Rezension über:

Sophie Delhaume: Correspondance conjugale. 1760-1782. Une intimité aristocatique à la veille la Révolution (= Bibliothèque des Correspondances, Mémoires et Journaux; 102), Paris: Editions Honoré Champion 2019, 2 vol., 1178 S., 6 s/w-Abb., ISBN 978-2-7453-4954-5, EUR 140,00
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Julia Heinemann
Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien
Redaktionelle Betreuung:
Bettina Braun
Empfohlene Zitierweise:
Julia Heinemann: Rezension von: Sophie Delhaume: Correspondance conjugale. 1760-1782. Une intimité aristocatique à la veille la Révolution, Paris: Editions Honoré Champion 2019, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 6 [15.06.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/06/33626.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Sophie Delhaume: Correspondance conjugale

Textgröße: A A A

Die Namen Marie-Jeanne-Constance de Mailly d'Haucourt (1734-1783) und Marc-René de Voyer d'Argenson (1722-1782) sind heute weitgehend vergessen. Das adelige Ehepaar, er ein hochrangiger Militär, sie ebenfalls aus einer hochadligen Militärsfamilie, heiratete 1747 und pflegte über Jahrzehnte einen intensiven brieflichen Austausch. Die Marquise und der Marquis verkehrten mit bekannten Persönlichkeiten der Zeit wie Voltaire, gehörten aber nicht zum inneren Zirkel der Macht des Ancien Régime. Ihre Korrespondenz ist deshalb nicht weniger spannend: Die über 600 edierten Briefe und zahlreichen weiteren, im Annex gesammelten Dokumente scheinen den Blick in "eine ganze Welt" zu eröffnen, wie Arlette Farge in ihrem Vorwort schreibt: "C'est un monde entier qu'on voit vivre dans le quotidien" (8). Das macht diese Quellen faszinierend, aber zugleich schwierig zu fassen - denn was können wir mit ihnen anfangen?

Die Edition wurde von Sophie Delhaume publiziert, deren Dissertation 2010 die Korrespondenz des Ehepaars zum Gegenstand hatte. Die Herausgeberin hatte nach unbekannten Briefen gesucht und stieß dabei auf die Korrespondenz der Marquise; die Originale liegen in der Universitätsbibliothek von Poitiers und wurden niemals zuvor veröffentlicht. Es handelt sich um eine Korrespondenz aus über 20 Jahren, in denen sich das Ehepaar offenbar zwei bis dreimal pro Woche schrieb, wobei deutlich mehr Briefe von ihr (567) überliefert sind als von ihm (42). Die Briefe sind in modernisiertem Französisch publiziert, was Delhaume mit problematischer Orthographie und Interpunktion erklärt. Dies macht mikrosemantische Zugänge schwierig, zumal unklar ist, wie stark sprachlich eingegriffen wurde - es wäre sinnvoll gewesen, zumindest einen Brief in seiner originalen Schreibweise vergleichend neben die modernisierte Fassung zu stellen.

Delhaumes Einleitung bietet eine kurze Einführung in die Personen, die Ereignisse der Zeit und die aufklärerischen philosophischen Strömungen am Ende des Ancien Régime: Der Marquis war ein Skeptiker und Atheist, die Marquise setzte sich mit u.a. Rousseau auseinander. Beide werden von der Herausgeberin in einem Klima des zunehmenden Misstrauens der Eliten gegenüber den Institutionen während des Verfalls der Monarchie verortet. Die Briefe wirken aber nicht nur als Echo zeitgenössischer Debatten, sondern vor allem als Zeugen einer Ehe und als Symptom regelmäßigen Getrenntseins des Paars, dem das Schreiben, so Delhaume, "l'invention d'un lien conjugal" (49) ermöglichte. Damit ist die komplexe Einordnung dieser Korrespondenz angesprochen, die zahlreiche Themen und mögliche Erkenntnisinteressen von Historiker*innen berührt. Delhaume verortet sie auf zwei miteinander verbundenen Ebenen: Einerseits scheinen die Briefe einen Einblick in einen (wenn auch räumlich getrennten) ehelichen Alltag zu bieten, indem sie eine Art "journal du quotidien" (49) der Ehefrau abbilden, oder auch, wie Farge im Vorwort formuliert, das Schreiben als alltägliche "façon de vivre" (7) zeigen. Die Lektüre der Briefe zeugt in der Tat von alltäglichen Praktiken und Sorgen - da geht es um Krankheiten, um Verdauung, um Gerüchte, um Kindererziehung usw. Andererseits schreibt Delhaume treffend, dass ihre literarische Stilisiertheit die Schreiben als eine Art "Briefroman" (15) erscheinen lässt, in dem eine idealisierte eheliche Liebe gezeichnet und für die Marquise das Bild einer empfindsamen "femme d'esprit" entworfen wird, die das Spiel der Worte genießt.

