2025 - oder die 9. Generation

Von Thomas Schlemmer, Institut für Zeitgeschichte München-Berlin

Wer sind wir, und wenn ja, wie viele? Diese Frage - frei nach Richard David Precht [1] - hat die Kuratorinnen und Kuratoren offensichtlich umgetrieben, als sie die Dauerausstellung für die Jahre nach 1945 konzipiert haben. In den Blick kommen dabei, um in der Generationsmechanik der Ausstellung zu bleiben, die letzte Phase der Generation 6 (1945-1950), Generation 7 (1950-1975), Generation 8 (1975-2000) und Generation 9, die bis an die Schwelle der Gegenwart und sogar darüber hinaus führt. Ich möchte diesen Teil des Museums in vier Schritten vorstellen: Zunächst werde ich einen kurzen Rundgang unternehmen, dann Erzählstrukturen, Deutungsmuster und Narrative hinterfragen, Blindstellen und Desiderata benennen sowie schließlich den Versuch einer abschließenden Würdigung unternehmen.

Die Jahre 1945 bis 1950 bilden eigentlich den Abschluss der mit dem Jahr 1925 einsetzenden Generation 6, de facto bilden sie aber die Basis für die Inszenierung der Geschichte des zweiten Freistaats nach dem Ende des nationalsozialistischen Kriegs. Das wird schon deutlich an der Rückkehr zum gestalterischen Prinzip der "Bühnen", das die Verantwortlichen aus museumspädagogischen Erwägungen heraus für die Darstellung der NS-Zeit aufgegeben haben. Die ersten Nachkriegsjahre stehen - unhinterfragt - im Zeichen des Leitmotivs der Befreiung durch den "freundliche[n] Feind" [2], also die U.S. Army. Davon ausgehend thematisieren verschiedene Erzähleinheiten die Bewältigung der materiellen Kriegsfolgen, die als gescheitert beurteilte Entnazifizierung und den Umgang mit erzwungener Migration im Zeichen von Zwangsarbeit und Deportation beziehungsweise Flucht und Vertreibung. Zu den musealen Leitobjekten der gesamten Ausstellung gehört ein Teil des alten Landtags-Plenarsaals, der - als partizipative Station konzipiert - gleichsam als Brücke zwischen den Generationen fungiert und die Kontinuität bayerischer Staatlichkeit symbolisiert. Dabei fällt auf, dass nach dem Ende von Generation 6 im Jahr 1950 das Erbe des Nationalsozialismus so gut wie keine Rolle mehr spielt. Dieser Schlussstrich ist einigermaßen bemerkenswert, bedenkt man die virulenten erinnerungspolitischen Konflikte in zahlreichen bayerischen Gemeinden und die intensiven Forschungen zu institutionellen und personellen Kontinuitäten, welche die Zäsur von 1945 überdauert haben.

Die Jahre zwischen 1950 und 1975 - Generation 7 - stehen unter der Überschrift "Wiederaufbau - Wirtschaftswunder" und werden, fast schon enttäuschend erwartbar, als Erfolgsgeschichte vom Phönix aus der Asche des Zweiten Weltkriegs und als Modernisierungsgeschichte vom Agrar- zum Industrieland und High-Tech-Standort erzählt. Oder wie es lapidar in einem der Ausstellungstexte heißt: "Das Land der Weltkonzerne wächst auf." Dass das Jahr 1945 für das Publikum einigermaßen weit zurückliegt, macht es leicht, die "Belastungsgeschichte" [3] der NS-Zeit auszublenden; noch nicht einmal das Erbe der Kriegswirtschaft als Kapital für den Wiederaufbau und das weiß-blaue Wirtschaftswunder wird thematisiert. Damit ist auch das dominante Motiv benannt, das eine Kolonne bayerischer Automobile auf dem Weg zum Sehnsuchtsort Neapel symbolisiert: Vorwärts, zur Sonne, zur (Konsum-)Freiheit. Damit verbunden sind Schlaglichter auf den gesellschaftlichen Wandel, wobei die Integration der "Gastarbeiter" im Mittelpunkt steht. Wiederum strahlt das Licht des Erfolgs sehr hell, etwa am Beispiel der italienisch-bayerischen Familie Guarino, die 1971 in Grafenau die erste Pizzeria des Bayerischen Walds eröffnete. Probleme und Fehlsteuerungen werden allenfalls angerissen: "Braucht es überhaupt Integration, wenn die Arbeiter wieder gehen? Es bräuchte sie schon." Der Rest bleibt der Phantasie der Besucherinnen und Besucher überlassen.

