Rezension über:

Saul Friedländer / Norbert Frei / Sybille Steinbacher u.a.: Ein Verbrechen ohne Namen. Anmerkungen zum neuen Streit über den Holocaust, München: C.H.Beck 2022, 94 S., ISBN 978-3-406-78449-1, EUR 12,00
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Rezension von:
Wolfgang G. Schwanitz
Foreign Policy Research Institute, Philadelphia
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Conermann
Empfohlene Zitierweise:
Wolfgang G. Schwanitz: Rezension von: Saul Friedländer / Norbert Frei / Sybille Steinbacher u.a.: Ein Verbrechen ohne Namen. Anmerkungen zum neuen Streit über den Holocaust, München: C.H.Beck 2022, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. [15.0.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/00/36741.html


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Saul Friedländer / Norbert Frei / Sybille Steinbacher u.a.: Ein Verbrechen ohne Namen

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Zwar seien alle historischen Tatsachen vergleichbar, meint Jürgen Habermas, wie der Holocaust mit anderen Genoziden, doch hänge es vom Kontext ab. So erkundete der Historikerstreit, ob der Vergleich des Holocaust mit Stalinschen Verbrechen spätere Deutsche von ihrer Verantwortung für Nazi-Verbrechen entlaste, die Ernst Nolte als Reaktion auf die Gräuel des Bolschewismus sah. Habermas fragt, ob der Holocaust die Stelle des "einzigartigen" Zivilisationsbruchs verliere, rücke man den Genozid in die Nachfolge von Kolonialverbrechen? Bedenke man Kolonialziele von Hitlers rassistischem Vernichtungskrieg gegen Sowjets mit organisiertem Mord an Europas Juden in dem Entstehungskontext, entdecke man im Genozid deutscher Kolonialisten an Nama und Herero kriminellen Züge, die im Holocaust verstärkt und anders wiederkamen. Vergleiche man den Holocaust und koloniale Genozide, übersehe das den Hauptunterschied zwischen der mörderischen Grausamkeit der Nazis gegen Zwangsarbeiter und der Juden-Vernichtung. Slawen wurden als "minderwertige Rasse" ausgebeutet und auch getötet "für Lebensraum". Doch seien Juden ermordet worden, weil sie Juden waren. Das Merkmal, das den Holocaust von kolonialen Genoziden trenne, sei die Wende gegen den "inneren Feind", der getötet, nicht nur kolonial ausgebeutet werden müsse. Der Autor bejaht den vom Kontext abhängigen Vergleich der Schoah mit anderen Genoziden, deren Einzigartigkeit im Zivilisationsbruch durch Tötung wegen des Judenseins durch "Rasse-Antisemitismus" liege.

Ja, Nazis bürgerten "innere Feinde" aus. Rom und Vichy folgten auch in Kolonien Mittelosts. Ihr Projekt wuchs globaler im Antikominternpakt 1936, Hitler-Stalin-Pakt 1939 und Dreimächtepakt Berlin-Rom-Tokio 1940. Auch sahen Imperien Völkermorde an andersgläubigen Minoritäten bei Osmanen mit deutscher Hilfe im 30-jährigen Genozid bis 1924. Welche Ideen adaptierten Nazis von dort aus Ideologien mit rassistischen Strängen, die komplementär zu ihrem Ansatz wirkten?

Saul Friedländer prüft "Ein Genozid wie jeder andere?" Er sieht Unterschiede im Kontext. Bei Nazis ging es nicht nur gegen einzelne Juden, sondern Juden als Prinzip des Bösen. Grundwerte der westlich-christlichen Kultur verfielen auf dem Boden des 2.000 Jahre alten Hasses. Obwohl Nationalsozialismus ein modernes Phänomen war, wurzeln antijüdische Lehren in katholischen, evangelischen und orthodoxen Kirchen. Alles lief unter Mitwirkung von Deutschen jeder Ebene. Er zeigt, wie sich Erinnerungskultur entfaltete. Laut postkolonialem Denken sei die Vernichtung des Judentums in Europa ein Genozid wie jeder andere. Daher nutze es oft "Kolonialismus" und "Imperialismus". Der Holocaust wäre als Kolonialgewalt Zwangsarbeit? Nazis beuteten Juden in der Art aus, doch war das eine Phase bis zur totalen Vernichtung. Der Kontext des Holocaust sei nicht Kolonialismus, sondern Millennia an Judenfeindschaft, die zur Nazi-Ideologie führten. Nun würden postkoloniale Theoretiker Israels Gründung eine "koloniale Landnahme" nennen.

