Rezension über:

Jan Siefert: Alterität im Geschichtsunterricht. Diagnose des (Fremd-)Verstehens in der Sekundarstufe I am Beispiel der Implementierung japanischer Geschichte (1600-1912) (= Geschichtsdidaktische Studien; Bd. 6), Berlin: Logos Verlag 2020, 494 S., ISBN 978-3-8325-5121-6, EUR 64,00
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Rezension von:
Thomas Must
Didaktik des Sachunterrichts, Universität Vechta
Redaktionelle Betreuung:
Fiona Roll
Empfohlene Zitierweise:
Thomas Must: Rezension von: Jan Siefert: Alterität im Geschichtsunterricht. Diagnose des (Fremd-)Verstehens in der Sekundarstufe I am Beispiel der Implementierung japanischer Geschichte (1600-1912), Berlin: Logos Verlag 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 10 [15.10.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/10/35789.html


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Jan Siefert: Alterität im Geschichtsunterricht

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Alterität als Prinzip des Geschichtsunterrichts schien noch bis vor wenigen Jahren eher weniger Aufmerksamkeit zu erhalten. Ulrich Baumgärtner bezeichnete es noch 2015 lediglich als fakultativ. [1] Debatten über inter- und transkulturelles Lernen - ausgelöst von der Notwendigkeit, endlich auf Wandel und Heterogenität der Gesellschaft ernsthaft zu reagieren - motivierten schließlich eine längst überfällige Beachtung für Lern- und Bildungsprozesse. Das vorliegende Werk ist diesen neuerlichen geschichtsdidaktischen Bemühungen zuzuordnen.

Auf fast 500 Seiten mit acht Kapiteln beschäftigt sich Jan Siefert mit Alterität und deren empirischer Erfassung im Geschichtsunterricht, gemäß dem Titel beispielhaft anhand japanischer Geschichte. Er geht in der Hauptsache der Frage nach, wie im Konkreten Perspektivübernahme als Kompetenz gefasst und sichtbar gemacht werden kann (17-22). Es handelt sich dabei um seine vermutlich 2019 eingereichte Dissertationsschrift. Wann genau und ob sie für die Publikation überarbeitet wurde, erfährt man leider nicht. Nach der Einleitung folgt das mit Abstand umfassendste Kapitel, der Forschungstand zu Alterität, empirischer Messung von Kompetenzen und fachwissenschaftlichem Kontext japanischer Geschichte. Kapitel drei bis fünf führen dann an die Konstruktion des Forschungssettings heran, indem die Fähigkeiten der Perspektivübernahme an aktuelle Kompetenzmodelle angebunden, die Auswahl der Messinstrumente und die Konzeption für die unterrichtliche Intervention strukturell beschrieben werden. Schließlich folgt mit Kapitel sechs und sieben die Durchführung der Untersuchung sowie die Vorstellung der Ergebnisse. Kapitel acht stellt eine Zusammenfassung und Reflexion der Untersuchung dar. Zum Werk gibt es noch ein Beiheft, das auf etwa 30 Seiten die Materialien der Unterrichtseinheit und Intervention enthält.