Dieses Spannungsfeld von Alltag und Literarisierung macht die Korrespondenz erst aus: So springt die Marquise in einem Brief mühelos von ihrem Abschiedsschmerz dem geliebten Gatten gegenüber - von ihr meist als "mon cher enfant" adressiert - zu einem beim Essen abgebrochenen Zahn (100). In ihren Schreiben gibt sie sich lebhaft, geistreich und sich nach ihrem Ehemann verzehrend; zugleich sind lästige körperliche Leiden beständig Thema und die Korrespondenz wäre eine äußerst spannende Quelle für den Umgang mit Körper, Schwangerschaft und Krankheit im Adel, bis hin zum hochaktuellen Thema Impfung, denn die Marquise lässt ihre vier Kinder "inokulieren", also gegen Pocken immunisieren. Die Briefe des Marquis, die nur für das Jahr 1772 überliefert sind, sind ebenfalls voller Zuneigungsbekundungen und Interesse für den Alltag und die Gedanken seiner Frau, wobei die Korrespondenz auch erahnen lässt, dass insbesondere seine außerehelichen Beziehungen immer wieder eine Belastung der Ehe darstellen. Gegen Ende ihres Lebens wandelt sich dann der Eindruck der Ehe, den die Briefe erzeugen, stark: Die Eheleute scheinen distanziert, leben offensichtlich dauerhaft getrennt und die Marquise beklagt in einem ihrer letzten Briefe, dass ihr Gatte sie offenbar nicht mehr liebe. Delhaume vermutet hinter dieser Entfremdung eine weitere Liebesbeziehung des Marquis und eventuell auch der Marquise (88). Eine Lektüre der gesamten Korrespondenz lässt jedenfalls den Wandel einer ehelichen Beziehung untersuchen.

Nach fast 700 Seiten Korrespondenz folgt ein dreiteiliger Annex, der nicht weniger spannend ist: Hier finden sich in einem ersten Teil Briefe des Ehepaars an andere Personen, Briefe der Kinder an den Vater (die neben der ehelichen Korrespondenz für eine Geschichte der Kindheit relevant sind) und ein philosophischer Dialog von Dom Léger-Marie Deschamps, in dem die Marquise als Protagonistin auftritt. Im zweiten Teil sind Rechtsdokumente gesammelt wie das Testament der Marquise, ein nach ihrem Tod erstelltes Inventar, Vereinbarungen über die Gütertrennung und diverse Dokumente, die die Besitzverhältnisse des Paares zeigen. Der dritte Teil enthält Rechnungen der Jahre 1779 bis 1783, Listen der Angestellten und ihrer Löhne, Vereinbarungen über den Unterhalt der Marquise nach der Trennung des Paares und zahlreiche Listen mit Schulden und Ausgaben. Delhaume versteht all diese Dokumente vor allem als Ergänzung der Briefe, als "archives mineures" (789), die eine vertiefte Kontextualisierung ermöglichen. Tatsächlich geht der Wert dieser Quellen jedoch weit über ein reines Bonusmaterial hinaus: Für die Besitz- und Finanzverhältnisse eines hochadligen Paares und das Wirtschaften im Adel sind sie extrem aufschlussreich; auch für eine Geschichte adeligen Konsums (es finden sich beispielsweise Rechnungen über Nahrungsmittel, Möbel, Blumen, Musikunterricht, Medikamente, Mode und Schmuck) und des Umgangs mit Geld und Schulden sind diese Quellen äußerst relevant.

Die Edition ist also eine große Leistung Sophie Delhaumes und ein Tausendsassa - wenn man sich die Zeit nimmt, sie in Ruhe zu lesen. Es ist nämlich bedauernswert, dass es zwar für Briefe und Annex einen Personenindex gibt, aber keinen Sachindex. Auch die Anmerkungen bieten vor allem Informationen zu Personen und Ereignissen. Ein solcher Index hätte eine gezieltere Auswertung der Quellen über die eheliche Beziehung des Paares hinaus ermöglicht. Denn die hier edierten Dokumente bieten der historischen Forschung neben den auf der Hand liegenden Themen wie adelige Ehe und Schreibpraxis zahlreiche weitere Ansatzpunkte beispielsweise für körpergeschichtliche Studien, für eine Geschichte von Muttersein und Kindheit und für Fragen von Besitz, Finanzen und Konsum. Sie eröffnen gewissermaßen "eine ganze Welt", wenn man denn weiß, was man sucht.

Julia Heinemann