Rezension über:

Mario Keßler: A Political Biography of Arkadij Maslow, 1891-1941. Dissident Against His Will (= Critical Political Theory and Radical Practice), Basingstoke: Palgrave Macmillan 2020, XV + 258 S., ISBN 978-3-030-43257-7, EUR 53,49
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Rezension von:
Jens Becker
Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf
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Jens Becker: Rezension von: Mario Keßler: A Political Biography of Arkadij Maslow, 1891-1941. Dissident Against His Will, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2020, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 2 [15.02.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/02/35417.html


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Mario Keßler: A Political Biography of Arkadij Maslow, 1891-1941

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"Abtrünnig wider Willen" - unter diesem Titel edierte Peter Lübbe 1990 wichtige Korrespondenzen zwischen Ruth Fischer und Arkadij Maslow. Paradigmatisch offenbaren sich darin die Widersprüche, mit denen sich die beiden Protagonisten in der Epoche des Faschismus konfrontiert sahen. Abtrünnig wider Willen waren sie, weil sie sich nicht bedingungslos der Parteilinie unterwarfen, Haltung zeigten und gegen ihren Willen ausgeschlossen wurden. So wie ihnen erging es vielen "Grenzgänger[n] des Kommunismus", denen der Potsdamer Historiker Mario Keßler zahlreiche Studien widmete. [1] Der Begriff des Grenzgängers liege zwar quer zu dem des Renegaten, des Häretikers oder des Ketzers, charakterisiere aber präziser die Menschen, die sich unterschiedlich weit vom Kommunismus als Ideologie, Bewegung oder Glaubensgemeinschaft entfernt hätten, denen er aber nie gleichgültig wurde. "Sie lebten mit und gegen ihn [...]. Er blieb der archimedische Punkt ihres Daseins." [2]

Vor diesem Hintergrund vermag es Keßler, chronologisch-deskriptiv die wichtigsten Bruchlinien von Yefimovich Chemerinsky alias Arkadij Maslow nachzuzeichnen. Mit acht Seiten fallen die ersten Jahre zur politischen Sozialisation des jungen Revolutionärs eher knapp aus. Geboren 1891 im heutigen ukrainischen Yelisavetgrad schienen dem Hochbegabten unterschiedliche Karriereoptionen offen zu stehen. Er erwies sich als talentierter Konzertpianist, Mathematiker und Sprachgenie. In Berlin studierte der russische Staatsbürger zunächst Mathematik, wo er zu den engeren Studenten von Albert Einstein und Max Planck gehörte. (2) Über die Rolle von Maslows Mutter, die nach ihrer Scheidung 1899 mit den beiden Kindern nach Deutschland übersiedelte, hätte man gerne mehr erfahren. Während des Kriegs von den deutschen Behörden mit Auflagen geduldet, gelang es Maslow, an illegalen Aktionen der Antikriegsopposition teilzunehmen. August Thalheimer brachte ihn 1918 mit dem Spartakusbund zusammen. (4) Dass er 1919 der KPD beitrat, dort auf die Österreicherin Elfriede Eisler, Kampfname Ruth Fischer, traf, sich in sie verliebte und dauerhaft mit ihr verwoben blieb, (5) gehört zu jenen Wendepunkten des Lebens, die sein Schicksal bestimmen sollten. Fortan bildeten die beiden ein kongeniales Duo, das sich bis zu Maslows wahrscheinlicher Ermordung auf Geheiß des russischen Geheimdienstes dem Kommunismus verschrieben hatte. Auf rund 70 Seiten breitet Keßler Maslows (und Fischers) Wirken im Zuge der deutschen Novemberrevolution 1918/19, der kontroversen Rätediskussion, dem gescheiterten Märzaufstand 1921, der Debatte über Einheitsfront, Arbeiterregierung und der Oktoberniederlage der KPD 1923 und ihrer Auswirkungen aus. Im Oktober 1921 übernahmen Fischer und Maslow den mächtigen Berliner Parteibezirk. Die Frustration über die gescheiterten Revolutions- und Aufstandsversuche beherrschten die Atmosphäre. Fischer and Maslow "were surrounded by intellectuals such as Lily Korpus, in charge of women's operations, and Werner Scholem but also proletarians such as Paul Schlecht, a toolmaker, Ottomar Geschke, a railway worker, and the metalworkers Arthur König and Max Hesse. All of them were known for their political ultra-radicalism". (38) Meisterhaft schildet Keßler die aufgeheizte Stimmung. Sie opponierten gegen die Parteiführung um Heinrich Brandler und August Thalheimer, die eine Einheitsfront mit der SPD anstrebten. Im Hintergrund zogen von Moskau aus Sinowjew, Stalin und Trotzki die Fäden. Nach dem Scheitern des "Deutschen Oktobers" war für Maslow und Fischer der Weg zur Parteiführung frei. Im Mai 1924 wurde Maslow Vorsitzender des Politsekretariats, wenig später übernahm Fischer den vakanten Posten, weil Maslow wegen eines dubiosen Handtaschendiebstahls in Haft saß. Gemeinsam trieben sie die Entdemokratisierung der KPD voran, indem sie die Partei nach russischem Vorbild "bolschewisierten". Sie wurden Opfer der eigenen destruktiven Mittäterschaft an ihrer faktischen Stalinisierung. Im November 1925 wurden beide aus dem Politbüro der KPD abberufen, 1927 definitiv aus der Partei ausgeschlossen. Der Versuch, mit dem Leninbund eine Alternative zur KPD zu schaffen, scheiterte. Ein zeitweiser Rückzug aus der Politik erschien für Maslow und Fischer konsequent. Von Paris aus versuchten sie unter anderem zusammen mit Trotzki Mitte der 1930er Jahre vergeblich, eine Alternative zur stalinisierten Kommunistischen Internationalen, eine Vierte Internationale, aufzubauen. Im Moskauer Schauprozess 1936 gegen Sinowjew und andere wurden Maslow und Fischer beschuldigt, ihren früheren Mitstreiter Moissej Lurje (Lurie) zu terroristischen Aktivitäten gegen die Sowjetunion angestachelt zu haben. Zu Recht folgerten beide, so Keßler, dass sie als Outlaws nun auf der Todesliste der Stalin'schen Führung standen. (158) Somit erfolgte die Metamorphose zum rigiden Antistalinisten (Maslow) beziehungsweise zur militanten Antikommunistin (Fischer) in den 1930er Jahren, als der stalinistische Terror sich noch weiter brutalisierte. Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht flohen beide nach Lissabon, um noch in die USA zu entkommen. Maslow wurde nur die Einreise nach Kuba ermöglicht. Fischer hingegen gelang es, im April 1941 nach New York zu entkommen. Was den überraschenden Tod Maslows am 22. November 1941 betrifft, ist sich Keßler aufgrund stichhaltiger Indizien sicher, (188) dass er ermordet wurde, obgleich noch Zweifel über die genauere Todesursache bestehen. [3] Für Ruth Fischer wurde Maslows Tod zum Albtraum, zumal sie fast zeitgleich seine legale Einreise von Kuba in die USA erwirkt hatte. Sie startete einen langjährigen Feldzug gegen Stalin und den Kommunismus, in dessen Zuge sie während des Kalten Krieges nicht nur ihre Brüder Hanns und Gerhart Eisler beim Ausschuss für "unamerikanische Umtriebe" denunzierte, sondern auch mit dem amerikanischen Geheimdienst paktierte. Diese Zusammenhänge aufzuzeigen, ist ein Verdienst von Keßlers profunden Forschungen.

