sehepunkte 21 (2021), Nr. 7/8

Heinrich Oberreuter (Hg.): Staatslexikon

Mit der Verlässlichkeit eines Schweizer Uhrwerks erscheint unter Leitung von Heinrich Oberreuter seit 2017 jedes Jahr ein Band des neubearbeiteten "Staatslexikons". [1] Vom ursprünglichen Plan musste nur insofern abgewichen werden, als sich ein sechster Band anschließen wird, der neben den restlichen Lemmata auch diverse Verzeichnisse und ein Register enthalten soll. Erfreulicherweise gibt es - mitfinanziert von der Deutschen Bischofskonferenz - eine zeitverzögert freigeschaltete, kostenlose Onlineversion, die auch eine Volltextsuche bietet. [2]

Das "Staatslexikon" hat als katholisch geprägtes, einst als Gegengewicht zur dominierenden liberalen Schule gegründetes Referenzwerk eine lange und interessante Tradition, die W. Becker und R. Morsey im vorliegenden Band knapp referieren (616-621). [3] Dennoch sieht sich in Zeiten von Wikipedia ein gedrucktes Lexikon selbstverständlich mit der Frage seiner Existenzberechtigung konfrontiert - selbst die ehrwürdige "Encyclopedia Britannica" gibt es nur noch digital. Verlag und Herausgeber der nunmehr achten Auflage heben im Vorwort zu Band 1 hervor, dass Informationen und Fakten heute relativ leicht zugänglich seien; jedoch mangele es "an problemorientierten Analysen, die uns die Komplexität unserer Gegenwart verständlich und - wo nötig und angemessen - auch interdisziplinär und multiperspektivisch erschließen helfen". In diesem Sinn ist das Werk im Umfang deutlich reduziert worden: Umfasste die vorige Auflage in fünf Bänden jeweils wohl mehr als 15 Millionen Zeichen, sind es nun knapp 9 Millionen pro Band. Die Beschränkung führt nicht zuletzt zu einem vergleichsweise günstigen Preis, der unter dem liegt, was für viele andere Fachlexika hingeblättert werden muss - man hofft offenbar auch auf Privatkäufer. Die Seiten sind in diesem Sinn großzügiger und leserfreundlicher gedruckt. Weitgehend fehlen Diagramme, Übersichten und statistische Tabellen; für aktuelle Daten ist das Internet gewiss die bessere Adresse. [4] In der vorangegangenen Ausgabe gab es zwei Zusatzbände (1993/94) mit umfassenden Informationen zu den "Staaten der Welt"; dergleichen ist nun ebenfalls entfallen, ebenso Artikel zu den Bundesländern, und in der Tat veralten gedruckte Länderkunden noch schneller als Sachstichwörter. [5] Nicht ganz konsequent gibt es jedoch Einträge zu Staatenverbindungen, die freilich zwischen der UNO (1315-1339) und dem Nationalstaat in der Tat neue Akzente in die Internationalen Beziehungen gebracht haben (in Bd. 5: "Southern African Development Community", "Unión de Naciones Suramericanas" und "Vereinigung Südostasiatischer Nationen", besser bekannt als ASEAN; ferner die Artikel "Staatenverbindungen" und "Staatenverbund"). Beibehalten wurden hingegen Einzelartikel zu wichtigen Parteien; im vorliegenden Band finden sich so die sozialdemokratischen Parteien in den deutschsprachigen Ländern behandelt.

