sehepunkte 2 (2002), Nr. 10

Ulrich Schlie: Die Nation erinnert sich

Ulrich Schlie erzählt eine Geschichte der deutschen Nationaldenkmäler. Chronologisch nach politischen Etappen gegliedert, setzt das Buch mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ein, in dem nach Schlie der "lange Weg zum deutschen Nationalstaat" begann. Sodann geht es um das Kaiserreich, die Weimarer Republik, die NS-Zeit, das "geteilte Deutschland" und - unter dem Titel "Einheit in Recht und Freiheit" - die Zeit nach 1990. Jeweils wird recht ausführlich ein Durchgang durch die allgemeine Geschichte des politischen Systems und der deutschen Nation geboten, denn im Grunde geht es dem Verfasser um "eine politische Geschichte der Deutschen und ihres nationalen Bewusstseins, wie es sich ins Gedächtnis der Nation eingeprägt hat" (18). Die Nationaldenkmäler dienen darin als verbindender roter Faden, sie spiegeln oder illustrieren die Nationalgeschichte. So werden, gestützt auf die wichtigste Spezialforschung, gezielt die herausragenden Denkmalprojekte ausgewählt, etwa Walhalla, Wartburg, Hermannsdenkmal, Kaiser-Wilhelm-Denkmäler, Bismarck-Denkmäler, Völkerschlachtdenkmal, Neue Wache, Tannenberg und Holocaust-Mahnmal.

Das elegant und flüssig geschriebene, sehr gut lesbare Buch weist Qualitäten und Probleme auf, die freilich eng miteinander verbunden sind. Mutig und eindrucksvoll ist der Versuch, die komplexe, von zahlreichen Krisen und Zäsuren gekennzeichnete, moderne deutsche Geschichte anhand der Nationaldenkmäler als Einheit zu zeichnen und ihren Weg zur Wiedervereinigung als nationalen Normalweg zu charakterisieren. Die Konflikte und Belastungen der deutschen Geschichte werden dabei nicht ausgespart, sondern integriert.

Das entspricht neueren Tendenzen der Geschichtsschreibung und namentlich der Erinnerungs-Geschichtsschreibung, nach langen Jahren der Kritik am Nationsbegriff überhaupt, der "Entlarvung" von imaginierten Gemeinschaften und erfundenen Traditionen, nunmehr unbefangen die nationale Identität vorauszusetzen und Zerrissenheit und Brüche nicht als Infragestellung, sondern geradezu als Charakteristikum der deutschen Nation zu präsentieren. Zugespitzt ausgedrückt: Heterogenität wird angesichts ihrer Beständigkeit paradoxerweise als Ausdruck von Homogenität gewertet. Die jüngst erschienenen "Deutschen Erinnerungsorte" können dafür als herausragendes Beispiel gelten.

Entsprechend sieht Schlie das Spezifische der Geschichte der deutschen Nationaldenkmäler auch darin, dass man sich im Unterschied etwa zu Frankreich oder England nie auf herausragende integrierende Nationalsymbole oder nationale Erinnerungsbesitzstände habe einigen können. Tatsächlich mag zwar zutreffen, dass in Frankreich Jeanne d'Arc oder die Bartholomäusnacht "zum unbestrittenen nationalen Besitz" gehören (15), doch die Interpretation ist höchst vielfältig, der Kampf um die Vereinnahmung des nationalen Erbes höchst brisant, wie gerade im Fall Jeanne d'Arc die jüngste Entwicklung der französischen Rechten zeigt. Und derart mit der nationalen Geschichte eng verbundene, wenn auch in der Deutung umstrittene "Erinnerungsorte" gibt es selbstverständlich auch in Deutschland, von "Versailles" bis zum "Holocaust"; Schlie spricht sie selbst an.

Mit Schlies Ansatz ist also eine deutliche Akzentsetzung verbunden, und das lenkt den Blick auf die grundsätzlichen Probleme des Buches. So enthalten gerade die allgemeinen Ausführungen zur deutschen Geschichte manche zu diskutierende Wertung, etwa, was die Reichsgründung von 1871 (Rolle des "Genies Bismarck", 39) oder die Begründung der Weimarer Republik (Unvermeidlichkeit der Kompromisses von Reichwehr und Sozialdemokratie) angeht. Auch ist die Auswahl der Nationaldenkmäler doch recht eng, und sie erscheinen primär als Ausdruck des je dominierenden Nationsverständnisses, nicht als Spiegelbild sozialer und regionaler Interessen und Identitäten, was sie wohl doch immer auch waren. Dafür werden oft "die Nation" oder "die Deutschen" (7) als handelndes Subjekt präsentiert - dies schon im Titel des Buches; manchmal ist sogar in einem etwas vereinnahmenden Stil von "Wir Deutschen" (8) die Rede.

Wiederholt beruft sich der Autor auf Thomas Nipperdey und Michael Stürmer. Wie diese mahnt er eine positive Identifikation mit der deutschen Geschichte an, denn eine bloß negative Distanzierung könne keine Identität vermitteln. Mehr als namentlich Nipperdey suggeriert er aber einen teleologischen Gang der deutschen Geschichte - auch wenn er dies explizit bestreitet, und zwar besonders in denjenigen Passagen, die danach fragen, ob "die deutsche Geschichte zielgerichtet auf Hitler zugelaufen sei" (98). Freilich bezeichnet Schlie die Wiedervereinigung auch als "Geschenk der Geschichte" (gab es keine benennbaren Handelnden?) nach "über vier Jahrzehnten künstlicher Trennung" (10). Jedenfalls ermögliche die Wiedervereinigung nunmehr "einen gelasseneren Blick auf die deutsche Geschichte" (11) (warum eigentlich, wird die vorangegangene deutsche Geschichte durch die Wiedervereinigung anders, gar besser?).

Man kann die deutsche Geschichte so sehen, aber man muss es eben nicht, und man könnte die deutsche Geschichte im Spiegel nationaler Denkmalprojekte auch als offene Konfliktgeschichte schreiben, als Geschichte von Kämpfen um Geschichtsdeutung, Erinnerungshoheit und politische Macht. Das widerspräche Schlies Intention, sein Buch ist integrativ-didaktisch angelegt: Es endet mit der Erinnerung an den 20. Juli, der ihm Vorbild und Mahnung zur Zivilcourage auch in der Demokratie ist.


Rezension über:

Ulrich Schlie: Die Nation erinnert sich. Die Denkmäler der Deutschen, München: C.H.Beck 2002, 208 S., 36 Abb., ISBN 978-3-406-47609-9, EUR 12,90

Rezension von:
Winfried Speitkamp
Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität, Gießen
Empfohlene Zitierweise:
Winfried Speitkamp: Rezension von: Ulrich Schlie: Die Nation erinnert sich. Die Denkmäler der Deutschen, München: C.H.Beck 2002, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 10 [15.10.2002], URL: https://www.sehepunkte.de/2002/10/2994.html


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