Rezension über:

Sabrina Schmitz-Zerres: Die Zukunft erzählen. Inhalte und Entstehungsprozesse von Zukunftsnarrationen in Geschichtsbüchern von 1950 bis 1995 (= Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik; Bd. 18), Göttingen: V&R unipress 2019, 522 S., 1 s/w-Abb., ISBN 978-3-8471-0988-4, EUR 70,00
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Rezension von:
Wolfgang Jacobmeyer
Institut für Didaktik der Geschichte, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Redaktionelle Betreuung:
Christian Kuchler
Empfohlene Zitierweise:
Wolfgang Jacobmeyer: Rezension von: Sabrina Schmitz-Zerres: Die Zukunft erzählen. Inhalte und Entstehungsprozesse von Zukunftsnarrationen in Geschichtsbüchern von 1950 bis 1995, Göttingen: V&R unipress 2019, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 4 [15.04.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/04/33364.html


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Sabrina Schmitz-Zerres: Die Zukunft erzählen

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Die Verfasserin der durch Markus Bernhardt und Amalie Fößel betreuten Dissertation war Kollegiatin des DFG-Graduiertenkollegs "Vorsorge, Voraussicht, Vorhersage" der Universität Duisburg-Essen. Untersucht werden 224 (nicht wie passim 223) Lehrbücher des Fachs Geschichte für die für den Geschichtsunterricht zentrale, schulformübergreifende Phase der Sekundarstufe I, die in der Bundesrepublik zwischen 1950 und 1999 (nicht 1995 wie im Titel) erschienen sind (aufgelistet 494-502), ferner acht Lehrbücher der DDR (505), die separat, aber mit analoger Methodik analysiert werden (331-448). Das Corpus wird als chronologisches Register mit thematischen Hinweisen auf Zukunftsthemen vorgestellt (25-57), in einer die Diskurse resümierenden Graphik (451) und bibliographisch (494-505). Die Epochengrenzen 1950 und 2000 sind politisch (Bundesrepublik Deutschland) beziehungsweise pädagogisch (PISA-Studie) besetzt und dadurch plausibel begründet. Darüber hinaus wurden für die Genese von Zukunftsnarrationen und ihre Passage in den zugelassenen Lehrbüchern ausgedehnte Archivbestände eruiert und ausgewertet - Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (Berlin), Ministerialakten mehrerer Bundesländer, Verlagsbestände, private Überlieferungen. Hinzu treten 17 leitfadengestützte Interviews mit SchulbuchproduzentInnen, die die Genese von Narrativen zusätzlich erhellen (481-494). Und endlich löst auch die stupende Literaturkenntnis zur Schulbuchforschung (507-522) den hohen Anspruch von Vollständigkeit ein. Die Materialdichte und die bemerkenswerte Forschungstiefe weisen der Untersuchung eine Sonderstellung in der Literatur zu. Ungewöhnlich komplex angelegt und präzise gehandhabt ist auch die methodische Kontrolle der Inhaltsanalyse, für die Zeitebenen ausgewertet und sprachliche Zugriffe gewählt werden (59-73).

Sabrina Schmitz-Zerres untersucht mit der Frage nach Zukunftsnarrationen ein Merkmal der "Gattungslogik" (473) von Geschichtslehrbüchern. Diesen glücklich gewählten und gut begründeten Begriff am Ende der stringent geführten Untersuchung wird die Schulbuchforschung sich merken müssen. Es geht um "zeitgenössische Zukunftsbeschreibungen" (58) im Geschichtslehrbuch, jenseits von dessen eigentlicher Funktion, gleichsam ein 'donum super additum' der LehrbuchautorInnen. Die Untersuchung unterscheidet zwei Ebenen. Auf der ersten Ebene wird die Frage geklärt, wie Zukunftsnarrationen inhaltlich gestaltet sind, welche Rolle sie im Lehrbuch spielen und an welche Themen sie sich konkret anheften (73-174). Auf einer zweiten Ebene wird der Entstehungsprozess von Geschichtslehrbüchern analysiert: die Genese dieser besonderen Form der Narration, ihre Passage durch die Korrektur- und Zulassungsverfahren und die Veröffentlichung im Lehrbuch (175-330). Thematisch reichen die Narrative von der Warnung vor der Eskalation von Konflikten (einschließlich der Konstruktion fiktiver Bedrohungsszenarien) bis hin zu Handlungsanweisungen. Funktional werden damit Basisnarrative freigelegt, angeboten und in der schulischen Praxis eingeübt. Diese wirken auf das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft ein, was durch ihre Verwendung in der schulischen Geschichtsvermittlung auch intendiert ist. Es handelt sich bei diesen Narrativen um Deutungen, die die Offenheit von Zukunft reduzieren und ein Geschichtsbild von Kontinuität vermitteln.

