendsten Beethoven-Autographen der Staatsbibliothek wie der 9. Sinfonie, von Material zum Fidelio und zur Missa solemnis statt. Gezeigt wurden außerdem Originalbriefe und Beethovens Konversationshefte - als erste Präsentation der Beethoven-Sammlung der Berliner Staatsbibliothek seit der Wiedervereinigung und als Pendant zur vom Beethoven-Haus und der Bundeskunsthalle Bonn koordinierten Ausstellung »Beethoven. Welt. Bürger. Musik «. [1]

Bereits im Vorfeld der Ausstellung wurde im Rahmen des Erschließungs- und Digitalisierungsprojekts »Seid umschlungen, Millionen - Die Beethoven-Sammlungen der SBB« der Bestand an Beethoven-Originalen im Internet zur Verfügung gestellt [2]; dieses Projekt hat die aktuelle Beethoven-Forschung erheblich bereichert, weil jetzt alle Quellen online recherchierbar sind und alle musikalischen und biographischen Dokumente digitalisiert wurden. Der hier zu besprechende Band ist als Begleitband, nicht als Katalog konzipiert und widmet sich entsprechend der Entstehungsgeschichte der Berliner Sammlung; vor allem kontextualisiert er die Beethoven-Bestände unter den unterschiedlichsten Aspekten wie der Werkgenese, der Korrespondenz Beethovens und der Rezeption seiner Musik. So ergeben sich die Themen des Bands aus der täglichen Arbeit mit den Beethoven-Beständen, ergänzt durch Beiträge externer Autor*innen, die sich ihrerseits mit dieser Sammlung auseinandersetzen.

Der erste Block der Beiträge »Sammlung und Edition« ist der Sammlungsgeschichte gewidmet: Einen Überblick gibt Martina Rebmann in ihrem Beitrag » ›An einem würdigen öffentlichen Orte deponirt u Jedermann zugänglich...‹. Zur Geschichte der Beethoven-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin« (12-21) und zeichnet diese nach, angefangen mit der Erwerbung des ersten Berliner Beethoven-Autographs - dem ›Kyrie‹ aus der Missa solemnis op. 123 - für die Königliche Bibliothek 1841. Der Beitrag Roland Dieter Schmidt-Hensels zur »Paul und Ernst von Mendelssohn-Bartholdy'schen Stiftung« (22-33) beleuchtet eine entscheidende Basis der Berliner Beethoven-Sammlung. Mit dem Beitrag Jonathan Del Mars (34-41) werden die beiden historiographisch orientierten Texte um die sehr persönliche Sicht eines Musikwissenschaftlers ergänzt - und einer spannenden Erzählung dazu, denn Del Mar berichtet unter anderem über die teils abenteuerlichen Umstände der Bibliotheksarbeit in der DDR. Das Kapitel von Dagmar Beck und Grita Herre schließlich (»Von Wien nach Berlin. Der Weg der Konversationshefte Ludwig van Beethovens in den Tresor der Staatsbibliothek zu Berlin«, 42-47) ist eine andere Erzählung - nämlich eine spannende Räuberpistole eigener Art, gipfelnd in einem der spektakulärsten Diebstähle des mittleren 20. Jahrhunderts: 1951 floh der Direktor der Musikabteilung der (Ost-)Berliner Staatsbibliothek als mutmaßlicher Agent der (»Organisation Gehlen« mit sämtlichen Konversationsheften Beethovens nach Westberlin.

Der zweite große Block des Bands, (»Schaffensprozess & Werkentstehung« überschrieben, setzt das Schaffen Beethovens in einen Kontext mit den in Berlin aufbewahrten Dokumenten. Die Kapitel sind sowohl den großen Beiträgen des Repertoires gewidmet - wie der Missa solemnis in einem Text von Alan Dergal Rautenberg (56-65), den Klavierkonzerten, zu deren Skizzen »Zwischen Improvisation und Kadenzverbot« (66-73) Julia Neumann zu sehr spannenden Erkenntnissen kommt, oder den späten Streichquartetten in einem Beitrag von Roberto Scoccimaro (74-81), der gleich auch eine instruktive Typologie der Skizzen Beethovens liefert - als auch dem eher randständigen Repertoire. So stellt Friederike Heinze in ihrer kleinen Studie » ›Horch auf, mein Liebchen, ich bin der Gugu‹. Beethovens Volksliedbearbeitungen« (50-55) die Bearbeitungen von Melodien George Thomsons vor. Abschließend erörtert Clemens Brenneis in einer Studie zu den Skizzenkonvoluten Landsberg 10 und Artaria 213 (1) (82-88) die Genese des Klavierkonzerts G-Dur op. 58, des Tripelkonzerts op. 56 und der Ballettmusik Die Geschöpfe des Prometheus op. 43 anhand zweier bedeutender Konvolute aus den Jahren 1807-1825.

