Rezension über:

Anna Collar / Troels Myrup Kristensen (eds.): Pilgrimage and Economy in the Ancient Mediterranean (= Religions in the Graeco-Roman World; Vol. 192), Leiden / Boston: Brill 2020, XVI + 369 S., zahlr. Farbabb., ISBN 978-90-04-42868-3, EUR 164,85
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Rezension von:
Maik Patzelt
Universität Osnabrück
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Maik Patzelt: Rezension von: Anna Collar / Troels Myrup Kristensen (eds.): Pilgrimage and Economy in the Ancient Mediterranean, Leiden / Boston: Brill 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 9 [15.09.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/09/34755.html


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Anna Collar / Troels Myrup Kristensen (eds.): Pilgrimage and Economy in the Ancient Mediterranean

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Der vorliegende Band vereint jüngste Trends in der Erforschung vormoderner Religionen. Ausgehend von Karl Polanyis Konzept einer embedded economy setzen sich sämtliche Beitragenden zum Ziel, die komplexen Austauschprozesse, mit denen die religiösen und der ökonomischen Sphären des antiken Pilgerwesens verwoben und verflochten waren, offenzulegen. Die materiellen Zeugnisse antiker Pilgerstätten dienen hierbei, ganz im Geiste aktueller Ansätze zur material culture, als Nadelöhre, durch die eine komplexe und zuvorderst relationale Gemengelage aus Ökonomie, Glauben und Praxis entfaltet wird. Auf diese Weise vermag es der vorliegende Band nicht nur, neues Licht und neue Perspektiven auf die ökonomischen Infrastrukturen religiöser Stätten zu werfen.

Der Band ermöglicht damit vor allem einen Blick, der von "staatlich" gelenkten Pilgerstrukturen weglenkt und sich den individuellen Annäherungen an Pilgerreisen und die damit zusammenhängenden Bedingungen und Erfahrungen zuwendet. Die methodische Vielfalt, mit der sich dieser gemeinsamen Aufgabe genähert wird, lässt wiederum ganz neue Ansätze entstehen, mit denen religiöse Praxis in ihrem näheren sozialen, politischen und ökonomischen Umfeld verstanden und entschlüsselt werden kann. Dies beträfe etwa den Vorschlag, das antike Pilgerwesen als Verdichtungsphänomen von narrative networks (Eidinow) oder braided networks (Whiting) zu verstehen, die jeweils religiöses und ökonomisches Handeln miteinander verweben und in die politische und soziale Realität einbetten.

Diesem komplexen Netzwerk- und Verflechtungsmodell eingedenk gliedert sich der Band in die Sektionen Movements, Communities und Transactions. Methodisch und inhaltlich bewegen sich die Leser*innen in Richtung Pilgerstätte und dringen dabei immer tiefer in die damit verwobenen Handelsstrukturen und Gabentauschprozesse vor. Die Reise führt über Straßen (Collar) und Unterkünfte (Whiting, Jensen) zu Pilgerstätten wie Delphi (Aurigny, Eidinow), zu den Klöstern Ägyptens (Blanke) bis ins heutige Syrien (Kristensen). Dabei bietet der Band neben literarischen und hagiographischen Quellen (Jensen, Blanke) umfassende Einblicke in die archäologischen (Aurigny, Collar, Jensen, Blanke, Ritter) und epigraphischen (Kirstensen, Horster, Kowalzig) Zeugnisse des Pilgerns in einem Zeitraum von über 1.500 Jahren. Den Abschluss bildet die Sektion Sociological and Comparative Perspectives, in denen Barbara Kowalzig und Dan-El Padilla Peralta den Versuch wagen, in die ephemere Aushandlung religiöser, sozialer und ökonomischer Normen des Gabentauschs vorzudringen. Dieser Weg sei im Folgenden kurz skizziert:

Soweit es den Weg zum Heiligtum betrifft, machen Anna Collar (33-61) und Marlena Whiting (62-90) deutlich, dass sich den Pilger*innen allein auf dieser Reise eine komplexe Welt entfaltete. Durch die Verwebung von politischen, ökonomischen und religiösen Entscheidungen entstand eine Infrastruktur (Whiting), die selbst zu erleben die religiöse Erfahrung des Pilgerns wesentlich beeinflusste. Allein der entbehrliche Reiseweg hinzu und vor allem auf ein Bergheiligtum konnte, so Collar, eine spirituelle Erfahrung erheblich fördern.