Der Zufall des Alphabets sorgte wohl mit dafür, dass im vorliegenden Band unerwartete Einträge relativ selten sind - es war einfach zu viel Kerngeschäft zu erledigen. Das gilt selbstverständlich für "Staat" (9 Autoren, über 40 Spalten) und zahlreiche Komposita (ca. 170 Spalten), ebenso für die Zusammensetzungen mit "Soziale" und "Sozial-". Die in früheren Ausgaben streitbar katholische Prägung des erstmals kurz nach dem Kulturkampf publizierten Werkes ist in den Wertungen nunmehr kaum noch spürbar, doch dass die Kirche und kirchlich geprägte Köpfe breite und tiefe Spuren auf dem Themenfeld hinterlassen haben, zeigt sich in Stichwörtern wie "Sozialenzykliken" (20 Spalten!) und "Sozialer Katholizismus". Auch "Subsidiarität" hat 20 Spalten bekommen; dabei kommt die katholische Position jedoch nur im disziplinären Unterlemma "Sozialethik" zu Wort, den größeren Teil nehmen "Wirtschaftswissenschaften", "Politikwissenschaft" und "Rechtswissenschaft" ein. Mitunter liegen die Perspektiven in solchen Kompositartikeln recht weit auseinander, was durchaus gewinnbringend sein kann. So spannt M. Hochgeschwender im historischen Teil von "Tradition" (1085-1089) einen weiten ideengeschichtlichen Bogen, während A. Zingerle im soziologischen Teil dem Stellenwert von Tradition in Max Webers Soziologie und Universalgeschichte breiten Raum gibt (1089-1094) und P. Walter (1094-1096) Tradition als grundlegenden Lebensvollzug der Katholischen Kirche sowie als theologisches Erkenntnisprinzip vorstellt. Seine Bilanz ist salomonisch und repräsentiert wohl den Grundtenor des "Staatslexikons" auf dieser Ebene: In der neueren römisch-katholischen Theologie werde die "Entscheidungskompetenz des Lehramts keineswegs bestritten, aber die Vielfalt der Bezeugungsinstanzen kirchlicher Lehre, wie etwa der Theologie und des Glaubenssinns der Gläubigen, und deren aktive Beteiligung an der Rezeption und Weiterentwicklung des überkommenen Glaubens herausgestellt". Doch schien der "synodale Weg" den Herausgebern wohl noch zu frisch, um ein eigenes Lemma zu erhalten.

Zum erwähnten Kerngeschäft gehört schließlich "Verfassung" (D. Grimm, 1336-1351, bis auf den Ausblick "Zukunftsaussichten" fast unverändert aus der Vorauflage übernommen). Trotzdem fehlen Kristallisationskerne neuerer Debatten selbstverständlich nicht; erwähnt seien "Social Media" und "Soziale Netzwerke", ferner "Stammzellenforschung", "Targeted Killing", "Tierethik", "Triage", "Vernetzung", "Verschwörungstheorien" und "Virtuelle Realität". Manche Sache ist an sich älter, hat aber an Aktualität gewonnen; so ist "Staatsschuldenkrise" zu einem eigenen Stichwort gekommen. Komposita mit "Umwelt-" gibt es selbstverständlich auch (1143-1172). Die Stoßrichtung des "Transhumanismus" (1101-1105) sieht S. L. Sorgner wohl zutreffend darin, "mit der westlichen Geistesgeschichte zu brechen, welche durch die Idee einer unveränderlichen, an eine unsterbliche, immaterielle, gottebenbildliche Vernunftseele gekoppelte Natur des Menschen geprägt ist". Kritik am Ziel, "mittels moderner Techniken die gegenwärtigen Grenzen des Menschseins zu sprengen, um die Wahrscheinlichkeit der Entstehung des Posthumanen zu fördern", lässt der Autor in einem langen Habermas-Zitat zu Wort kommen, während der Hinweis auf "spannende Debatten" und eine "große Vielfalt an Konzepten" wohl aufkommendes Unbehagen besänftigen soll. Doch die Marschrichtung ist klar: "Je stärker genetische Innovationen und Digitalisierungsprozesse unsere Lebenswelt und auch unser menschliches Selbstverständnis verändern werden, desto relevanter werden transhumanistische Überlegungen." Willkommen in der Schönen Neuen Welt!

