Der Protagonist der Zürcher Reformation war Ulrich Zwingli. Doch die Ausstrahlungen und Rückwirkungen, die das Thema des vorliegenden Sammelbandes zur Feier des hundertjährigen Bestehens des Zwinglivereins sind, lassen sich ohne den ergänzenden Blick auf Heinrich Bullinger nicht bestimmen. Und so sind es auch Zwingli und Bullinger, die mit ihren Grundanschauungen, Briefwechseln und Kontakten die insgesamt 29 Aufsätze des Bandes dominieren. Hier finden sich sowohl traditionelle theologische Fragestellungen als auch die Suche nach den Spuren der Zürcher Reformation auf bisher weniger beachtetem Terrain wie etwa in Skandinavien oder in Polen. Entsprechend präsentiert sich die Gliederung der Aufsatzsammlung: Nicht inhaltliche oder methodische Ansätze bestimmen sie, sondern die Abgrenzung der Themenfelder erfolgt zunächst allein geografisch. Eidgenossenschaft, Oberdeutschland, Oberelsass, "übriges Deutsches Reich", England und Schottland, Niederlande, Skandinavien und Polen umfassen insgesamt sechs Kapitel und damit den Großteil des Werkes. Es folgt die Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert, und abschließend werden mit Bilderbibeln und Schulbüchern besondere Merkmale dieser Rezeption angeführt.
In allen Aufsätzen ist der Versuch erkennbar, auf den eigentlich bekannten und fast schon traditionellen Forschungspfaden noch die eine oder andere neue Spur, eine neue Nuance, einen innovativen Zugang zu entdecken. Am ehesten gelingt dies, wenn Briefe untersucht werden, die teilweise noch nicht hinreichend von der Forschung gewürdigt worden sind. Insbesondere Bullingers Briefwechsel bildet einen solchen reichhaltigen Fundus, den zahlreiche Autoren nutzen.
Aber auch manch andere unbekannte Quelle wurde aufgetan, sodass längere Ausführungen in den entsprechenden Aufsätzen mehr als wünschenswert gewesen wären. So konzentriert sich beispielsweise Wim Janse auf einen "Theologen zweiten Ranges" (203), nämlich auf den "Zwinglianer" Wilhelm Klebitz und eröffnet damit den Blick auf die gegenwärtig wachsende niederländische Forschung über Vertreter der irenischen Tradition im 16. Jahrhundert. Mitten im Zeitalter der Konfessionalisierung strebten diese nicht nach konfessioneller Einheit, sondern nach der Anerkennung des - konfessionell - Anderen auf der Grundlage eines Konsenses, dass Christus allein das einzig verbindliche Fundament sein könne. Dieser Ansatz, der in den Niederlanden zu Indifferenzforschungen angeregt hat, die mit dem Namen Wiebe Bergsma eng verknüpft sind, ist auch für die übrige Forschung Europas anregend.
Ähnlich bemerkenswert sind zwei Aufsätze, die die Konzentration auf theologische Aspekte überwinden und nach dem Beziehungsgeflecht Heinrich Bullingers fragen. Teil dieses Geflechts waren Frauen - und zwar zum einen adelige, protestantische Frauen mit einem ausgeprägten Interesse an theologischen Fragen, wie Hans Ulrich Bächtold eindrucksvoll am Beispiel des Briefwechsels mit Anna Alexandria zu Rappoltstein verdeutlicht. Bullinger korrespondierte aber zum anderen auch mit der Kölner Äbtissin von Sankt Ursula, Justina Gräfin zu Lupfen-Stühlingen, wie Andreas Mühling ausführt. Er wurde quasi ihr Berater - insbesondere in der Zeit, als sie sich mit dem Gedanken trug, das Damen-Stift zu verlassen und zu konvertieren. Dass sie davon Abstand nahm, lag nicht zuletzt auch daran, dass aus ihrem Stift ein Jesuitenkloster geworden wäre, obwohl das Stift der Gründung nach für Grafentöchter bestimmt war. Hier weitere Klarheit zu gewinnen, etwa in Bezug auf die genaue Motivationslage der "kryptoreformierten" (227) Gräfin, die 1572 als Katholikin starb, wäre wünschenswert gewesen und hätte einen Bezug zur niederländischen Forschung herzustellen vermocht. Dass dieser Aspekt ebenso wenig ausgeführt wurde wie Bullingers Interesse an der Gräfin, ist sicherlich dem mangelnden Raum in dem dicht gefüllten Aufsatzband geschuldet.
