sehepunkte 23 (2023), Nr. 11

Wolf H. Birkenbihl: Elisabeth Charlotte von Orléans

Abgesehen von Marie Antoinette, der Tochter Kaiserin Maria Theresias und Gemahlin König Ludwigs XVI., ist keine an den französischen Königshof verheiratete deutsche Prinzessin auch nur annähernd so bekannt wie Elisabeth Charlotte von Orléans, die mit dem Bruder Ludwigs XIV., Philipp von Orléans, verheiratet war. Die anhaltende Popularität der im deutschen Sprachraum zumeist als Liselotte von der Pfalz bezeichneten Fürstin steht in umgekehrt proportionalen Verhältnis zu der von ihr selbst behaupteten Einflusslosigkeit, ja zeitweise: Isolation am französischen Hof, und verdankt sich vor allem ihrem monumentalen Briefwechsel. Bei den knapp 6.000 erhaltenen (von ursprünglich wohl 60.000) Briefen handelt es sich zweifelsohne um eine der bedeutendsten weiblichen Korrespondenzen der Frühen Neuzeit. Leider entspricht deren Aufarbeitung in keiner Weise ihrer herausragenden Bedeutung - und so sind auch moderne Biographien weiterhin auf die veralteten Editionen des 19. Jahrhunderts angewiesen. Nur vereinzelt sind in den letzten Jahren einzelne Briefcorpora der Herzogin neu oder erstmals wissenschaftlich ediert worden. [1] In einem gewissen Kontrast zu der unbefriedigenden Editionslage steht die durchaus rasante Entwicklung der Forschung zu weiblicher Herrschaft und zu fürstlichen Frauen in der Frühen Neuzeit insgesamt.

Bei einer neuen Biographie über Elisabeth Charlotte stellt sich also die Frage, wie mit diesen Herausforderungen umgegangen wird. Die vorliegende Biographie wendet sich erkennbar an ein breiteres Publikum, versucht aber auch, wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen, indem die einzelnen Aussagen und Zitate in Fußnoten nachgewiesen werden und eingangs die Editionslage dargestellt wird. Auch der beträchtliche Umfang von gut 300 Seiten zielt sicher nicht auf ein Publikum, das nur eine ganz knappe Einführung sucht. Umso mehr stellen sich die Fragen nach dem Umgang mit den Quellen und der neueren Forschung.

Die Biographie stützt sich auf die alten Editionen und die auf dieser Grundlage zusammengestellten populären Sammlungen, in denen Briefe der Herzogin in vereinfachter Orthographie und mit Übersetzung der französischen Passagen veröffentlicht wurden. Abgesehen von der Edition der französischen Briefe durch Dirk van der Cruysse werden die neueren Editionen nicht herangezogen. Nicht erschlossen hat sich mir das System, nach dem Zitate im französischen Original zitiert und anschließend in Klammern übersetzt (von wem?) oder direkt in deutscher Übersetzung angeführt werden. Noch problematischer im Umgang mit den Quellen ist freilich, dass gerade bei den Aussagen Elisabeth Charlottes zu ihrer Kindheit und Jugend ihre späteren Erinnerungen herangezogen werden, ohne auch nur an einer Stelle zu thematisieren, dass diese teilweise Jahrzehnte später entstanden und z.B. auch auf die jeweiligen Adressat*innen zugeschnitten sind, also kaum die unmittelbaren Empfindungen der jungen Prinzessin wiedergeben dürften, als die sie hier aber verwendet werden. Selbstverständlich kann und muss man diese Erinnerungen mangels näher an der erinnerten Zeit liegenden Zeugnisse benutzen, aber die damit verbundene Problematik sollte doch offengelegt werden.

Auch die Rezeption der Forschung vermag nicht zu überzeugen. So wurden weder die neueren Forschungen zu adligen Frauen oder zu frühneuzeitlichen Höfen rezipiert oder eine der zahlreichen Biographien Ludwigs XIV. aus den letzten Jahren zur Kenntnis genommen. Dies führt zur Reproduktion eines veralteten Forschungsstands und zu nicht mehr haltbaren Einschätzungen sowie zahlreichen Anachronismen. So schreibt Birkenbihl das Narrativ von den Fürstentöchtern als unschuldigen Opfern einer skrupellosen dynastischen Heiratspolitik fort, weshalb für ihn klar ist, dass "sich die Existenz dieser deutschen Prinzessin am französischen Hof zu einer einzigen Misere entwickeln" sollte (2). Einmal ganz abgesehen davon, dass viele der - auch in diesem Buch zitierten - brieflichen Äußerungen Elisabeth Charlottes diese Deutung kaum hergeben, beruht diese Interpretation auf dem anachronistischen Modell der modernen Liebesehe, die für die Frühe Neuzeit nicht nur an Fürstenhöfen die absolute Ausnahme war - und mit der Elisabeth Charlotte für sich selbst auch wohl kaum gerechnet haben dürfte. Wenn Birkenbihl deshalb annimmt, dass die Herzogin sich bereits kurz nach dem Kennenlernen ihres Ehemannes "nur allzu bewusst [war], dass ihr Gemahl sie wohl niemals von Herzen lieben würde" (64), so mag dies vielleicht zutreffen, es stellt sich aber die Frage, ob sie dies im Ernst erwartet hatte. Dass Philipp ihr "im Laufe ihrer Ehejahre zumindest einen gewissen Respekt entgegenbringen" würde (64), dürfte eher dem Rahmen des zeit- und standesüblichen Umgangs entsprochen haben. Die in diesem Zusammenhang verwendete Bezeichnung von "Flitterwochen" vermittelt denn auch einen völlig falschen Eindruck vom Zweck und der Realität einer dynastischen Ehe, an deren grundsätzlicher Sinnhaftigkeit Elisabeth Charlotte ausweislich ihrer Briefe wohl kaum zweifelte. Indem die Herzogin konsequent in die Opferrolle gedrängt wird, wird ihr von vornherein jegliche "agency" abgesprochen und ihre Korrespondenz als Kompensationsstrategie für ihre missliche Situation am französischen Hof verstanden. Nicht einmal probeweise wird versucht, neuere Ansätze der Forschung auf die Herzogin von Orléans anzuwenden und beispielsweise ihre Korrespondenz als Versuch des Aufbaus eines weiblichen Netzwerks zu verstehen oder die Besuche ihrer deutschen Verwandten als die für eine verheiratete Fürstin übliche Mittlerrolle zwischen Herkunfts- und neuer Familie zu interpretieren. Selbstverständlich finden sich in der Korrespondenz Elisabeth Charlottes zahlreiche Äußerungen, die diese traditionelle Sicht stützen können. Aber es drängt sich der Eindruck auf, dass Birkenbihl überhaupt nicht nach Indizien für eine andere Sicht gesucht hat.

