Rezension über:

Clara Maddalena Frysztacka: Zeit-Schriften der Moderne. Zeitkonstruktion und temporale Selbstverortung in der polnischen Presse (1880-1914) (= SpatioTemporality / RaumZeitlichkeit; Bd. 7), Berlin: de Gruyter 2020, 444 S., ISBN 978-3-11-061224-0, EUR 89,95
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Rezension von:
Heidi Hein-Kircher
Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung, Marburg
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Heidi Hein-Kircher: Rezension von: Clara Maddalena Frysztacka: Zeit-Schriften der Moderne. Zeitkonstruktion und temporale Selbstverortung in der polnischen Presse (1880-1914), Berlin: de Gruyter 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 6 [15.06.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/06/34264.html


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Clara Maddalena Frysztacka: Zeit-Schriften der Moderne

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Die kommerzielle polnischsprachige Wochenpresse spielte bei der Ausbildung der polnischen nationalen Identität im ausgehenden 19. Jahrhundert eine wichtige Rolle. Durch diese Kommunikationsform konnten die Teilgebietsgrenzen zu einer Zeit überschritten werden, als die Teilungsmächte versuchten, gerade über bildungspolitische Maßnahmen die Bevölkerung zu russifizieren bzw. germanisieren. Ist grundsätzlich die Rolle von Periodika für die (ver-)öffentlich(t)e Meinung und jeweilige nationale Selbstverortung bereits in zahlreichen Werken erörtert worden, so standen populäre, auf eine breite Leserschaft ausgerichtete (Massen-)Blätter und Wochenschriften bislang weniger im Fokus. Welche Rolle spielten diese "Zeitschriften für viele", wie die Autorin sie charakterisiert, bei der Konstruktion historischer Zeit(vorstellungen) durch "Zeit-Schriften"? Und in welchem Zusammenhang standen diese Vorstellungen mit der nationalen Selbstverortung von Publizisten und Leserschaft?

Diesen Fragen geht die Siegener Dissertation Clara Frysztackas ausgehend von der Prämisse nach, dass die populären polnischsprachigen Wochenschriften durch die Konstruktion historischer Zeit zu einer semiperipheren Selbstverortung in der von ihr letztlich nicht weiter spezifizierten "europäisch-kolonialen Moderne" (1) beitrugen. Hierzu hat die Verfasserin fünfzehn populäre Wochenschriften aus allen drei Teilungsgebieten ausgewertet, die im Annex knapp charakterisiert werden. Aus der Fülle der zitierten Artikel wird deutlich, dass die in Warschau herausgegebene "Tygodnik Ilustrowane" (Illustrierte Wochenschrift) als analytisches Leitmedium herangezogen wurde. Die methodisch-konzeptionell komplexe Studie steht an der Schnittstelle verschiedener Herangehensweisen: So bezieht sie sich auf Ansätze einer Philosophie der (historischen) Zeit sowie der (Populär-)Kultur-, der Medien- und Historiografiegeschichte. Außerdem integriert sie kritische Modernetheorie und postkoloniale Perspektiven auf die Geschichte Osteuropas. Jeweils zu Beginn der drei Hauptkapitel, die (für einen deutschsprachigen Text kurioserweise) einen englischsprachigen Titel haben, legt Frysztacka die leitenden theoretisch-konzeptionellen Grundlagen dar und setzt sie in Bezug zum Untersuchungsgegenstand. Hierbei setzt sie Begrifflichkeiten wie "europäisch-koloniale Moderne" voraus, ohne diese tiefer gehend zu diskutieren. Die jeweils das Kapitel abschließende Zwischenfazits dienen in vorbildhafter Weise der interpretativen theoretischen Einordnung der analysierten Texte.

In "Time and the Nation" diskutiert sie die historische Zeit als Mittel der epochalen Differenzierung sowie deren Bedeutung für die polnische Nation. Hierfür analysiert sie vor allem Artikel(serien) zur polnischen Geschichte und kommt zu dem Schluss, dass dem historischen Subjekt Polen durch die Konstruktion von Epochen (wie z. B. der "piastischen Epoche") und von Zeit-Perzeptionen wie "Verspätung" eine besondere Chronologie zugeschrieben worden sei und so der Leserschaft Angebote zur temporalen Selbstverortung gemacht worden seien. Frysztacka folgert, dass die von den Akteuren wahrgenommene Ungleichzeitigkeit der polnischen historischen Zeit im Vergleich zu den "europäischen" Entwicklungen als "semiperipherer Zwang" (170) zu kennzeichnen sei. Indem die Zeitschriften die Neuzeit als "Kernkonstrukt" des Zeitnarrativs entwickelt hätten, sei es ihnen gelungen, die Zugehörigkeit zur europäisch-kolonialen Moderne trotz polnischer Eigen-Artigkeit und Nichtexistenz des eigenen Staates zu begründen.