Dennoch ist die Problemgeschichte der Wunderjahre zumindest unterschwellig sichtbar, wenn etwa verfehlte Stadt- und Verkehrsplanung, Umweltzerstörung oder drohender Identitätsverlust thematisiert werden. Dieser Erzählstrang ist freilich gebrochen, zuweilen fast versteckt, und wird konterkariert durch den zupackend handelnden Freistaat; er "schafft gleiche Lebensbedingungen" in Stadt und Land (die es bis heute nicht gibt), begegnet der aufkommenden ökologischen Frage mit dem ersten Umweltministerium der Republik und kontert Identitätsprobleme mit einem Denkmalschutzgesetz. So fügen sich auch Schattenseiten in das vorherrschende Erfolgs- und Modernisierungsnarrativ ein, das in eine ausführliche Erzähleinheit zu den Olympischen Spielen von 1972 mündet - Bayern und seine Landeshauptstadt als Repräsentanten "für das moderne Deutschland", wie auf einer Schrifttafel zu lesen ist.

Mit dem Münchner Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel - er "modernisiert München olympisch" - schlägt übrigens der bayerischen Sozialdemokratie gleichsam ihre letzte Stunde; sie spielt bei der folgenden Inszenierung der gegenwartsnahen Zeitgeschichte des Freistaats keine Rolle mehr. Auch andere Institutionen haben im Licht dieser Ausstellungssequenz ihre Schuldigkeit getan. Dazu gehören die in ein "Kulturkabinett" verbannten christlichen Kirchen, dazu gehört auch das Militär, das als Träger staatlicher Souveränität bis zum Ersten Weltkrieg eine wichtige Rolle spielt, dann aber in der Versenkung verschwindet. Und auch von der Landwirtschaft ist nur noch ganz am Rande die Rede, und zwar vor allem dann, wenn es um Bauern als Objekte des erfolgreich bewältigten sozioökonomischen Umbruchs geht.

Dafür haben zwischen 1975 und 2000 - Generation 8 - die Grünen ihren Auftritt. Erscheint die Problemgeschichte von Wachstum und Wirtschaftswunder in den Jahren zuvor wie ein Kollateralschaden des Strukturwandels, so avanciert der politische Protest gegen die dunkle Seite der industriellen Moderne in den "Wendejahren" zu einem zentralen Erzählstrang. Wie in einem Brennglas bündeln sich die Geschichte dieses Protests und des Aufstiegs der Grünen im Widerstand gegen das 1989 schließlich gescheiterte Projekt einer atomaren Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf. Und selbst beim Protest sind die Bayern Spitze: Im Juli 1986 kamen 100.000 Menschen zum 5. Anti-WAAhnsinnsfestival, dem "größten Rockkonzert der deutschen Geschichte". Streckenweise wirkt dieser Teil der Ausstellung wie ein Duell zwischen einer aufmüpfigen Avantgarde der bayerischen Zivilgesellschaft und der allgegenwärtigen Staatspartei CSU, die über das mächtige Parteilogo aus dem alten Franz Josef-Strauß Haus unübersehbar präsent ist. Die Geschichte der Partei bleibt freilich eher blass, die Verantwortlichen konzentrieren sich auf Franz Josef Strauß als polarisierende Schlüsselfigur und auf bekannte Schlagworte wie "Fortschritt aus Tradition", um den Aufstieg der CSU zu erklären. Liest man genauer, so wundert man sich über einige zweifelhafte Formulierungen; dass die "Hauptvertreter" der CSU "national-konservativ geprägt sind", erfährt man auf der Schrifttafel "CSU gleich Bayern?", ebenso dass Ministerpräsident Alfons Goppel "der letzte Landesvater" gewesen sei, obwohl sich mit Fug und Recht behaupten (und zum Gegenstand der Ausstellung machen) ließe, der "Fonse" habe diese Rolle erst erfunden oder zumindest perfektioniert.

