Rezension über:

Marko Martin: Die verdrängte Zeit. Vom Verschwinden und Entdecken der Kultur des Ostens, Stuttgart: Tropen Verlag 2020, 426 S., ISBN 978-3-608-50472-9 , EUR 24,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Martin Jander
Stanford University in Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Martin Jander: Rezension von: Marko Martin: Die verdrängte Zeit. Vom Verschwinden und Entdecken der Kultur des Ostens, Stuttgart: Tropen Verlag 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 4 [15.04.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/04/35017.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Marko Martin: Die verdrängte Zeit

Textgröße: A A A

Marko Martin, 1970 in Burgstädt (Sachsen) geboren, ist ein sehr erfolgreicher und mit vielen Ehrungen ausgezeichneter Autor und Journalist. [1] Das Buch "Die verdrängte Zeit - Vom Verschwinden und Entdecken der Kultur des Ostens" ist bereits von vielen Autorinnen und Autoren lobend rezensiert worden. [2] Es handelt von Schriftstellern, Autoren und Filmen sowie anderen Kunstwerken aus der DDR. Aus der Sicht Marko Martins waren die meisten der von ihm wiedererzählten Geschichten Kennzeichen einer bis heute in der vereinigten Bundesrepublik nicht wahrgenommenen demokratischen DDR-Kultur.

Das Buch ist zwar kein wissenschaftliches Fachbuch. Dennoch gehört seine Rezension in eine Zeitschrift für wissenschaftliche Bücher, denn der Autor beschreibt ein wesentliches Thema, das politische Wissenschaft, Geschichtsschreibung und Literaturwissenschaft interessiert. Das Buch handelt von Räumen demokratischer Kultur in der deutschen Variante der Diktaturen sowjetischen Typs und ihrer Wahrnehmung in der vereinigten Bundesrepublik heute.

Marko Martin geht in dem sehr lesenswerten Buch in sechs großen Kapiteln - (1) Süßer Vogel Jugend; (2) Der serbische Indianer und andere Glücksmomente; (3) Frauenbild, fast ohne Gruppe; (4) Vor den Vätern sterben die Söhne - oder auch nicht; (5) Die Sprachen des Widerstandes; (6) Kolumbianisches Nachspiel - den Geschichten und Hintergründen sowie Rezeptionsgeschichten von Büchern, Filmen und Autorinnen und Autoren aus der DDR nach. In allen sechs Kapiteln bespricht er ihre vorhandenen, nicht vorhandenen oder missinterpretierten Rezeptionsgeschichten in der vereinigten Bundesrepublik.

Auf seiner großen Reise durch Lebensgeschichten, Filme und Texte aus der DDR behandelt Martin zum Beispiel Ulrich Plenzdorfs Roman "Die neuen Leiden des jungen W.", den Film "Solo Sunny", Texte von Jürgen Fuchs, eigene Erinnerungen an seine Jugend in der DDR und seine Ausreise in die Bundesrepublik noch vor dem Fall der Mauer, die Musik der Klaus Renft Combo und Texte wie Musik von Udo Lindenberg. Die Aufzählung könnte hier mehrere Seiten lang fortgesetzt werden. Marko Martin blättert ein wahres Panorama dissidenter Texte, auch der leisen und unscheinbaren Bilder und Musiken auf, deren Sprache und deren künstlerische Gestaltung für einen Leser der DDR einen Raum der Freiheit und Autonomie sowie die Möglichkeit der Befreiung aus vorgefertigten Ideologiewelten und Haltungen bedeuteten.

Wer bereits Artikel und andere Bücher von Marko Martin kennt, weiß, dass er ein Reporter ist, der sowohl in der politischen Berichterstattung mitmischt, Essays über Autoren, Bürgerrechtler, Philosophen und andere Publizisten schreibt, aber auch Reiseliteratur verfasst. Das Besondere seiner Berichterstattung in diesem neuen Buch besteht darin, dass er nicht nur Texte, Filme und Musiken und ihre Autoren beschreibt, sondern auch die von den Künstlern geschaffenen Figuren selbst zum Leben erweckt.