Hervorzuheben sind daher auch seine äußerst ertragreichen politischen Biografien über den ehemaligen Linkskommunisten Arthur Rosenberg (2003) und eben Ruth Fischer (2013). Mit der vorliegenden eher schmalen "Einführung" zu Arkadij Maslow, die zu weiterer historischer Forschung ausdrücklich ermuntert, (VIII) scheint Keßler seinen Zyklus über "ultralinke" Führungspersönlichkeiten der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) abzuschließen. Dabei rekurriert er auf intensive Archivstudien in den USA und im Bundesarchiv, die zur Erstellung der 759-seitigen Fischer-Biografie notwendig waren. Daraus folgt aber, dass es sich bei der vorliegenden englischsprachigen Maslow-Studie stellenweise um eine Zweitverwertung handelt. Im Text finden sich etliche Passagen, die aus der deutschsprachigen Fischer-Ausgabe herausgekürzt und übersetzt worden sind. Nur ein Beispiel: Das Kapitel "Flight and Exile: Paris-Marseille-Lisbon-Havana" beginnt mit der Machtübernahme der NSDAP 1933 und einem Gespräch zwischen Fischer, Maslow, Franz Heimann und Felix Boenheim. Darin ging es unter anderem um die Frage, ob die KPD als einzig wirksame Opposition möglichst viele Antifaschisten vereinigen könne. (145) Als Quelle dient ein Verweis auf Fischers Erinnerungen in Lübbes Quellenband. Die gleiche Passage findet sich in Keßlers Fischer-Biografie am Ende des Kapitels über "Die kommunistische Außenseiterin 1925-1933". (310) Dort aber beriet sich Fischer ohne Maslow mit Heimann und Boenheim.

Als Kenner dreier verschiedener Wissenschaftskulturen, die ihn unter anderem von der Leipziger Karl-Marx-Universität schließlich 1996 zum Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) und zwischenzeitlich zu verschiedenen Forschungseinrichtungen in die USA führten, erscheint Keßler prädestiniert, kommunistischen Grenzgängern ein angemessenes wissenschaftliches Denkmal zu setzen. Eine Zeittafel und zahlreiche Quellenhinweise runden die Maslow-Einführung ab.


Anmerkungen:

[1] Mario Keßler: Grenzgänger des Kommunismus. Zwölf Porträts aus dem Jahrhundert der Katastrophen, Berlin 2015.

[2] Ders.: Bilanz und Perspektiven. Vortrag vom 7. September 2021, Leibniz Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) anlässlich des Ehrenkolloquiums zur Verabschiedung und Ernennung zum Senior Fellow am ZZF, liegt dem Rezensenten als unveröffentlichte PDF-Datei vor.

[3] Vgl. die Rezension von Ronald Friedmann über Keßlers Maslow-Biografie, in: Z. Zeitschrift für marxistische Erneuerung Nr. 127/2021, 201-204.

Jens Becker