Norbert Frei erinnert an Winston Churchills Diktum des "Verbrechens ohne Namen". Anfang der sechziger Jahre ersetzte "Auschwitz" als Metapher Täter-Worte wie Judenvernichtung und Endlösung. In den jüngsten drei Dekaden fand Judenmord in Deutschland und der Welt ein riesiges Echo. Dieses soll relativiert werden, um Raum für kaum beachtete Genozide vor and nach den Weltkriegen zu schaffen. Das zeige die Anerkennung des Völkermords an Herero und Nama durch Kolonialtruppen bis 1908 unter Kanzlerin Merkel 2021. Neue Regeln sollen gelten: Der Holocaust sei im Kontext zu anderen Genoziden zu relativieren. Antisemitismus wäre nur eine Unterform des ubiquitären Rassismus. Aber dass Antisemitismus auch als Antizionismus wirke, dürfe nicht sein. Dies führte zur Bundestags-Resolution, die sich 2019 gegen die BDS-Bewegung und den Israel-Boykott stellt. Jede Zeit habe weiße Flecken: Es sei kein Problem, an Verbrechen von Kolonialisten zu erinnern. Doch mag man deshalb nicht die Holocaust-Debatte verdrängen.

Sybille Steinbacher erörtert Holocaustvergleiche und Kontinuitäten kolonialer Gewalt. Mit dem Balkan-Krieg formierte sich die vergleichende Genozidforschung als interdisziplinäres Fach. Es bedürfe keiner Begründung, Völkermorde zueinander in Bezug zu setzen. Vergleich relativiere oder verharmlose nicht, sondern erhelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede, sorge für Klärung und Erkenntnis, nicht Gleichsetzen. Methodische Zugriffe und multikausale Erklärungsansätze der Holocaustforschung gaben komparativer Genozidforschung Orientierung. Ihr Ansatz binde den Nazi-Judenmord in die globale Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts ein. Der Holocaust werde zum Inbegriff von Völkermord und Blaupause aller Genozide. Dies sei widersprüchlich und methodisch fraglich. Besonderheiten des Holocaust habe nicht jeder Genozid: unbedingter Vernichtungswille, Systematik des Mordprogramms und Deutsche als Profiteure und Mitwisser.

Indes sehen manche im Genozid an Armeniern Blaupausen für Nazis. Wurzelt die Schoah auch in Achsen von Kaiser-Deutschen und Osmanen, Nazis und Islamisten, wo es in Europa-Mittelost doppelte Personaleinheit in 30.000 deutschen Asienkämpfern gab? Ihre Generation fünf, geboren vor 1900, wurde im "Giftgaskrieg" Soldat - und oft im "Rache- und Vernichtungskrieg" Leiter.

Dan Diner bespricht kognitives Entsetzen im deutschen "Historikerstreit", bei dem es um die Vergleichbarkeit und respektive Gleichsetzung nationalsozialistischer und bolschewistischer Verbrechen ging. Aufs Neue werde in der jüngsten Kontroverse historisch anderweitig verübte Massenverbrechen genozidaler Kolonialgewalt mit dem Nazi-Judenmord verglichen. Jener Streit und der Vergleichsdisput zu Holocaust und Kolonialgewalt lägen eine Generation auseinander.

Beiden sei eine fast identische Argumentationsfigur eigen. Was war "ursprünglicher", fragt Nolte: Klassenmord der Bolschewiki oder Rassenmord der Nationalsozialisten? Dazu bedient er sich des "logischen wie faktischen Prius". Wegen der Bedeutung für Noltes Beweisführung mute dessen weitere Begründung, die bolschewistische Gefahr sei von "den Juden" gekommen, eher sekundär an. Kolonialgewalt brauche als Gewalt eigenen Unrechts nicht mit dem Holocaust gleichgesetzt werden, um Anerkennung zu finden. Seit 1944 ist Genozid definiert, seit 1948 durch die UN kriminalisiert auch als Nebenkategorie eines versuchten Genozids. Dies widerfuhr Großsyriens Juden in Palästina 1915 bis 1917. Schon Raphael Lemkin erkannte bei Christen wie Armeniern Genozid. Seine Definition erlaubt erst die Komparatistik zum Genozid an Juden auch aus Sicht von Imperial- und Kolonialverbrechen. Der Streit erhellt Allgemeines, Besonderes und Einzelnes multipler Genozide vor, in und nach beiden Weltkriegen. Der Joint Jihad fehlt: wie die deutsch-osmanische Jihadisierung des Islamismus ab 1914 auch Nazi-Ideologen prägte, die selbst die Schoah als ein europäisches, mittelöstliches und globales Projekt angingen. Wer dies allseits vergleicht, findet die Stränge ihrer Mischideologien.

Der Leser kann dem Beck Verlag danken, Namhafte mit ihren bündigen Texten von Mitte 2021 verknüpft zu haben. Zwar entsiegelten sie viel, doch mangelt es an doppelten Personaleinheiten Europa-Mittelost in multiplen Genoziden der Weltkriege. Höchste Zeit, dies führt zur Globalära mit ihren Zivilisationswenden und sich neu orientierenden Generationen. Jedem sei dieses Buch nur wärmstens empfohlen - um zu widerstehen, zumal Totalitäres globaler als je zuvor ausgreift.

Wolfgang G. Schwanitz