Rezension über:

Christa Kamleithner: Ströme und Zonen. Eine Genealogie der "funktionalen Stadt" (= Bauwelt Fundamente; 167), Basel: Birkhäuser Verlag 2020, 374 S., ISBN 978-3-0356-2049-8, EUR 29,95
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Rezension von:
Thomas Flierl
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Oliver Sukrow
Empfohlene Zitierweise:
Thomas Flierl: Rezension von: Christa Kamleithner: Ströme und Zonen. Eine Genealogie der "funktionalen Stadt", Basel: Birkhäuser Verlag 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 7/8 [15.07.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/07/34866.html


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Christa Kamleithner: Ströme und Zonen

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Städtebaugeschichte hat gegenwärtig Hochkonjunktur. Die Ausstellung "Unvollendete Metropole. 100 Jahre Groß-Berlin" und der aus diesem Anlass veranstaltete "Internationale Wettbewerb Berlin-Brandenburg 2070" haben ihren wichtigsten Bezugspunkt in der "Allgemeinen Städtebau-Ausstellung" von 1910. Mit ihren Schaubildern, die ins Monumentale übersteigerte Beaux-Arts- bzw. Reformarchitekturen im sog. Heimatschutzstil zeigten, antizipierte diese Ausstellung in traditionellen Formen den Maßstabssprung der Stadtentwicklung, der sich lange angedeutet hatte, aber kommunalpolitisch erst zehn Jahre später gelang. Wenn heute erneut die "Stadtbaukunst" angerufen wird - insbesondere vom Deutschen Institut für Stadtbaukunst in Dortmund -, dann zielt dies so wie damals auf die Wiederherstellung der Einheit von Architektur und Stadtplanung - unter der Dominanz der Architekten. Eine an der Stadtbaukunst orientierte Geschichtsschreibung geht jedoch an zentralen Fragen der aktuellen Stadtdebatten vorbei. Insbesondere bleiben die Bodenfrage und damit die unabweisbare Aufgabe, die Gemeininteressen gegenüber den spekulativen Privatinteressen in der modernen Stadtentwicklung durchzusetzen und, eng damit verbunden, die Demokratiefrage, die Einlösung des Rechtes auf "Stadt für alle", weitgehend unterbelichtet.

Mit ihrer nun, in gekürzter und überarbeiteter Form, veröffentlichten Dissertation rollt Christa Kamleithner den Zusammenhang von Stadtplanung und Städtebau völlig neu auf. Das Buch ist sowohl für historisch Interessierte wie an der gegenwärtigen städtebaulichen Praxis Beteiligte äußerst interessant, weil die Autorin den modernen Städtebau genau aus der Auseinandersetzung mit dem sich herausbildenden Bodenmarkt, aus der Notwendigkeit des zu regulierenden Verhältnisses von Individual- und Gemeininteressen und als Zusammenwirken verschiedener, sich am Gegenstand der modernen Stadt entwickelnder Wissenschaftsdisziplinen begreift und darstellt. Als erste versucht sie, "Städtebaugeschichte als Wissensgeschichte" (22) zu schreiben und gibt so ihre von Foucault inspirierte Tradition der Wissenschafts- als Diskursgeschichte zu erkennen.

Im Prolog zu ihrem Buch nimmt auch sie die Berliner Städtebau-Ausstellung 1910 zum Ausgangspunkt, sieht aber in den Übersichtsplänen, "die von statistischen Karten nicht zu unterscheiden waren" (11), eine ganz andere Sprache als in den Architektur-Schaubildern am Werke: "Auf ihnen durchdringen Grünzüge den Stadtraum und lösen ihn von den Rändern her auf, Straßen und Eisenbahnen bilden dichte Netze und schließen Umland und Zentrum kurz, Farbflächen weisen Industriegebiete aus und bestimmen die Bauklassen und damit die Höhenentwicklung der Stadt wie die Dichte ihrer Bevölkerung" (16). Programmatisch findet sich daher Richard Petersens Darstellung der Bevölkerungsdichte Berlins - als Punktwolke im Natur- und Verkehrsraum (Spree/Havel, Kanäle, Ausfallstraßen, Eisenbahnlinien) - auf dem Umschlag ihres klug argumentierenden und das Feld neu vermessenden Buches.

