Rezension über:

Václav Smyčka: Das Gedächtnis der Vertreibung. Interkulturelle Perspektiven auf deutsche und tschechische Gegenwartsliteratur und Erinnerungskulturen (= Interkulturalität; Bd. 15), Bielefeld: transcript 2019, 256 S., ISBN 978-3-8376-4386-2, EUR 34,99
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Rezension von:
Elisa-Maria Hiemer
Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung, Marburg
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Elisa-Maria Hiemer: Rezension von: Václav Smyčka: Das Gedächtnis der Vertreibung. Interkulturelle Perspektiven auf deutsche und tschechische Gegenwartsliteratur und Erinnerungskulturen, Bielefeld: transcript 2019, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 5 [15.05.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/05/35814.html


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Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Václav Smyčka: Das Gedächtnis der Vertreibung

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Václav Smyčkas Dissertationsschrift beruht auf der Analyse von 40 Texten der Gegenwartsliteratur. Dieser umfangreiche Korpus wird zusätzlich erweitert um Wikipedia-Einträge, Filme, Fernsehserien, YouTube-Mitschnitte, Kunstprojekte und Buchcover. Smyčka intendiert eine möglichst umfassende Auseinandersetzung mit der Erinnerung an die Vertreibung der Sudetendeutschen nach 1945. "[W]ie dialogisch oder monologisch sind heutzutage die Erinnerungen an die Vertreibung?" (13), lautet eine der Leitfragen der vorliegenden Arbeit.

In seiner Einleitung legt der Verfasser überzeugend dar, welchen Nutzen ein kultursemiotisches Analyseverfahren (Charles S. Peirce, Jurij Lotman) für ein grenzüberschreitendes Konfliktthema besitzt. Dabei stellt er vor allem die Strategien der unterschiedlichen Kulturartefakte in den Mittelpunkt. Die zeitliche Begrenzung des Korpus erklärt Smyčka in überzeugender Weise mit dem Phänomen des floating gap, also jener Zeitspanne, in der das kommunikative Gedächtnis des historischen Ereignisses an Relevanz verliert und sich das kollektive Gedächtnis zunehmend einer selbstkritischen Betrachtung öffnet. Dies sei nur möglich, wenn auch die politische Instrumentalisierung des Ereignisses in den Hintergrund trete, wie es bezüglich der Vertreibung ab den 2000er Jahren in der Tschechischen Republik der Fall sei (32). Auf der Basis von Alfred Koschorkes Theorie zu Masternarrativen präsentiert das erste Kapitel unter anderem anhand deutscher und tschechischer Wikipedia-Artikel zur Vertreibung der Sudetendeutschen eindrucksvoll den Einfluss des floating gap auf Wissensproduktion und Meinungsbildung - zwei Bereiche, die sich auf Wikipedia in problematischer Weise annähern, wie die Diskussionsseiten der Artikel zeigen. Während sich auf der tschechischen Wikipedia Debatten um den Begriff entwickeln (vyhnáni = Vertreibung vs. vysídlení = Umsiedlung), betont das Narrativ der deutschen Wikipedia vor allem die umfangreiche deutsch-tschechische Verflechtungsgeschichte und versucht hieraus über einen langen Zeitraum hinweg ein historisch verankertes Anrecht auf das Sudetenland abzuleiten. Diese "wikiwars" nähmen aber seit 2014 kontinuierlich ab, was Smyčka als Anzeichen für eine Stabilisierung der Deutungsmuster wertet (50).

Im Hauptkapitel "Erinnerungsstrategien" dokumentiert der Verfasser insgesamt sieben verschiedene Motivationen, die zunächst anhand literarischer Texte unterschiedlichster Gattungen und Couleur nachgezeichnet werden. Das Augenmerkt liegt zu Beginn auf Tatsachenromanen, bei denen Smyčka richtigerweise auf die mangelnde Eignung solcher Literatur als historische Referenz verweist. Der sehr weit gefasste Literaturbegriff erweist sich hier als problematisch und wirft die Frage nach der Vergleichbarkeit des von Smyčka gewählten Materials auf: Zwischen der völkischen Geschichtsinterpretation in Wilhelm Böhms 'Keine Liebe, kein Erbarmen', Rekursen auf NS-Topoi wie in Emil Karl Stöhrs 'Vertreibung aus dem Paradies der Kindheit' einerseits und dem innovativen Spiel mit Sprache und Schrift in Reinhard Jirgls 'Die Unvollendeten' beziehungsweise den erotisch-mythologischen Motiven in der Lyrik von Radek Fridrich andererseits wird offensichtlich, warum sich Literatur vor allem in ihrer Polyvalenz von tendenziösen Texten abgrenzt beziehungsweise von der Forschung auch abgegrenzt werden muss.