Der Teil »Rezeption und Wirkung« wird nachvollziehbar und prägnant eingeleitet von Nancy Tanneberger (» ›Diesen Kuß der ganzen Welt! ‹ Beethovens 9. Sinfonie und ihre weltweite Verbreitung«, 92-105), die sich dem Phänomen der kulturellen Aneignung auf mehreren Ebenen der Rezeption widmet; so erörtert sie auch die asiatische Erstaufführungsgeschichte - die 9. Sinfonie, gespielt 1918 von deutschen Kriegsgefangenen im japanischen Naruto (97-99) bis hin zur Genese des aufsehenerregenden Films Kinshasa Symphony (2010). Weitere Beiträge gehen weit zurück in die Geschichte, so Jean Christophe Geros Beitrag zu E.T.A. Hoffmanns berühmter Rezension der 5. Sinfonie (106-117) oder Marina Schieke-Gordienkos Studie zum wohl berühmtesten Klavierstück der Welt aus Anlass eines besonderen Jubiläums (»Mythos.Elise oder Elise.Ein Mythos? 150 Jahre Erstveröffentlichung des Klavierstücks Für Elise«, 118-129). Dörte Schmidt wiederum (» ›Ein lebhaftes, auch das Detail erfassendes Interesse‹. Blicke auf Beethovens einzige Oper Fidelio zwischen Staunen und Neugier«, 130-145) schafft in ihrem Beitrag so unspektakulär wie zwingend und überaus erfrischend den Hiatus von der Fidelio-Rezeption über Die Regimentstochter hin zu einer bemerkenswerten (gleichnamigen) Installation der Künstlerin Tacita Deans, die 36 gefundene Opern- und Theaterprogramme - säuberlich von Hakenkreuz-Symbolen befreit, die jemand herausgeschnitten hatte - miteinander kombiniert.

Mit Roswitha Klaibers Studie »Ludwig van Beethoven. Variationen seiner Handschrift. Ausgewählte Schriftbilder. Eine schriftpsychologische Betrachtung« (148-157) wird das Kapitel »Handschrift & Briefe« eingeleitet - und damit mit einem wichtigen Beitrag zu einem Problem, das Musikforscher*innen seit nunmehr vielen Jahrzehnten vor besondere Herausforderungen stellt. Ob es sinnvoll oder nötig ist, über die Lage der i-Punkte zu einem Urteil über die geistige Verfasstheit des Komponisten zu gelangen (149-151), sei allerdings hier dahingestellt. Julia Ronge (»Je wichtiger der Adressat, desto schöner die Verpackung. Späte Briefpost, Verlegerbriefe, Geschäftsbriefe«, 158-163) widmet sich in angenehmer Nüchternheit den kleinen Äußerlichkeiten von Beethovens Konversation - aber auch der besonderen Ausdrucksweise des Komponisten in den Briefen an seine Freunde. Klaus Martin Kopitz nimmt sich eines der schönsten Beethoven-Autographe der Berliner Sammlung, nämlich des Briefs an die »Unsterbliche Geliebte« an (164-171) - und stützt einmal mehr die These, die Adressatin des Briefs sei die gebürtige Wienerin Antonie von Brentano. [3]

Ein letztes Kapitel »Beethoven und Weber« nimmt das Binnenverhältnis Beethovens zu einem zeitgenössischen Komponisten mit engen Beziehungen zu Berlin in den Blick: Frank Ziegler erörtert die Beethoven-Rezeption bei Carl Maria von Weber (174-181), Solveig Schreiter portraitiert unter anderem aufgrund von sehr interessanten Auszügen aus dem Tagebuch des Komponisten »Carl Maria von Weber als Beethoven-Interpret« (182-187).

Als besonderes Highlight beinhaltet der Band eine spektakuläre Graphic Novel. Dieses Genre beherrscht ja immer stärker die Zugänge zur sogenannten »Hochkultur« - als vermeintlich niederschwelliges Angebot gerade für Jüngere, oft genug aber mit gehörigem Tiefgang und spannungsgeladener Atmosphäre. Der Berliner Künstler Mikael Ross wurde von der Staatsbibliothek beauftragt, diese Lücke zu füllen - was ihm mit der Graphic Novel Die neue Musik in brillanter Weise gelungen ist: Zu hoffen ist eine Fortsetzung mindestens im Albumformat, denn es ist genau diese ausdrucksstarke, expressive Art des Erzählens, über die junge Menschen in Kontakt mit Beethoven treten können. Ross erzählt einen Tag im Leben des jungen Bonner Komponisten, basierend auf Gottfried Fischers Aufzeichnungen aus Beethovens Jugend.

Der insgesamt sehr gut aufgemachte und mit zum Teil hervorragenden Fotografien üppig illustrierte Band bietet so eine vertiefende Lektüre zu einer Ausstellung zu Ludwig van Beethoven an, die in der Pandemie deutlich weniger wahrnehmbar war, als deren Kurator*innen es sich haben vorstellen können; aber auch jenseits dieser Einschränkung ist der Band unbedingt von bleibendem Wert.


Anmerkungen:

[1] Vgl. die digitalisierte Ausstellung unter https://www.bundeskunsthalle.de/beethoven.html [Abruf: 2. November 2020].

[2] Vgl. https://staatsbibliothek-berlin.de/die-staatsbibliothek/abteilungen/musik/projekte/seid-umschlungen-millionen-die-beethoven-sammlung-der-sbb-tiefenerforschung-digitalisierung-und-praesentation-in-den-digitalisierten-sammlungen-der-sbb-und-in-europeana/ [Abruf: 2. November 2020].

[3] Vgl. Maynard Solomon: Beethoven, New York 21998, 207-246.

Rezension über:

Friederike Heinze / Martina Rebmann / Nancy Tanneberger (Hgg.): Die Beethoven-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin. "Diesen Kuß der ganzen Welt!" (= Staatsbibliothek zu Berlin. Ausstellungskataloge. N.F.; 62), Petersberg: Michael Imhof Verlag 2020, 208 S., ISBN 978-3-7319-0914-9, EUR 29,95

Rezension von:
Birger Petersen
Mainz
Empfohlene Zitierweise:
Birger Petersen: Rezension von: Friederike Heinze / Martina Rebmann / Nancy Tanneberger (Hgg.): Die Beethoven-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin. "Diesen Kuß der ganzen Welt!", Petersberg: Michael Imhof Verlag 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 3 [15.03.2021], URL: https://www.sehepunkte.de/2021/03/34404.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.