Der Sache nach benachbarte Artikel weisen wegen der Pluralität der Stand- und Sehepunkte bisweilen produktive Spannungen auf. So mündet der primär ideengeschichtlich ausgerichtete Artikel "Sozialdarwinismus" (M. Vogt, 199-201) in eine scharfe Kritik an der Soziobiologie, die "das sozialdarwinistische Deutungsmuster des Fortschritts durch Daseinskampf auf der Basis genetischer Theorien in radikaler Weise ausweitet und auch auf das menschliche Verhalten anwendet". Im Lemma "Soziobiologie" hingegen zeichnet E. Voland (411-413) ein sehr viel differenzierteres Bild dieses naturwissenschaftlichen Versuchs, "tierliches und menschliches Sozialverhalten auf der Basis der Darwinischen Evolutionstheorie zu erklären"; demnach gelte in der Fachwelt die so genannte Hamiltonsche Wende der Evolutionstheorie als vollzogen; sie bilde "das derzeit breit akzeptierte Fundament aller modernen theoretischen und empirischen Biologie". Vogts Sicht würde Voland wohl unter "emotionalisierte Widerstände" buchen - die immerhin zu einem semantischen Ausweichmanöver führten: Heute habe sich anstatt von Soziobiologie "bei praktisch gleichem Erkenntnisinteresse (...) der Begriff 'Verhaltenökologie' (Behavioural Ecology) eingebürgert".

Auch im vorliegenden Band ist eine gewisse Enthistorisierung unverkennbar: Geschichtliche Überblicke, die Phänomene über die Epochen verfolgen, sind gegenüber der vorigen Auflage ausgedünnt. Es gibt jedoch Ausnahmen, etwa im Artikel "Theokratie" (J. Gebhardt, 1010-1016), wo der antik-jüdische Hintergrund sogar recht ausführlich beleuchtet ist. Auch der Artikel "Umweltpolitik" (1157-1166) aus der Feder des ehemaligen Ministers K. Töpfer greift ins Römische Reich und die Frühe Neuzeit zurück. Im Lemma "Vertragstheorien" verknüpft H. Ottmann die Positionen seit der Antike mit aktuellen Debatten um und nach J. Rawls. "Solidarität" (156-177) ist sogar stärker als in der 7. Auflage ideengeschichtlich unterfüttert, was willkommen ist, da sie in "Geschichtliche Grundbegriffe" als Stichwort fehlt. Wie viele Artikel ist auch dieser disziplinär unterteilt (s.o.; hier in: sozialethisch, rechtlich, soziologisch); weil die Teilartikel verschiedene Verfasserinnen und Verfasser haben, kommt es bisweilen zu Doppelungen, im genannten Fall wird die Position E. Durkheims zweimal referiert. Gänzlich oder stark historisch ausgerichtete Einträge sind etwa "Shoa" (D. Pohl, 106-115), "Sklaverei" (M. Hochgeschwender/D. E. Khan, 128-137), "Stalinismus" (H. Altrichter, 706-712), "Stand" und "Ständestaat" (R. v. Friedeburg, 719-722; R. Klieber, 722-725), "Totalitarismus" (B. Zehnpfennig, 1076-1080) und "Unabhängigkeitsbewegungen" (M. Hochgeschwender, 1173-1175). An Disziplinen sind "Sozialwissenschaften" (F.-X. Kaufmann u.a., 405-411), "Soziologie" (A. Nassehi / I. Saake, 413-422), "Staatswissenschaft" (W. Bleek, 675-678) und "Sozial- und Wirtschaftsgeschichte" (M. Spoerer, 194-199) zu nennen. Der Verknappung gegenüber der Vorgängerauflage geschuldet gibt es keine Personenartikel mehr, was in Fällen wie K. Schumacher, W. Ulbricht oder F. J. Strauß sicher zu verschmerzen ist. Hingegen werden Einträge zu Schumpeter, Simmel, Smend, Sombart oder Tönnies schon vermisst, und ohne Ordnungsdenker wie Thomas von Aquin [6], Tocqueville, F. J. Stahl sowie L. v. Stein geht in diesem "Staatslexikon" eindeutig historische Tiefenschärfe verloren; zudem kann der knappe Artikel "Staatslehre" (F. Meinel, 611f.) kaum mehr als selektives name dropping bieten. Hier wie auch für die genannten Denker und Wissenschaftler lohnt ein Blick in die 7. Auflage.