Die Stadtbaukünstler heutiger Zeit sehen dagegen den Wettbewerb von 1910 als "eine erste und letzte Synthese, die Pläne neuen Maßstabs entwarf, mit denen Stadt- in Regionalplanung überging, Verkehrsnetze ausgebaut, Grünzüge gesichert und der Wohnungsfrage begegnet wurde, also alle Fragen eines modernen Städtebaus thematisiert wurden, und die zugleich 'um die städtebauliche Form' [Bodenschatz] rang, also versuchte, die um 1800 verloren gegangene Einheit von Architektur und städtebaulichem Plan wiederherzustellen." Dem entgegnet die Autorin, dass dabei verkannt werde, dass sich gerade mit diesem Wettbewerb die zweistufige Planung etablierte, die den detaillierten Bebauungsplänen offenere Gesamtpläne vorschaltete, denn mit dem liberalen Eigentumsrecht war die architektonische Gestaltung des ganzen Stadtraums unmöglich geworden. Zwar mussten Verkehrsnetze, Grünzüge und Höhenentwicklung festgelegt, der konkreten baulichen Entwicklung sollte aber Spielraum gelassen werden: "Und weil die Stadtentwicklung nicht mehr im Detail bestimmbar war, stützten sich die Städtebauer auf Statistiken, um daraus allgemeine Trends abzuleiten, und deshalb nahmen ihre Pläne auch den Charakter statistischer Karten an, die eine ganz neuartige Suche nach 'Form' anleiteten". Die Pläne wuchsen im Maßstab, nahmen immer weitere städtebaulichen Themen in sich auf und abstrahierten von konkreter Architektur, womit nicht nur die Pläne, sondern auch die Städte abstrakter wurden. "Der Wettbewerb Groß-Berlin erweist sich so weniger als Versuch einer - unmöglich gewordenen - Synthese, die Formen der alten Stadt zu neuer Größe aufbläst, sondern als Markstein auf dem Weg zur 'funktionalen Stadt'" (16f.).

Das Originelle an Kamleithners Ansatz ist es, dass sie jenseits der nach 1900 aufbrechenden ästhetischen Polarisierung von Akademisten und Avantgardisten die Kontinuität des modernen städtebaulichen Denkens nach 1800 und bis zum vierten CIAM-Kongress 1933 - der die "funktionelle Stadt" ausrief - verfolgt. Dabei nimmt sie "vor allem den als Wissenschaft verstandenen Städtebau in den Blick, der sich auf Wissenstransfers aus Hygiene, Statistik und Nationalökonomie stützte" (23).

In zehn, dicht und brillant geschriebenen Kapiteln rekonstruiert sie diese Wissensgeschichte, die zeigt, "dass die Städtebaubewegung, bevor Ingenieure und Architekten das Feld zu dominieren begannen, wesentlich transdisziplinär war und von Hygienikern, Statistikern, Ökonomen, Wohn- und Sozialreformern getragen wurde" (28).

Die Formierung der Stadt als Wissensobjekt war nach 1800 durch die Metapher der Stadt als sozialer Organismus geleitet und zeigte die Ablösung eines älteren Planungsdenkens an, "dessen Ideal ein Staat war, der so gleichmäßig läuft wie die Mechanik eines Uhrwerks" (30). Im ersten Kapitel treten die Heroen der neuen Stadtplanung auf: Ildefonso Cerdás und Werner Hegemann, der sich kritisch auf James Hobrecht bezog. Das zweite Kapitel beleuchtet den Aufstieg der Statistik und der Kartografie, das dritte die Ökonomie städtischer Raumproduktion - von den Thünen'schen Ringen über Johann Georg Kohls Siedlungsgeografie, Julius Fauchers Filtering-Theorie bis hin zu Rudolf Eberstadts Theorie der "natürlichen" Bodenwerte, die "Grundrentenverlauf und Stadtsilhouette" gleichsetzte.

Das vierte Kapitel widmet sich dem Diskurs vor 1800, der Stadt noch als ästhetische Einheit dachte. Kamleithner erinnert an zeitgenössische Stimmen, wonach die "nach Einem Plane gebaute Stadt" die Bewohner als bloßes Werkzeug einer fremden (absolutistischen) Willkür vorführe (Johann August Eberhard 1804, 136) und der Versuch, "die Ackerbürgerstädte in ansehnliche Provinzialstädte" zu verwandeln, "auch leicht ein Mißverhältnis zwischen dem äussern Glanz und dem innern Wohlstand der Städte" hervorbringe (Leopold Krug 1805, ebd.).