Am Ort des Geschehens angekommen, widmet sich die zweite Sektion den sozialen und ökonomischen Bedingungen, auf die Pilger*innen stoßen konnten. Dabei begnügt sich die Sektion nicht mit der Beobachtung, dass Menschen, sobald sie zusammenkommen, einen erhöhten Bedarf an Unterkünften (Jensen, 140-159), Lebensmitteln und Devotionalien (Aurigny, 93-115) erzeugten. Diese Zusammenkünfte förderten auch Wettbewerb und Rivalitäten zwischen Individuen und Gemeinschaften, die sich durch bronzene Tripoden (Aurigny) oder durch Ausrichtung der jährlichen Feste eine bessere Sichtbarkeit verschafften, was letztere zu bedeutenden Medien antiker Diplomatie und überregionaler Vernetzung machte (Horster, 116-139). Diese Art saisonaler Massentourismus prägte die lokalen Strukturen erheblich und führte nicht zuletzt in eine wirtschaftliche Abhängigkeit, die wiederum einen Wettbewerb beflügelten.

Die dritte Sektion lenkt den Blick von den ökonomischen Bedingungen des Erwerbs hin zum Gabentausch selbst. Dabei dringt die Sektion tief in die verschiedenen Deutungs- und Analysedimensionen vor, die seit Marcel Mauss die Gabentheorie dominieren. Es geht also nicht mehr allein um den sozialen Zwang, der beispielsweise die Gabe einer eulogia mit einer Spende vergelten lässt (Ritter, 254-284). Der Band macht in erster Linie darauf aufmerksam, dass der Gabentausch und die dazugehörigen, ephemeren Räume (Kristensen, 204-227) eine ökonomische und zuvorderst religiöse Erfahrung bedingten, die einerseits normenbildend und normenverändernd war (Naiden, 163-186) und andererseits dazu beitrug, das Wesen der und vor allem das individuelle Verhältnis zu den Göttern über Narrative, die mit dem Gabentausch verwoben waren, nachhaltig zu prägen (Eidinow, 187-203). Der Blick fällt hierbei nicht nur auf "klassische" Gaben, wie die erwähnten Tripoden, sondern auch auf Gaben, die sich gerne unserem Radar entziehen - so etwa Früchte, Geld und Kollekten (Naiden, Ritter). Der Band, so wird deutlich, verliert nicht den Blick auf die "Nebenschauplätze" des Pilgerns, wie die multifunktionalen Räumlichkeiten der Heiligtümer (Kristensen) oder den eher kurzen Aufenthalten (Blanke, 228-253), die über kleinere Dienstleistungen wie Taufe, Segen, Heilung oder Gebet eine ganz eigene ökonomische Infrastruktur ermöglichten.

Die Beiträge des Bandes teilen die Beobachtung, dass das zeitweilige Aufeinandertreffen zahlloser Menschen einen Raum sui generis schaffen musste. In der abschließenden Sektion wird diese Beobachtung um ein theoretisches Angebot erweitert, dass die Aushandlung lokaler Normen, Moralität und Erwartungshaltungen zu erfassen versucht. Dabei wird sowohl dem im Gabentausch ruhenden Prozessen der Vertrauensbildung (Kowalzig, 287-328) als auch der ständigen Beobachtungssituation anwesender Götter(statuen) erhebliche Bedeutung beigemessen (Peralta, 329-356).

Nicht zuletzt dieser abschließende Fokus, der die Pilgernden in ihrer sozialen, religiösen und wirtschaftlichen Umwelt erfasst, verortet den Band mitten in eine Debatte, die den Individuen, ihren "gelebten" Praktiken und Erfahrungen sowie ihren Narrativ- und damit Glaubensbildungsprozessen nachspürt. Einzelne Beiträge, die ihre Beobachtungen auf die Verhaltenspsychologie (Peralta), Geoinformationssysteme (Collar) oder Netzwerktheorie (Eidinow, Whiting) stützen, bieten uns damit Einblicke, die über die ökonomische Verflechtung hinausgehen. Sie führen uns vor Augen, wie sich pilgernde Individuen in (ephemere) soziale Räume einbetteten und hierin ihre Motivationen und Verhaltensstrategien entwickelten.

Damit befindet sich der Band in vielerlei Hinsicht auf der Höhe der Forschung und trägt dieser so bei. Defizite ergeben sich höchstens in der Themenwahl. So wäre in Anbetracht derzeitiger Forschungstendenzen ein Blick auf die subalternen Akteure erhellend gewesen. Dies beträfe vor allem Sklaven und Frauen, die in dieser Assemblage an Handlungen, Wahrnehmungen und Austauschverhältnissen zweifellos einen wesentlichen Beitrag geleistet hatten.

Maik Patzelt