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Christian Schmidt / Lutz Fiedler (Hgg.): Postsäkulare Politik? Emanzipation, jüdische Erfahrungen und religiöse Gemeinschaften heute, Göttingen: Wallstein 2021, 277 S., ISBN 978-3-8353-3949-1, EUR 28,00
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Rezension von:
Adrian Paukstat
Augsburg
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Adrian Paukstat: Rezension von: Christian Schmidt / Lutz Fiedler (Hgg.): Postsäkulare Politik? Emanzipation, jüdische Erfahrungen und religiöse Gemeinschaften heute, Göttingen: Wallstein 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 7/8 [15.07.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/07/37015.html


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Christian Schmidt / Lutz Fiedler (Hgg.): Postsäkulare Politik?

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Der anzuzeigende Band verhandelt den zentralen Widerspruch von Partikularismus und Universalismus im Kontext der (post-)säkularen aufklärerischen Moderne. Er bedient sich hierbei seinerseits des Partikularismus der spezifisch deutsch-jüdischen Erfahrung, um von diesem Ausgangspunkt und über ihn hinaus Positionen zum Spannungsverhältnis von allgemein-menschlicher Emanzipation und partikularer Zugehörigkeit zu entwickeln. Der Sammelband versammelt die Ergebnisse einer Tagung, die unter dem Titel "Human Emancipation and Particular Belonging. (Post-)secular Politics, Religious Communities, and Jewish Expiriences" 2019 am Selma Stern Zentrum für jüdische Studien und der Humboldt Universität Berlin stattfand.

Das Grundanliegen der Beiträge, nämlich das Spannungsverhältnis von Universalismus und Partikularismus vor dem Hintergrund aufklärerischer Emanzipationsversprechen und -forderungen zu vermitteln, spiegelt sich auch in der methodischen Konzeption des Bandes wider. In diesem Sinne bewegen sich die Beiträge einerseits auf allgemein-sozialtheoretischer Ebene, nehmen aber immer wieder konkret-historiographisch auf deutsch-jüdische Erfahrungen vor allem im 19. Jahrhundert Bezug, die wiederum an die allgemein sozialtheoretischen Fragestellungen zurückgebunden werden.

Zentral ist für die Autorinnen und Autoren hierbei der politische Gegenwartsbezug. Es gelingt ihnen, diesen dadurch herzustellen, dass die Zeitgenossenschaft deutsch-jüdischer Emanzipationsdebatten mit gegenwärtigen politischen Streitfragen rund um Emanzipation und Zugehörigkeit plausibel dargestellt wird. Hierbei fokussieren sich die Beitragenden vor allem auf die wahrgenommenen Ähnlichkeiten zwischen der "Judenfrage" des 19. Jahrhunderts und gegenwärtigen Diskursen bezüglich des Stellenwerts des Islams in der deutschen Gesellschaft. Sehr pointiert wird hierbei, vor allem in Armin Langers Beitrag, herausgearbeitet, wie verblüffend sich die Argumentationslinien beider Debatten ähneln, wenn man sie unter dem Blickwinkel einer jeweils spezifisch gesellschaftlich hegemonialen Form des Aufklärungsuniversalismus betrachtet, der von seinem je eigenen Standpunkt einer bestimmten religiösen Community die Aufklärungsfähigkeit prinzipiell abspricht.

Im Zentrum der eher historiographischen Beiträge von Michael Quante, Micha Brumlik und Lutz Fiedler steht die Bruno-Bauer-Debatte, in der der Widerspruch zwischen allgemein-menschlichen Emanzipationsforderungen und religiöser Partikularität verhandelt wurde. Bruno Bauer, führender Protagonist des Linkshegelianismus und radikaler Aufklärer, warf dem Judentum seiner Zeit eine kategorische Aufklärungsunfähigkeit vor und verband somit menschliche Emanzipation mit der Bedingung der schlechthinnigen Aufgabe jüdischer Partikularität. Sehr akribisch stellen die Autorinnen und Autoren in diesem Kontext dar, inwiefern der Bauer'sche Universalismus als sich selbst universell setzender Partikularismus zu lesen sei, entnimmt er doch nicht nur seine antijudaistische Stoßrichtung dem argumentativen Arsenal paulinisch-lutherischer Judenfeindschaft, sondern entlarvt auch seine eigene Universalismuskonzeption insofern als kryptochristliche, als er, trotz aller vermeintlich prinzipieller Religionsfeindschaft, dem (protestantischen) Christentum einen privilegierten Ausgangspunkt im Emanzipationsprozess zugesteht.

Vor dem Hintergrund dieser Ideologiekritik der Bauer'schen Argumentation lassen sich dann auch die Kontinuitätslinien in die Gegenwart ziehen. So erscheint in der bundesdeutschen "Kopftuchdebatte" letztlich die Sichtbarkeit von partikularer Differenz als das eigentliche Problem. Beide stoßen sich an der Erkennbarkeit von Differenz schlechthin, eben weil sie die partikularen Ursprünge des eigenen Universalismus verdrängt haben. Hier gelingt den Autorinnen und Autoren der Brückenschlag zu gegenwärtigen postkolonialen Diskursen, ohne jedoch deren verkürzt identitätspolitischen Schwundformen auf den Leim zu gehen.

Insgesamt lässt sich bemerken, dass vor allem die Gesamtkonzeption des Bandes äußerst kohärent und überzeugend wirkt. Hier gilt es vor allem die Leistung der beiden Herausgeber Christian Schmidt und Lutz Fiedler anzuerkennen. Die implizit selbst gesetzte Aufgabe, historische Erfahrung im deutsch-jüdischen Kontext - auch über die Bruno-Bauer-Debatte hinaus, wie in den Beiträgen von Inka Sauter zu Franz Rosenzweig und Irmela von der Lühe zu Hannah Arendt - mit wesentlichen Problemen unserer politischen Gegenwart zu vermitteln und hierbei historiographische Empirie und sozialtheoretische Fragestellungen in Bezug zueinander zu bringen, gelingt. Die Botschaft, dass die deutsch-jüdischen Erfahrungen des 19. Jahrhunderts uns etwas über unsere Gegenwart zu sagen haben, kommt an.

Allerdings bleibt ein Wermutstropfen. Der Begriff des Postsäkularismus, der, wie schon aus dem Titel hervorgeht, den konzeptionellen Rahmen für die Beiträge aufspannt, bleibt eigentümlich blass und zu unbestimmt. Es hätte sich hier gelohnt, verstärkt auf diesen Aspekt einzugehen und die Frage zu stellen, was jenes ominöse "post" bedeutet und vor allem in welchen Spannungsbezug die unvollständige Verweltlichung der Welt zum Projekt Moderne steht. Zwar schneidet der Beitrag von Eva Buddeberg am Beispiel der Überlegungen Habermas' zur Religion diesen Problemkomplex an, doch kommt ihm nicht der Stellenwert zu, den der Titel des Bandes suggeriert.

Den Band beschließt letztlich das Plädoyer für einen, an den Beiträgen von Michael Walzer und Rahel Jaeggi orientierten, reflektierten Universalismus, der sich "die Verteidigung einer säkularen politischen Ordnung bei gleichzeitiger Bereitschaft, 'mit Vieldeutigkeit [zu] leben' und die 'Spannungen' [...] zwischen unterschiedlichen Weltdeutungen auszuhandeln und auszuhalten" (277) auf die Fahnen schreibt. Für diesen haben die Autorinnen und Autoren überzeugende Argumente geliefert, denen größtmögliche Verbreitung zu wünschen ist.

Adrian Paukstat