Die Ablösung des mechanisch-obrigkeitsstaatlichen Planungsdenken war wesentlich durch die "Hintergrundmetaphorik" (Hans Blumenberg) des Organischen, durch die Verbindung von Hygiene- und Städtebaubewegung geleitet. Dem geht die Autorin im fünften Kapitel nach. Zirkulation und Regulation waren das Gebot der Stunde, um Verstopfungen und Gestank in sozialer, hygienischer und moralischer Hinsicht aufzulösen, wurde die "kontinuierliche Zirkulation" (Edwin Chackwick) empfohlen, wobei die "Vorstellung von 'Regulation' [...] zwischen organischer Selbstregulation, therapeutischem Eingriff und Regelungstechnik" (147) changierte. Natürlich: das Bündnis von Virchow und Hobrecht für Berlin, die Kanalisation als Kapillarsystem des Stadtkörpers. Es folgen die Kapitel zur Planung als Verkehrsplanung, als Erziehungsarbeit und als marktbasierte Regulierungsplanung (durch Zonenbauordnungen, Entwicklungspläne und Strukturmodelle). Im vorletzten Kapitel reflektiert Kamleithner das Verhältnis von Planung und Liberalismus. Quer zu den üblichen Darstellungen, werden von ihr die Anfänge der Städtebaureform selbst als liberal markiert. Erst die Regulierung der Verkehrsströme des organisch aufgefassten Stadtkörpers und die Zonierung nach verschiedenen Nutzungen machen die ökonomische Stadtentwicklung auf der Basis privaten Grundeigentums möglich. So kann sie zeigen, dass Stadtforschung und Stadtplanung reflexiv aufeinander bezogen sind, während die treibende ökonomische Kraft dahinter im privaten Eigentum an Grund und Boden gründet. Auch die Kommunalisierung der Infrastrukturen und später die tendenzielle Dekommodifizierung des Bodens ließen sich, so kann man hier lernen, mit dem Liberalismus verbinden, denn der Kapitalismus hängt wesentlich am privaten Mobiliareigentum, nicht notwendig aber am immobilen Privateigentum.

Das zehnte Kapitel "Der Raum der Planung" besichtigt das Ergebnis der Verwissenschaftlichung der Disziplin, den Zirkel aus Stadtforschung und Stadtplanung: "Die Wirkmächtigkeit des vierten CIAM-Kongresses von 1933 lag darin, dass er ein längst existierendes Stadtbild auf den Punkt brachte" (292). Die Teleologie der modernen Stadtplanung war ein Resultat ihrer Verwissenschaftlichung. Sie verstärkte die real stattfindenden Marktentwicklungen durch Planungsbemühungen und ließ sie als alternativlos erscheinen: die Citybildung, die Schaffung sozial differenzierter Wohngebiete an der Peripherie der Stadt und die Trennung von Arbeiten, Wohnen und Erholung. Ihr Endprodukt war die funktionale, d.h. die fordistische Stadt, die heute längst überholt ist. Ohne die Berücksichtigung des Eigencharakters der Städte, der individuellen Wünsche und Perspektiven der Bewohner sowie der ökologischen Herausforderungen lässt sich heute Stadtplanung nicht mehr denken.

Es macht den diskurstheoretischen Ansatz des Buches von Kamleithner aus, dass sie das städtebauliche Denken seit 1800 auf faszinierende Weise neu und eigenständig beleuchtet. Dabei induziert sie unablässig Fragen: Was sind die Hintergrundmetaphern des Städtischen heute, wie wäre ein neues Bündnis der Wissenschaften des Städtischen und der Akteure und Akteurinnen der Stadtproduktion zu begründen, welche ästhetische Theorie braucht es für ein differenziertes Gestalten des urbanen Raums in all seinen Dimensionen? Man darf gespannt sein, welche Antworten Christa Kamleithner auf diese Fragen zukünftig geben wird. Dabei ist jetzt schon klar: Was es nicht braucht, ist ein neues Oberkommando der Stadtbaukunst.

Thomas Flierl