Die Kapitel sind schlüssig aufgebaut, der Ablauf ist nachvollziehbar. Störend sind gelegentlich auffällige Tipp- und besonders Layout- oder Formatfehler wie bei Abständen und Leerzeichen (zum Beispiel gleich zu Beginn, 7), so dass leider der Eindruck entsteht, das Lektorat hätte nicht sehr sauber gearbeitet; so auch bei den vielen redundanten Zwischenzusammenfassungen und -einführungen sowie ausufernden Unterkapiteln (wie 323-347), die durchaus erheblich zu dem stattlichen Umfang des Werks beigetragen haben. Das Beiheft mit den Materialien der Intervention kann sowohl inhaltlich als auch vom Layout (Schriftwechsel, Seitennummerierungen nach Inhaltsverzeichnis et cetera) nur wenig überzeugen, lediglich die Aufgabenstellungen sind weitgehend plausibel. Es handelt sich um selbsterstellte Texte, die von Schüler*innen als Quellen genutzt werden sollen. Einen konkreten Verweis auf verwendete Literatur oder zeitgenössische Quellen gibt es weder auf den entsprechenden Materialseiten noch im gesamten Beiheft, nur lose Hinweise auf Autor*innen beziehungsweise Kapitel der eigenen Dissertation. Jede Seite wird mit Bildern namhafter japanischer Personen oder Situationen illustriert, ohne dass diese irgendwo in den Aufgaben genutzt oder wenigstens mit begleitenden Zusatzinformationen versehen würden; zumal sie - unter anderem fiktiven Rollenspielen entnommen - teilweise von historisch fragwürdiger Qualität sind. Für einen regulären Einsatz im Unterricht sind die Materialien in dieser Form kaum zu empfehlen. Die Begründung des Autors, die Gestaltung der Materialien solle allein die Perspektivübernahme fokussieren (319, 400), ist zumindest im Sinne einer "authentischen" (313) Stunde dahingehend wenig überzeugend.

Die Arbeit besticht durch eine sehr ausführliche und ordentliche theoretische Grundlegung (vornehmlich Kapitel 2), die den Begriff Alterität als Prinzip des Geschichtsunterrichts darstellt und im Kontext aktueller Positionen verortet, dabei auch mutig eigene Ableitungen und Thesen für die Erfassung und Kompetenzorientierung formuliert. Lediglich in Einzelfällen wie bei der Betonung mancher Desiderate und Überlegungen zu Strukturierungsaspekten von Alterität wird dann aber doch deutlich, dass der Blick auf Publikationen gerade der letzten vier Jahre (ab Erscheinen des Werks gerechnet) manchmal zu kurz ausgefallen ist. Literatur nach 2016 findet sich so gut wie nicht, die Aktualisierung zumindest im Zuge einer Überarbeitung für die Publikation wäre wünschenswert gewesen. Stellenweise mag das zu vorschnellen oder veralteten Urteilen beispielsweise zur Forschungslage vorhandener theoretischer Konzeptionen (17) oder empirischer Erfassung von Kompetenzen im Kontext des Geschichtsunterrichts (111) führen und wichtige bereits publizierte Ansätze wie etwa Modelle zur Prozesshaftigkeit von Alterität als Unterrichtsprinzip (186, 187, 226) unberücksichtigt lassen. [2]

Ein Auszug aus der japanischen Geschichte - in erster Linie ein Interessensbereich des Autors (8-11) - dient als Beispiel für die thematische Verortung der Intervention im Unterricht. Als Ausbruch aus dem traditionell westlich-europäisch geprägten Geschichtsunterricht mag das ein interessanter Versuch und die Legitimation insbesondere von Bildungsanspruch und Gegenwartsbedeutung gelungen sein (Kapitel 5.2). Gelegentlich drängt sich aber der Eindruck auf, Alterität ließe sich nur an (bislang noch) derart exotischen Lerngegenständen anbinden (unter anderem 139, 414).

Für die empirische Überprüfung von Alterität wird aber letztlich nur ein Teilaspekt untersucht: Perspektivübernahme wird als Partialkompetenz konzipiert (Kapitel 3) und plausibel operationalisiert (273, 274), schließlich mithilfe von (den im Beiheft abgedruckten) Arbeitsblättern mit konkreten Aufgabenstellungen erfasst. Der Fokus allerdings lag jeweils auf den Aufgaben mit dem Operator "Erklären" (351). Die Durchführung, eine als Intervention gesetzte Unterrichtsreihe zu einem Teilbereich japanischer Geschichte von 1600-1912, erfolgte insgesamt in drei Klassen aus der Jahrgangsstufe 9 / 10 zweier Gesamtschulen in Nordrhein-Westfalen mit unterschiedlichen Lehrkräften. Im Zuge dessen kamen die Arbeitsblätter zum Einsatz. Für die Datenerhebung wurden Schüler*innenantworten zur fokussierten Aufgabe einer qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen und einer eigens dafür entworfenen Graduierung zugeordnet (349-360). Diese besteht aus verschiedenen Niveaustufen, die gezeigte Performanzen in kultur(un)spezifische Beschreibungen, Kontextualisierungen, Erklärungen und Urteile differenzieren sollen (Kapitel 3.2 und 267-277).