Ein leider konstantes Manko sind die Bibliographien am Ende jedes Artikels, die sehr ungleichmäßig ausfallen. Das starre chronologische Anordnungsprinzip - neueste Titel zuerst - verhindert eine gewichtete systematische Anordnung, etwa nach neueren Überblickswerken, Klassikern und richtungweisenden Forschungsbeiträgen; das machen andere Lexika deutlich besser. Absurderweise werden Quellenwerke nach dem Erscheinungsjahr der benutzten Ausgabe eingeordnet; so rückt in der Liste zu einem Teilartikel von "Staat" Rousseaus "Gesellschaftsvertrag" an die fünfte Position, weil der zitierte Abdruck 2000 erschienen ist; mit M. Weber und Hegel ist es ähnlich. Unter "Vertragstheorien" (s.o.) steht Engelbert von Admont, ein Autor des 14. Jahrhunderts, in einer aktuellen Edition an der Spitze, vor J. Rawls. Im Artikel "Verfassungsgeschichte" wird E. R. Huber im Kontext der Ideologisierung und Funktionalisierung des Faches im Nationalsozialismus erwähnt, doch weder sein einschlägiges Werk aus dieser Zeit noch die monumentale und noch immer unentbehrliche "Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit" erscheinen in der Bibliographie. Besonders zufällig und erratisch erscheint die Literaturauswahl im Artikel über die SPD; hier fehlen so gut wie alle Grundlagenwerke sowie Quellenressourcen. Für die Zeit nach 1990 sind genau fünf Titel gelistet, an der Spitze das Abrechnungsbuch eines ehemaligen Kanzlerkandidaten, am Ende R. Michels' Klassiker "Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie" (1911!).

Lexika im Regal sind längst nicht mehr Symbole von Status und Bildung - und beim Umzug lästig. [7] Den Jüngeren ist der Griff nach ihnen nicht mehr selbstverständlich, oft sogar fremd. Doch wir haben gelernt, auch die Materialität von Wissen sowie medial geprägtes Rezeptionsverhalten ernst zu nehmen. Wer die griffigen blauen Leinenbände aufschlägt und sich in ihnen festliest, erhält mehr als die schnelle Klick-Information; im besten Fall regt es zur entschleunigten Reflexion an und stiftet Ordnung im Kopf, eine Ressource, von der es kaum je genug geben kann. Nativen Digital-Hoppern fällt das nachweislich schwerer. Nicht zuletzt deshalb verdient das neue "Staatslexikon", trotz der Mängel in den Bibliographien, viele aufmerksame Leserinnen und Leser.


Anmerkungen:

[1] Die Bände 1 bis 4 hat der Rezensent an anderer Stelle besprochen; s. geschichte für heute 11/1 (2018), 76-81 (Bd. 1); 12/3 (2019), 81f. (Bd. 2); 13/2 (2020), 98 u. 100f. (Bd. 3); 14/2 (2021), 101f. (Bd. 4). Auch der vorliegenden Rezension liegt keine Lektüre von Deckel zu Deckel zugrunde.

[2] https://www.staatslexikon-online.de. Bis Juni 2021 waren die Bände 1 und 2 (ABC-Waffen - Migration) freigeschaltet.

[3] Die vor dem Ersten Weltkrieg erschienene 3. Auflage ist als pdf-Scan bei archive.org zu finden.

[4] Eine Ausnahme ist der Artikel "Vermögensverteilung" (1407-1417).

[5] Allerdings findet sich in Bd. 5 ein recht ausführlicher Artikel "Schweiz", wie zuvor schon "Österreich", während etwa Frankreich, die Niederlande und Polen, um nur weitere Nachbarn Deutschlands zu erwähnen, fehlen.

[6] Einen gewissen Ersatz bietet "Thomismus" (1034-1039).

[7] Der Verlag bietet das Werk selbstverständlich auch als E-Book und als App an (zum gleichen Preis).

Rezension über:

Heinrich Oberreuter (Hg.): Staatslexikon . Recht - Wirtschaft - Gesellschaft. Bd. 5: Schule - Virtuelle Realität, 8., völlig neu bearb. Aufl., Freiburg: Herder 2021, 768 S., ISBN 978-3-451-37515-6, EUR 88,00

Rezension von:
Uwe Walter
Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld
Empfohlene Zitierweise:
Uwe Walter: Rezension von: Heinrich Oberreuter (Hg.): Staatslexikon . Recht - Wirtschaft - Gesellschaft. Bd. 5: Schule - Virtuelle Realität, 8., völlig neu bearb. Aufl., Freiburg: Herder 2021, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 7/8 [15.07.2021], URL: https://www.sehepunkte.de/2021/07/35959.html


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