Die wesentliche Botschaft seiner Darstellung formuliert Marko Martin bereits in der Einleitung. Er resümiert, gegen eine DDR-nostalgische Wahrnehmung gerichtet, dass die "faszinierendsten [...] Kulturleistungen" der DDR "nicht wegen des Parteiregimes oder dagegen, sondern trotz dessen strangulierender Wirkung zustande gekommen waren" (13). Literatur, Filme und Musik, aber auch Proteste und manches Mal auch unüberhörbares Schweigen bildeten damals Räume der Freiheit und machten Befreiung denk- und fühlbar. Eine berühmte Sentenz von Adorno umkehrend, könnte man sagen, Marko Martin zeigt, dass es doch ein richtiges Leben im falschen gab. [3]

Trotz ihres Umfangs fehlen in der DDR-Reportage von Marko Martin wesentliche Gesichtspunkte. Dass die DDR und ihre politische Kultur eine Diktatur sowjetischen Typs und gleichzeitig eine der drei Nachfolgegesellschaften des Nationalsozialismus war und DDR-Eliten wie Bürger sich mit Nationalsozialismus und Antisemitismus auseinandersetzten mussten und dies nur sehr unvollkommen, wenn überhaupt taten, ist Marko Martin in seiner Reportage kein wirkliches Anliegen. Leider tauchen in seinem Buch die Freiheitsmomente, die Autoren wie zum Beispiel Helmut Eschwege, Paul Merker, Rudolf Schottlaender und viele andere vermitteln konnten, nicht auf. [4]

Leider gibt es in dieser Reportage, obwohl man weiß, dass der Reporter Marko Martin das gut kennt, auch gar keine Hinweise darauf, dass die nur sehr mangelhafte Aufarbeitung des Nationalsozialismus in der DDR, sich heute in den fünf neuen Bundesländern besonders aggressiv artikuliert. [5] Die untergegangene DDR-Gesellschaft enthielt noch weitaus mehr antimodernes Gedankengut - national, völkisch und vieles mehr - als nur autoritär linkes. Um auf Adorno zurückzukommen: Es gab auch sehr viel falsches Leben im falschen. Das artikuliert sich heute in PEGIDA und anderswo. Womit diese Leerstellen der Reportage erklärt werden können, lässt sich nur schwer beantworten.

Wahrscheinlich gibt es kaum einen beleseneren und sich mit offeneren Augen durch die Welt schreibenden Reporter als Marko Martin. Er hat sich seit seiner Ausreise in die Bundesrepublik im Mai 1989 auf die Spur der Denkerinnen und Denker gesetzt, deren Werke ihm in der DDR nur zum Teil durch die Bücherschränke und Erzählungen seiner Urgroßeltern, Großeltern und Eltern in der DDR verfügbar waren. Seine Reisen zu den für ihn bis zur Ausreise unerreichbaren Büchern und ihren Autoren hat er in seinem 2019 erschienenen Buch "Dissidentisches Denken" [6] beschrieben. Jürgen Fuchs, Manès Sperber, Melvin J. Lasky, Arthur Koestler, Edgar Hilsenrath und vielen anderen Autoren und ihrem Denken ist er dabei begegnet. Martin hat sich ihr Denken in seinen Reportagen zu eigen gemacht. Warum er dieses liberal demokratische Denken in seinem Blick auf die "Kultur des Ostens" nicht umfassender aufblättert, bleibt unverständlich.

Eine großartige und wichtige Reportage ist also anzuzeigen. Leider hat sie einige Leerstellen.


Anmerkungen:

[1] Vgl. den Wikipedia-Eintrag zu Marko Martin; https://de.wikipedia.org/wiki/Marko_Martin (letzter Zugriff 02.03.2021).

[2] Vgl. zum Beispiel die Zusammenstellung von Rezensionen zum Buch M. Martins bei 'Perlentaucher': https://www.perlentaucher.de/buch/marko-martin/die-verdraengte-zeit.html (letzter Zugriff 02.03.2021).

[3] Adorno hatte behauptet, dass es kein richtiges Leben im falschen geben könne: Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt/M. 1997, 43.

[4] Das trifft nicht auf alle zu, von denen dies gelernt werden konnte. Jureck Becker etwa, Barbara Honigmann und Stefan Heym, um einige zu nennen, sind Teil seiner Reportage.

[5] Vgl. Marko Martin: PEGIDA: Wie aus DDR-Dissidenten Wutbürger werden, in: Zentrum Liberale Moderne, 7. März 2018: https://libmod.de/marko-martin-on-the-road-wie-aus-ddr-dissidenten-wutbuerger-werden/ (letzter Zugriff 02.03.2021).

[6] Vgl. Marko Martin: Dissidentisches Denken. Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters, Berlin 2019.

Martin Jander