Rezension über:

Corinna Ehlers: Konfessionsbildung im Zweiten Abendmahlsstreit (1552-1558/59) (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation; 120), Tübingen: Mohr Siebeck 2021, 666 S., ISBN 978-3-16-159236-2, EUR 119,00
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Rezension von:
Christian Volkmar Witt
Leibniz-Institut für Europäische Geschichte, Mainz / Institut für Spätmittelalter und Reformation, Eberhard Karls Universität, Tübingen
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Christian Volkmar Witt: Rezension von: Corinna Ehlers: Konfessionsbildung im Zweiten Abendmahlsstreit (1552-1558/59), Tübingen: Mohr Siebeck 2021, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 12 [15.12.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/12/35536.html


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Corinna Ehlers: Konfessionsbildung im Zweiten Abendmahlsstreit (1552-1558/59)

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Bedeutende Zugriffe nicht nur auf die Religionsgeschichte der Frühen Neuzeit operieren mit dem Phänomen und der Kategorie der "Konfession(en)": Ob beispielsweise in der Rede von "Konfessionalisierung", "Konfessionskultur" oder "Konfessionellem Zeitalter" verdichtet - wesentliche Voraussetzung der Analyse bleiben institutionalisierte Sozialgestalten des Christlichen, die sich als Resultate der vielschichtigen reformationsbedingten Differenzierungs- und Pluralisierungsimpulse neben-, gegen- und miteinander profilierten und festigten, ohne dabei als irgendwie monolithische oder uniforme Größen gedacht werden zu können. Bis hierhin dürfte es sich um historische Allgemeinplätze handeln. Ab wann die Kategorie "Konfession" im Singular und Plural warum zur Bezeichnung jener Größen überhaupt angebracht ist, um etwa ihre religiösen Eigenarten, ihre institutionellen Niederschläge und ihre soziokulturelle Bedeutung in den Blick zu nehmen, bleibt dabei allerdings eine genauso offene wie wichtige Frage.

Dieser Frage geht nun die hier anzuzeigende Tübinger kirchenhistorische Dissertation von Corinna Ehlers am Beispiel des so genannten Zweiten Abendmahlsstreit nach. Die geschickt angelegte und ihren Gegenstand umfassend ausleuchtende Arbeit gliedert sich in sechs Hauptteile: Im Anschluss an die Einleitung (1-44), die Forschungsstand, heuristisches Instrumentarium, methodische Grundentscheidungen, Quellengrundlage, Aufbau und Anliegen vorstellt, werden die "Historische[n] und theologische[n] Voraussetzungen des Streits" bis in die Abendmahlsdiskurse der 1520er Jahre zurückverfolgt (45-112), bevor dann die eigentliche Bühne mit der Schilderung der "Ausgangssituation des Zweiten Abendmahlsstreits" mit einem stupenden Detailreichtum eröffnet wird (113-276). Nach dieser überaus sorgsamen Vorbereitung widmet sich der vierte Hauptteil der "Hauptphase des Zweiten Abendmahlsstreits" (277-446), während der fünfte das "Scheitern der gesamtreformatorisch normativen Ansprüche und Ende des Zweiten Abendmahlsstreits" schildert und begründet (447-570), ohne dass irgendwelche Einbußen auf der Ebene der Ausführlichkeit zu verzeichnen wären. Mit einem Ausblick und einer Zusammenfassung der Ergebnisse wird die materiale Untersuchung beschlossen (571-602), der ein Nachweis von Zitaten aus einer prominenten Quelle, nämlich aus Joachim Westphals Farrago, eine Bibliographie sowie Register der Personen, Orte und Sachen beigegeben sind (603-650).

Leitend ist die Annahme, dass die vielschichtigen Prozesse der theologischen Ausdifferenzierung, die schließlich in die pluralisierungsbedingte Konkurrenz der sich weiter profilierenden Konfessionen münden sollte, in und mit dem Zweiten Abendmahlsstreit in eine entscheidende Phase eintritt, dass also die 1550er Jahre eine Schlüsselstellung im Ablauf der Konfessionsbildung einnehmen. Entsprechend problematisch erscheinen historische Befunde, die bereits in jener Phase von einigermaßen klar abgrenzbaren Konfessionen ausgehen. Denn das Gegenteil ist der Fall: Der hier im Mittelpunkt stehende Konflikt ist selbst Teil und Verstärker konfessioneller Profilierungsphänomene. Sind die theologischen Positionen zu Beginn des Streits weder in der zeitgenössischen Perspektive noch in der historischen Rückschau den späteren Konfessionen einfach zuzuordnen, sorgen Diskurskonstellationen und Streitverlauf für die Ausbildung markanter, voneinander zunehmend klar abgrenzbarer Abendmahlslehren, die dann ihrerseits in die Prozesse der längst nicht abgeschlossenen Konfessionsbildung identitätsstiftend einfließen. Im Hintergrund stehen normativ konkurrierende religiöse und späterhin religiös-institutionelle Geltungsansprüche, die sich und einander in Wechselwirkung positionell ausschärfen und darüber selbst zu Kerngehalten konfessioneller Selbst- und Fremdwahrnehmung werden.

Beispielhaft nachzuweisen, dass und warum der Zweite Abendmahlsstreit mitten hinein gehört in die so zu umreißenden Konfessionsbildungsprozesse, warum also ausgesprochen vorsichtig mit (vorschnellen) kategorialen Zuordnungen bestimmter Lehrgehalte und Akteure zu unterscheidbaren Konfessionen oder gar Konfessionskirchentümern umzugehen ist, ist die zentrale Leistung der Studie. Besonders hervorzuheben ist dabei einerseits die konsequente Berücksichtigung derjenigen Stimmen oder Voten, die zwischen den sich ausbildenden Extrempositionen Stellung beziehen und bislang angesichts der vorausgesetzten konfessionellen Bipolarität des Streits viel zu wenig beachtet wurden, andererseits die geographische Weite der gewählten Perspektive. So werden Zusammenhänge und Hintergründe sichtbar, die für die (konfessions-)historische Bewertung des Streits, seiner Phasen und Protagonisten genauso wenig bekannt wie eminent wichtig sind. Ohne sie würde eben nicht hinreichend klar, welch gewichtige Rolle der Konflikt für jene Konfessionsbildungsprozesse spielte. Denn erst und wesentlich durch ihn wird den beteiligten Kontrahenten selbst und ihren heutigen Beobachtern begründet deutlich: "Es würde keiner Streitpartei gelingen, ihre Abendmahlslehre und ihre Vorstellung evangelischer Identität als gesamtreformatorisch normativ durchzusetzen" (547).

Damit ist der Zweite Abendmahlsstreit eine entscheidende Wegmarke hin zur Herausbildung konkurrierender religiöser Wahrheits- und kultureller Gestaltungsansprüche, wie sie die konfessionellen Sozialgestalten der Frühen Neuzeit dann institutionell verkörpern sollten. Es erübrigt sich nach dem bisher Gesagten fast, abschließend darauf hinzuweisen, dass nicht nur die quellengesättigten Befunde, sondern auch die vielen luziden Seitenblicke eine nur schwer zu überblickende Menge an Anregungen für weitere Überlegungen zur eingangs genannten übergeordneten Frage bereithalten. Auch deshalb wird die passagenweise geradezu kompendienhafte Studie ihren Weg in die entsprechenden interdisziplinären Diskurse sicher rasch finden.

Christian Volkmar Witt