Rezension über:

Niko Vicario: Hemispheric Integration. Materiality, Mobility, and the Making of Latin American Art (= Studies on Latin American Art; 3), Oakland: University of California Press 2020, IX + 295 S., ISBN 978-0-520-31002-5, USD 50,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Amrei Buchholz
Abteilung Kunstgeschichte, Paris-Lodron-Universität, Salzburg
Redaktionelle Betreuung:
Christian Berger
Empfohlene Zitierweise:
Amrei Buchholz: Rezension von: Niko Vicario: Hemispheric Integration. Materiality, Mobility, and the Making of Latin American Art, Oakland: University of California Press 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 5 [15.05.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/05/35281.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Niko Vicario: Hemispheric Integration

Textgröße: A A A

Ebenso herausfordernd wie provokant stellt Niko Vicario seine Dissertation, die der Kategorisierung "lateinamerikanischer Kunst" in den 1930er und 1940er Jahren nachgeht, unter den Titel "Hemispheric Integration: Materiality, Mobility, and the Making of Latin American Art". Damit setzt Vicario der Formel der "hemisphärischen Integration", die gewöhnlich die seit den 1990er Jahren aufgenommenen Bemühungen um eine Freihandelszone weiter Teile Ibero- und US-Amerikas benennt, eine kunstgeschichtliche Lesart entgegen. Mit ihr datiert der am Amherst College tätige Kunsthistoriker einen gegenseitigen Annäherungsprozess der amerikanischen Subkontinente jedoch nicht allein um ein halbes Jahrhundert vor. Die "hemisphärische Integration" wird zudem als ein Prozess wechselseitiger Verflechtungen beschrieben, wobei die inter-amerikanischen Wirtschaftsbestrebungen der 1930er und 1940er Jahre mit den damaligen Vorgängen auf dem Kunstmarkt und in der Kunstproduktion verschränkt werden. Als ihr Produkt identifiziert Vicario die Herausbildung einer als "lateinamerikanisch" aufgefassten Kunst. Indem er diese als "geokulturelle Kategorie" (13) mit ihren Bedingtheiten, Zuschreibungen und Dynamiken ins Zentrum seines Buches stellt, schließt er an rezente, bspw. "dekoloniale" Forschungspositionen an, welche die kulturgeschichtliche Setzung des "Lateinamerikanischen" und die damit verbundenen Konsequenzen kritisch in den Blick nehmen. [1]

Vicario verfolgt seine Überlegungen entlang des Schaffens dreier lateinamerikanischer Künstler, denen er jeweils ein Kapitel seiner Ausführungen widmet: dem aus Mexiko stammenden David Alfaro Siqueiros (1896-1974), dem in Uruguay geborenen Joaquín Torres-García (1874-1949) und dem Kubaner Mario Carreño (1913-1999). Ein weiteres Kapitel behandelt die Bestrebungen des US-amerikanischen Politikers und Mäzens Nelson Rockefeller (1908-1979), der in den 1930er und 1940er Jahren den US-amerikanischen Kunstmarkt für lateinamerikanische Kunst öffnete und auch die genannten Künstler entscheidend förderte.

In seinem ersten Kapitel spürt Vicario "hemisphärischen" Verflechtungsprozessen in den Amerikas am Beispiel von David Alfaro Siqueiros' muralismo nach. Der Künstler begann in den 1930er Jahren mit Duco, einer von der US-amerikanischen Automobilindustrie entwickelten synthetischen Lackfarbe zu experimentieren. Als künstlerisches Mittel eingesetzt, nutzte er sie strategisch um. In der Folge erweiterte Siqueiros seine künstlerische Arbeitsweise um weitere innovative "Technologien" (62), wie er selbst sie nannte. Vicario zeichnet nach, inwiefern Siqueiros diese Fertigkeiten auf Reisen durch beide amerikanische Subkontinente an andere Kunstschaffende weitergab - unter anderem an Jackson Pollock und Morris Louis - und deren Arbeitsweise zum Teil nachhaltig beeinflusste.

Im zweiten Kapitel werden Siqueiros' künstlerische Bestrebungen mit dem Schaffen seines Zeitgenossen Joaquín Torres-García kontrastiert. Dessen Werk steht nicht durch die Verbreitung von Techniken für interamerikanische Verflechtungsprozesse ein, sondern vielmehr durch das Streuen künstlerischer Ideen und Überzeugungen. Der 1874 in Uruguay geborene Künstler entwickelte einen "Konstruktiven Universalismus", der abstrakte Malerei mit lokalen, indigenen Visualisierungspraktiken verband. Torres-García verstand diese Ausdrucksweise nicht nur als Emanzipation der Amerikas von einer imperialistischen "Kultur des Imports" (78), sondern auch als ein Projekt interamerikanischer Annäherung.

Trotz großer politischer und technischer Differenzen, die das Wirken von Torres-García und Siqueiros kennzeichnen, gelingt es Vicario, eine Nähe ihrer künstlerischen Positionen herauszuarbeiten. Beide Künstler diagnostizierten dem Autor zufolge "ähnliche Schwächen in der auf dem Kontinent produzierten Kunst", wobei sie auf "die gleichen Metaphern" zurückgriffen (79). Ihre Kritik galt einer Kunstproduktion, die primär auf den Erfolg am Kunstmarkt und nicht auf eine Reflexion der aktuellen lateinamerikanischen Gegebenheiten ausgerichtet war. Torres-García und Siqueiros arbeiteten damit gleichermaßen - wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise - an der Eigenständigkeit "lateinamerikanischer Kunst", wobei ihre Auseinandersetzung mit US-amerikanischer Geschichte, Politik und Kultur eine ebenso konstruktive wie kontrastive Reibungsfläche bot.