Obwohl sich der Band weitgehend an der maßgeblichen Biographie von Dirk van der Cruysse [2] orientiert, die hier - für eine eher populärwissenschaftliche Darstellung ungewöhnlich und nicht adressatengerecht - nach der französischen Originalausgabe und nicht nach der deutschen Übersetzung zitiert wird, vermittelt die Darstellung ein wesentlich traditionelleres Bild der Herzogin als van der Cruysse, weil aus der Fülle der Beispiele eben jeweils die diese Sicht stützenden ausgewählt und entsprechende Einordnungen vorgenommen wurden. Erschwert wird die Lektüre zudem durch die recht kleinteilige Gliederung in sehr kurze Unterkapitel, die eine argumentierende Darstellung unmöglich machen und nur Einzelheiten und Anekdoten nebeneinanderstellen. Hinzu kommt, dass es völlig willkürlich anmutet, wie ausführlich die Biographie Elisabeth Charlottes jeweils in den historischen Kontext eingebettet und einschlägige Zusammenhänge erläutert werden. So werden Hintergründe und Verlauf des Spanischen Erbfolgekriegs relativ ausführlich erörtert, obwohl der Bezug zum Leben der Herzogin eher locker ist, während die mit der unklaren Formulierung ihres Heiratsvertrags verbundenen Probleme völlig im Dunkeln bleiben.

Insgesamt ist das Werk weder als Einführung in das Leben Elisabeth Charlottes noch als wissenschaftliche Biographie zu empfehlen. Für den erstgenannten Zweck liegen knappere und bessere Alternativen vor [3], in wissenschaftlicher Hinsicht bildet nach wie vor die Biographie van der Cruysses den Maßstab, auch wenn sie die neuere Forschungsansätze aufgrund ihrer Entstehung Ende der 1980er Jahre nicht abbilden kann.


Anmerkungen:

[1] Vor allem: Dirk van der Cruysse (éd.): Madame Palatine - Lettres françaises, Paris 1989. Für die deutsche Korrespondenz: Hannelore Helfer (Hg.): Liselotte von der Pfalz in ihren Harling-Briefen: sämtliche Briefe der Elisabeth Charlotte, duchesse d'Orléans, an die Oberhofmeisterin Anna Katharina von Harling, geb. von Offeln, und deren Gemahl Christian Friedrich von Harling, Geheimrat und Oberstallmeister, zu Hannover, 2 Bde., Hannover 2007; Jürgen Voss (Hg.): Liselotte von der Pfalz, Briefe an Johanna Sophie von Schaumburg-Lippe, St. Ingbert 2003.

[2] Dirk van der Cruysse: "Madame sein ist ein ellendes Handwerck" Liselotte von der Pfalz - eine deutsche Prinzessin am Hof des Sonnenkönigs, München / Zürich 1990.

[3] Beispielsweise die Beiträge in Sigrun Paas (Hg.): Liselotte von der Pfalz. Madame am Hofe des Sonnenkönigs. Ausstellungskatalog, Heidelberg 1996; oder ganz knapp: Monika Storm: Madame Palatine - Liselotte von der Pfalz (Blätter zum Land; 44), Mainz 2009.

Rezension über:

Wolf H. Birkenbihl: Elisabeth Charlotte von Orléans. Eine pfälzische Prinzessin am französischen Königshof, Marburg: Tectum 2023, IX + 343 S., ISBN 978-3-8288-4851-1, EUR 39,00

Rezension von:
Bettina Braun
Historisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität, Mainz
Empfohlene Zitierweise:
Bettina Braun: Rezension von: Wolf H. Birkenbihl: Elisabeth Charlotte von Orléans. Eine pfälzische Prinzessin am französischen Königshof, Marburg: Tectum 2023, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 11 [15.11.2023], URL: https://www.sehepunkte.de/2023/11/38205.html


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