Aber es ist die Spannung zwischen der zupackenden Modernisierungspolitik der CSU und der zunehmenden Kritik an den negativen Folgen eines wachstumszentrierten Fortschrittsparadigmas, von der die Erzähleinheiten dieser Sektion leben, zumal sich daraus eine schwarz-grüne Zukunftsprojektion für Bayern ablesen lässt, in der sich diese Spannung auflöst. Fasst man mit Daniel T. Rodgers das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts als "Age of Fracture" [4], so erscheint dieses implizite Narrativ als Ausdruck einer Fragmentierung politischer Überzeugungen verbunden mit der Möglichkeit, neue soziokulturelle Allianzen zu bilden. Dagegen wirken die Folgen der Zäsur von 1989/90 ebenso atemlos wie beliebig: "Regensburg nimmt dafür einen ungeahnten Aufschwung. Das hängt viel mit Europa zusammen. 1989 wird Bayern vom Grenzland zum Kernland. Wiedervereinigung! Für den Osten Bayerns genauso wichtig: Tschechien ist wieder in Reichweite. Alte neue Chancen entstehen." Immerhin tut sich hier für einen Moment der Horizont jenseits des weiß-blauen Himmels auf, der sonst zumeist verschlossen bleibt. Entsprechend fällt es gerade an dieser Stelle auf, wie binnenzentriert, ja selbstgenügsam die Ausstellung in Teilen ist.

Die Frage "Samma mia no mia?", mit der Generation 8 ausläuft, durchzieht auch die Geschichte von Generation 9 - die Vorgeschichte und Geschichte unserer Gegenwart und näheren Zukunft zwischen 2000 und 2025. Hier setzen die Kuratorinnen und Kuratoren klugerweise nur noch Schlaglichter, die sich wie in einem Kaleidoskop zu verschiedenen Bildern formen lassen und sich - etwa in der "Sammlung der Gegenwart" am Ende der Ausstellung - um die Achsen Verlust, Wandel und Innovation drehen. Das Publikum nimmt auf dem Weg ins Museumsrestaurant eine Denkaufgabe mit: "Was bleibt von Bayern? Einige sagen: nicht mehr als hier auf der Bühne steht. Alles andere wird auf dem Altar des Erfolges geopfert. Sonderheit ade. Bleibt am Ende nur mehr das Klischee?"

Die Dauerausstellung des Museums der Bayerischen Geschichte hält jedoch zumindest drei Argumentationslinien bereit, die eine Antwort leichter machen: Da ist zunächst die Persistenz bayerischer Staatlichkeit als erfolgreiches politisch-administratives Gehäuse bayerischer Besonderheiten und Eigenarten; da ist zweitens die Integrationskraft des bayerischen Staats und der bayerischen Gesellschaft, die sich im 19. und 20. Jahrhundert wiederholt bewiesen habe und die auch jetzt noch nicht erschöpft sei; "Einheit in Vielfalt - Unity in Diversity" lautet das Zauberwort. Und da ist schließlich der Eigen-Sinn der Bayern, wo immer sie auch geboren sein mögen. Mia bleim mia - aber anders, könnte man auch sagen. Ein Eintrag im Gästebuch des Museums zeigt, dass diese Botschaft auf fruchtbaren Boden fällt: "Bayern schreibt wohl auch in Zukunft eine führende Rolle in der Geschichte. Nicht nur als Vorreiter im Kampf gegen Covid 19, sondern auch als in technischen Fragen. Bayern war schon immer besonders und bleibt es auch."

Anmerkungen:

[1] Vgl. Richard David Precht: Wer bin ich - und wenn ja, wie viele? Eine philosophische Reise, München 2007.

[2] Klaus-Dietmar Henke: Der freundliche Feind: Amerikaner und Deutsche 1944/45, in: Heinrich Oberreuter / Jürgen Weber (Hgg.): Freundliche Feinde? Die Alliierten und die Demokratiegründung in Deutschland, München / Landsberg 1996, 41-50.

[3] Axel Schildt: Fünf Möglichkeiten, die Geschichte der Bundesrepublik zu erzählen, in: Frank Bajohr u.a. (Hgg.): Mehr als eine Erzählung. Zeitgeschichtliche Perspektiven auf die Bundesrepublik, Göttingen 2016, 15-26, hier 21.

[4] Daniel T. Rodgers: Age of Fracture, Cambridge / London 2011.