Siquieros und Torres-García wurden beide in den 1930er und 1940er Jahren als wichtige Vertreter "lateinamerikanischer Kunst" vom US-amerikanischen Kunstmarkt entdeckt und gefördert. Diesen Zusammenhängen wendet Vicario sich in seinem dritten Kapitel zu. Protagonist ist hier Nelson Rockefeller, der zunächst im Office of the Coordinator of Inter-American Affairs und ab den frühen 1940er Jahren am New Yorker Museum of Modern Art für den Erwerb lateinamerikanischer Kunst zuständig war. Vicario verlagert seine Analyse damit auf politische Akteure, die "mittels kuratorischer Tätigkeit und Sammlungsaktivitäten nachhalfen, die geokulturelle Kategorie lateinamerikanischer Kunst zu institutionalisieren" (207). Vor der Folie der präzisen Analysen in den vorangehenden Kapiteln wird deutlich, inwiefern die Kategorisierung des kulturell vermeintlich Anderen, hier des "Lateinamerikanischen", stets Zuschreibungen innerhalb des vermeintlich Eigenen entspringt, und auch, welche Spannungen und Machtkämpfe mit dieser Herausbildung verbunden sind.

Im vierten und abschließenden Kapitel führt Vicario die von ihm analysierten transkulturellen Verflechtungen eines "hemisphärischen Hybrids" unter der Frage zusammen, inwiefern diese Prozesse wiederum auf die Gestaltung "lateinamerikanischer" Kunstwerke zurückwirkten (156). Als Beispiel dient hier die Arbeit des kubanischen Künstlers Mario Carreño. Dieser band die "aufkommende geokulturelle Kategorie [der lateinamerikanischen Kunst] in spezifische Kunstwerke ein, indem er Duco-Malerei an die Herausbildung einer kubanisierten modernen Kunst anpasste und später das Lokale mit dem Universellen sublimierte, indem er beides in Konkreten Gemälden zusammenführte" (207). Derart inspiriert von Siqueiros und Torres-García, griff der etwas jüngere Carreño bereits gezielt auf Zuschreibungen "lateinamerikanischer Kunst" zurück, die sich gerade erst herausgebildet hatten.

Vicarios Ausführungen sind insgesamt übersichtlich und stringent aufgebaut. Jedoch deutet sich in der anachronistisch eingesetzten Metapher der "hemisphärischen Integration" bereits an, inwiefern die argumentative Rahmung mit gewissen Schwierigkeiten verbunden ist: Die analytische Präzision ebenso wie der Bezug zum kunsthistorischen Material verlieren sich bisweilen in ausgreifenden Schlagwörtern und in der Behauptung sehr großer historischer Linien. Die von Vicario herangezogenen Kunstwerke erscheinen so nicht selten wie Staffagefiguren des Beschriebenen, als seien sie illustrative Elemente der Wissensgeschichte. Wesentliche Erkenntnisse, mit denen die Kunstgeschichte - etwa hinsichtlich ikonografischer Kontextualisierung - aufwarten kann, fallen dadurch weg. Auch wichtige Verweise auf globale Zusammenhänge kommen zu kurz, die in die interamerikanischen Verflechtungsprozesse einer "hemisphärischen Integration" stets hineindiffundierten und deren Dynamik nicht unwesentlich beeinträchtigten. Dass etwa die Orientierung an zentraleuropäisch geprägten ästhetischen Normen auch für eine "lateinamerikanische Kunst" der 1930er und 1940er Jahre trotz ihrer Autonomisierungsbestrebungen bindend blieb und das imperiale Erbe damit durchaus in Teilen aufrechterhalten wurde, wird von Vicario nur am Rande berührt.

Bemerkenswert an Vicarios Analyse ist dennoch ihre Verschränkung kunst- und kulturgeschichtlicher Entwicklungen mit politischen und wirtschaftlichen Prozessen, womit sie von den konventionellen kunsthistorischen, etwa ästhetischen, biografischen oder stilistischen Zugriffen wegführt. Durch diesen Perspektivwechsel werden Korrelationen und Interdependenzen lateinamerikanischer Kunstströmungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erst sichtbar, etwa die bisher weitestgehend übersehene Nähe zwischen malerischer Abstraktion und der Auseinandersetzung mit indigenen Themen. Im Aufbrechen solcher verhärteten kunsthistorischen Narrative liegt ein entscheidendes Verdienst von Vicarios Buch.


Anmerkung:

[1] Vgl. Michel Gobat: The Invention of Latin America. A Transnational History of Anti-Imperialism, Democracy, and Race, in: The American Historical Review 118 (2013), Nr. 5, 1345-1375; Walter Mignolo: The Idea of Latin America, Oxford 2005; Mauricio Tenorio-Trillo: Latin America: The Allure and Power of an Idea, Chicago 2017.

Amrei Buchholz