Neun Themenkomplexe werden als Kerne von Zukunftsnarrationen ermittelt (73-174): "Atomkraft" (globale Kriegswaffe, Zukunftstechnologie, Ambivalenz von Bedrohung und Nutzen), "Kalter Krieg" (Bedrohung, Deutsche Frage), "Dekolonisierung" (Länderperspektiven, finanzierte Friedenssicherung, Rekurs auf den Kalten Krieg), "Europa" (Friedenswahrung, Schutz europäischer Kultur, von wirtschaftlicher Union zur politischen Juxtaposition zu den Großmächten, 'antemurale' gegen die Sowjetunion, deutsche Vereinigung), "Kriegsfolgen für Deutschland" ("tapfere Deutsche", Zielperspektive Wiedervereinigung, Zukunft als Aufgabe), "Wiedervereinigung" (deutsche Gemeinsamkeiten, Abhängigkeiten von USA und Sowjetunion, europäische Aufgabe), "Nahostkonflikt" (Deutungsleere, drohende Eskalation, Stellvertreterkrieg, Rohöl), "Umwelt", sowie "Zukunft als Aufgabe" (Gestaltung, Weltfriede, Fortschritt). Die Zukunftserzählungen dieser Themen sind narrativ oder appellativ; dem entspricht das komplexe Methodendesign. Sie verweben als Praxis jüngste Vergangenheit und Gegenwart zu einem Zukunftsbereich (172-173). Sie sprechen die SchülerInnen direkt an und betrauen sie mit der Lösung der erzählten Probleme, ausgenommen solche Probleme, die nur staatspolitisch lösbar sind.

Im zweiten Teil (175-329) wird die Produktion solcher Narrationen und ihre Passage durch die staatliche Lehrbuchzulassung untersucht. Dabei wird deutlich, wie komplex das Zusammenwirken diverser Interessen ist. Die Verfasserin hat ein zutreffendes Urteil über die bei aller Mühe fragmentarisch bleibende Überlieferung der Textproduktion, kann sich allerdings wegen der ministeriellen Akten zuversichtlicher über die staatliche Zulassung äußern. In dieser Konfliktarena politischer und pädagogischer Anforderungen und wirtschaftlicher Interessen war allen Beteiligten das Regelwerk bekannt. Die ministeriellen Entscheidungen stützten sich zwar auf Gutachten, die aber das Ministerium nicht banden. Daher musste ein Kompromiss erreicht werden (263-278), für den die Verfasserin sehr unterschiedliche Modi nachweist. Aber ihr Interesse verharrt im Agonalen, konzentriert sich vornehmlich auf das Verfahren, nicht auf die strittigen Inhalte. Die Diskursivität erhöht sich in dem produktiven Kapitel, in dem 175 externe Gutachten mit den Lehrplanvorgaben konfrontiert werden, wobei die Prüfung von Zukunftsnarrationen oft in Zustimmung und Lob, in Ausnahmefällen in Kritik und Ablehnung oder überwiegend in Schweigen mündete (178-325). Hier ist auch der systematische Ort, an dem die Untersuchung die Ministerialreferenten als eine besondere Gruppe mit Entscheidungskompetenz erfasst, nicht zuletzt den gestaltungsfreudigen Referenten in Düsseldorf. Die Differenzierung und systematische Vernetzung aller Akteure ist eine heuristische Leistung, die der geschichtsdidaktischen Schulbuchforschung wichtige neue Wege ebnet.

Im letzten Kapitel (331-448) werden die Zukunftsnarrationen in den DDR-Lehrbüchern 1945-1989 untersucht. Die Lehrbücher werden zutreffend als "Produkte politischen Handelns" (441) eingeordnet, und aus ideologischen Gründen ist Zukunft in ihnen nicht kontingent, sondern determiniert. Die Untersuchung ist sehr lohnend, weil strukturell und operativ aufwendige Kontrollpraktiken sichtbar werden. Vor allem konnte die stetige Sorge auf Gutachter-Seite erhoben werden, dass der Text des Lehrbuchs den Weg zur Zukunft zu glatt, zu reibungslos erscheinen lasse (445), dass Geschichte als "deklaratives" Faktenwissen auftrete, während es doch darum gehen müsse, "prozedurales Wissen" (460) zu erzeugen.

In den zusammenfassenden Überlegungen zur Funktion von Zukunftsnarrationen in Lehrbüchern (449-477), die die Verfasserin unter den Begriff der "Gattungslogik" subsumiert, verflüchtigen sich politische Systembindungen. Schulbücher für das Fach Geschichte können gar nicht anders, als SchülerInnen "durch Beschäftigung mit der Vergangenheit ihre gestalterische Verantwortung für die Zukunft zu vermitteln" (474). Die Gattungslogik ist als ein "wesentlicher performativer Faktor" (477) zu begreifen. - Der Schluss der Untersuchung ist anstrengende Lektüre; aber die Verfasserin hat etwas zu sagen, das Beachtung fordern darf.

Wolfgang Jacobmeyer