Den Übergang zu der zunehmenden Medialisierung der Vertreibungsthematik bildet eine Auseinandersetzung mit Kriminalromanen und -serien, deren regionalgeschichtliche Verwurzelung sich ideal zur Darlegung eines Doppelnarrativs eignet, bei dem damalige Täter später zu Opfern werden. Nach einem Unterkapitel zu Text-Bild-Interferenzen auf zeitgenössischen Buchcovern wird das Hauptkapitel mit einer aufschlussreichen Auseinandersetzung mit dem Fotografieprojekt Lukáš Houdeks 'The Art of Killing' weitergeführt. In dem als "Genealogien zeichnen" betitelten Unterpunkt setzt sich Smyčka mit dem Generationenkonflikt auseinander, der in Kateřina Tučkovás Werk 'Vyhnání Gerty Schnirch' durch die Geschlechterkomponente und multiple Gewalterfahrungen noch verstärkt wird. Dieses vom Verfasser als populäre Strategie erkannte Narrativ wird im folgenden Unterkapitel mit dem körperlichen Gedächtnis (am Beispiel von Angelika Overaths 'Nahe Tage') und dem Gedächtnis der Gegenstände (Jakuba Katalpa: Němci) sensibel verknüpft. Das Hauptkapitel schließt mit einem Abschnitt zum Gedächtnis von Landschaften, das leider mit wenigen Verweisen auf die aktuelle Sekundärliteratur zum literarischen Gedächtnis von kulturellen Grenzregionen auszukommen meint. Smyčka wendet wichtige theoretische Fundamente (wie die strukturalistischen Theorien von Lubomír Doležel und Jan Mukařovský) überzeugend auf die verschiedenen Untersuchungsgegenstände an, allerdings unterscheiden sich insbesondere die Analysen der literarischen Werke stark in Umfang und Ausarbeitung. Hier verzichtet der Verfasser weitestgehend auf Zitate aus den Werken, was für die Verdeutlichung der ansonsten sehr schlüssigen Argumentation hilfreich gewesen wäre.

Das große Verdienst dieser Publikation liegt in ihrer interkulturellen Perspektive und ihre Stärke insbesondere in der Analyse der medialen Auseinandersetzungen. Die Literaturanalysen lassen sich allerdings durch ihren zu weit gefassten Korpus nur schwer überblicken, obwohl der Verfasser mehrfach ihre besondere Bedeutung unterstreicht (16, 59, 236). Als sehr gelungen ist das letzte Kapitel zur Übersetzung als Akt des interkulturellen Erinnerns zu bezeichnen. Hier zeigt sich, wie fruchtbar die kultursemiotischen Ansätze bei der Beantwortung der Frage sein können, wie ein Text in einer anderen Kultur aufgenommen wird bzw. durch diese verweigert wird. Dieser Teil wirkt durch seine unmittelbare Verknüpfung von Übersetzungstheorien mit konkreten Textbeispielen sehr transparent und konzis. Auch Smyčkas private Korrespondenz mit der in Prag geborenen Autorin Erika Härtl Coccolini gibt seltene Einblicke in die Politisierung des Literaturbetriebs: Der Übersetzer ihrer Memoiren nahm eigenmächtig zahlreiche inhaltliche Veränderungen in der tschechischen Ausgabe vor, um die "Perspektive einer 'militanten' Sudetendeutschen" (189) abzuschwächen. Die Autorin erfuhr von diesen unautorisierten Änderungen erst nach dem Druck.

Im Ausblick bietet Smyčka sogar noch eine philosophische Grundsatzdiskussion über das Zusammenwirken von Gedächtnis und Vergessen und beruft sich dabei auf zwei grundsätzlich unterschiedliche Konzepte. Während das Modell von Friedrich Nietzsche Gedächtnis als "Geschichte für die Herkunft von Verantwortlichkeit" (240) versteht, argumentiert Sigmund Freud, dass Erinnerung erst dann geschehen könne, wenn man die Bindungen zur Vergangenheit aufgehoben habe (241). Diese "Paradoxie des Erinnerns" (242), auf die sämtliche Analysen des Hauptteils abzielen, ermöglicht eine Übertragung der Erkenntnisse der Arbeit auf andere historische Kontexte.

Elisa-Maria Hiemer