Mit den Ergebnissen der Datenauswertung kann Jan Siefert nachvollziehbar und mit kritischen Anmerkungen die bedingte Anwendbarkeit des Forschungssettings sowie die weitgehende Plausibilität der erarbeiteten Niveaustufen und der Kompetenzverortung stützen (Kapitel 7.2 und 8.2). Hinsichtlich der festgestellten Qualität der Schüler*innenantworten sind sie jedoch eher ernüchternd: eine Perspektivübernahme finde kaum auf höheren Niveaus statt (408), verantwortlich dafür sei vor allem die schwache Lese- und Schreibleistung der Schüler*innen, so seine Implikationen (403-408). Obgleich die Ergebnisse aufgrund der eher kleinen Untersuchungsgruppe (anfänglich N = 72, jedoch nur N = 39 nutzbare Datensätze) (349) quantitativ ohnehin wenig aussagekräftig sind, könnte ein anderes wesentliches Problem der Erhebung vielmehr in der Intervention bei den Schüler*innen liegen: Die Aufgaben - im Gegensatz zur vorhergehenden theoretischen Herleitung (186, 187, 226) - verstehen Alterität nicht als Prozess, sondern wollen lediglich die konkrete Perspektivübernahme und davon abgeleitet ein Verstehen belegen (185). Nirgends findet aufgabenorientiert eine Erfassung des individuell Befremdlichen, des Andersartigen und der Abgleich mit den eigenen Präkonzepten statt, was eine essentielle Grundlage darstellt, um den Prozess des Verstehens beziehungsweise besser des Nachvollziehens von Perspektiven in Gang zu bringen. Zumindest kann das ein dem Operator "Erklären" vorangestelltes "Beschreiben" allein kaum leisten (313, 314).

Jan Siefert versucht in seiner Arbeit die Erfassung von Alterität an aktuelle kompetenzorientierte empirische Untersuchungen anzubinden. Nach einer gewinnbringenden theoretischen Auffächerung dieses Prinzips folgt eine empirisch weitgehend nachvollziehbar vorbereitete, allerdings wenig gelungene unterrichtliche Umsetzung, die durchaus auf die Engführung der Perspektivübernahme zurückgeführt werden könnte. Daher lässt sich aus den Ergebnissen selbst für die Unterrichtspragmatik und die Leistungen der Schüler*innen kaum etwas gewinnen. Nichtsdestotrotz können die theoretischen Überlegungen und abschließenden Implikationen zur Erfassung und Kompetenzorientierung von Perspektivübernahme wichtige Impulse für den Diskurs um die Konkretisierung von Alterität als Prinzip des Geschichtsunterrichts leisten.


Anmerkungen:

[1] Ulrich Baumgärtner: Wegweiser Geschichtsdidaktik. Historisches Lernen in der Schule, Paderborn 2015, 69 / 70.

[2] Zu benannten Desideraten auf Seite 17 und theoretischen Modellen siehe unter anderem Martin Buchsteiner [u.a.]: Unterschätzte Prinzipien im Geschichtsunterricht. Personalisierung / Personifizierung und Alterität / Fremdverstehen, Greifswald 2017; zur Seite 111 und der Forschungslage zu Kompetenzen siehe unter anderem die umfassenden Untersuchungen und Publikationen von Jörg van Norden unter: https://pub.uni-bielefeld.de/person/178406 sowie Martin Nitsche unter: https://www.fhnw.ch/de/personen/martin-nitsche (beides zuletzt aufgerufen am 02.09.21).

Thomas Must