Das zweite Hauptkapitel widmet sich "Time and the Other", wobei Frysztacka ihre Analyse vor allem auf postkoloniale Theorieangebote stützt - historische Zeit diene zur Schaffung von Alterität in asymmetrischen Kontexten. Frysztacka stellt das Verhältnis zum litauischen Großfürstentum sowie zum Deutschen Orden - und davon abgeleitet zu Germanen und zum Heiligem Römischen Reich - als Kristallisationspunkte litauischer bzw. deutscher Identität in den Mittelpunkt ihrer Analyse. Sie zeigt, dass für die Alteritätskonstruktion die polnische Zivilisierungsmission, also das kulturell begründete Überlegenheitsgefühl gegenüber den Litauern, von besonderer Bedeutung gewesen sei. Erst durch das Revolutionsjahr 1905 seien die Litauer als "Andere" dargestellt worden. Ebenso stellt die Verfasserin gerade für die deutsch-polnische Beziehungsgeschichte eine Ambivalenz insofern fest, als die Grenzen und das Potential einer Neuverhandlung der zeitgenössischen politisch-kulturellen Unterordnung Polens unter die "deutsche" Teilungsmacht definiert worden seien. Daher hätten Berichte über Slawen/Polen die Rolle der Indigenen und zugleich von Opfern nachgezeichnet, denen subaltern-koloniale Züge zugeschrieben worden seien. Hierdurch sei eine Position des "Dazwischen" konstruiert worden. Durch ihre Analyse gelingt es Frysztacka auch, die doppelte Agency der "Zeitschriften für viele" als (Re-)Produzenten neuer und Träger bzw. Reaktivierer alter Zeitkonstrukte herauszuarbeiten.

Ausgehend von der Wahrnehmung, dass die Jahrhundertwende und die Revolution von 1905 als zentrale Zäsur als "Werkstatt der Gegenwarts-Zeit" für die Selbstwahrnehmung fungiert hätten, diskutiert Frysztacka im letzten Hauptkapitel "Modern Times" die veränderte Wahrnehmung der Gegenwart und damit die polnische Selbstwahrnehmung und -verortung unter den politisch-kulturellen Herausforderungen der Moderne. Im Gegensatz zu den vorherigen Kapiteln stehen somit weniger Berichte über historische Prozesse und Ereignisse im Fokus, sondern die Verhandlung gegenwärtiger Entwicklungen. Insgesamt hätten die Zeitschriften, so die These dieses Kapitels, die zivilisatorische Verspätung auf die zarische Unterdrückungspolitik zurückgeführt. Daher schlussfolgert Frysztacka, dass die "Zeitschriften für viele" als Träger der modernen Gegenwartswahrnehmung mitgedacht werden müssten. Als Ergebnis verweist sie auf den Befund, dass die Erfahrungen der Moderne in den Teilgebietsgesellschaften mit der europäisch-modernen Gegenwartserfahrung vergleichsweise synchron verlaufen seien.

In beispielhafter Weise ordnet Frysztacka in ihrem Fazit diese Befunde in methodisch-konzeptioneller Hinsicht in zeithistorische Studien und damit in den "temporal turn" ein und betont die "temporale[...] Linearität als Instrument der machtgeladenen Hierarchisierung der Zeiten in der hegemonialen Zuordnung der Moderne" (359). So gelingt es ihr, die Dezentrierung Osteuropas in einer sich als hegemonial darstellenden Zeitlichkeit der Moderne herauszuarbeiten, und sie schlägt vor, die unvollkommene Synchronie der polnischen Zeit-Geschichte des späten 19. Jahrhunderts im Vergleich zu einer modernen globalen Gegenwarts-Zeit als semiperipher zu kennzeichnen, wodurch die Zugehörigkeit zur insgesamt wenig herausgearbeiteten "europäisch-kolonialen Moderne" deutlich werde.

Ihren ambitionierten methodisch-konzeptionellen Zielsetzungen ist die mehrfach ausgezeichnete Studie gerecht geworden, auch wenn sie gerade deshalb nicht immer leicht zu lesen ist. Sie setzt gewisse Grundkenntnisse der polnischen Geschichte nicht nur der in den Texten analysierten historischen Prozesse und Ereignisse, sondern vor allem des späten 19. Jahrhunderts voraus, um der Interpretation in ihrer Schärfe und Tiefe folgen zu können. Diese Studie zeigt über die inhaltlichen Befunde hinausgehend sehr deutlich, wie intellektuell anregend innovative Studien zur Geschichte Ostmitteleuropas sein können.

Heidi Hein-Kircher