Ausstrahlungen und Rückwirkungen der Zürcher Reformation ließen sich jedoch nicht allein in den weitestgehend bekannten Gebieten wie der Eidgenossenschaft beziehungsweise Oberdeutschland finden. Auch Regionen, die zumindest vordergründig fernab der Ereignisse von Zürich lagen, finden in dem Band Berücksichtigung. Ein Gewinn für die Forschung sind zweifelsfrei die Beiträge von Janusz Małłek, Erich Bryner und Lorenz Hein, die die Situation in Polen in den Blick nehmen. Persönliche und familiäre Kontakte, Austausch von Studenten und Büchern, Briefe an polnische Theologen sowie das Bemühen, theologische Schulen in Polen zu errichten, sorgten für einen bisher kaum gewürdigten Kontakt zwischen Polen und Zürich.
Ähnlich anregend ist der Versuch Martin Friedrichs, das Bild "vom rein lutherischen Skandinavien" (391) zu überprüfen und hier nach Ausstrahlungen der Zürcher Reformation zu fragen. Waren zwinglische Einflüsse in Schweden maximal indirekt, so bot sich in Dänemark ein anderes Bild: Zumindest für die Frühzeit der dänischen Reformation kann Friedrich festhalten, dass der ostdänische Reformationstyp sich eher vom Luthertum ab- und den oberdeutsch-schweizerischen Auffassungen zuwandte. Malmö und Kopenhagen waren die maßgebenden Orte, in denen niederdeutsche Fassungen von Zwinglis Schriften rezipiert wurden. Darüber hinaus war der Bürgermeister von Malmö im Besitz entsprechender hochdeutscher Übersetzungen.
Der Schwerpunkt der meisten Aufsätze liegt in der frühen Neuzeit. Umso bemerkenswerter sind die Beiträge von Angelika Dörfler-Dierken und Thomas K. Kuhn, die ihren Blick auf das 19. und 20. Jahrhundert richten. Kuhn setzt sich mit dem "religiösen Sozialisten" (471) Leonhard Ragaz auseinander, der Zwinglis Wirken mythisierte und dessen Theologie kaum beachtete, um ihn allein als Gesellschaftskritiker zu sehen, und daraus die Legitimation seiner eigenen kulturkritischen Gedanken formulierte. Dörfler-Dierken hingegen bricht nicht nur in ein neues Jahrhundert, sondern auch in die "neue Welt" auf, um die Ausstrahlungen der Zürcher Reformation zu entdecken. Am Beispiel von Samuel Simon Schmucker macht sie deutlich, dass "Zwinglianismus" auch im 19. Jahrhundert in den Vereinigten Staaten von Amerika ein massiver Vorwurf sein konnte, der zu grundlegenden Debatten Anlass gab. Die Ausstrahlung der Ereignisse von Zürich lag also nicht nur in der positiven Rezeption etwa Zwinglis, sondern auch darin, dass aus dessen theologischer Grundhaltung ein Vorwurf formuliert wurde.
Der vorliegende Sammelband besticht zweifelsfrei durch den neuen Blick auf die Zürcher Reformation, der nicht mehr zeitlich an die frühe Neuzeit und geografisch an die Eidgenossenschaft oder den oberdeutschen Raum gebunden ist. Zahlreiche Ansätze werden hier präsentiert, die eingehenderer Untersuchung bedürfen und neue Forschungszweige andeuten. Es besteht dabei die nicht unberechtigte Hoffnung, dass durch diese Erweiterung der Perspektive in Zukunft auch ein wenig die Konzentration von den zwei Hauptakteuren Zwingli und Bullinger genommen wird, um sowohl Theologen der zweiten Reihe als auch weitere nicht-theologisch gebildete Rezipienten der Zürcher Ereignisse zu Wort kommen zu lassen.
Alfred Schindler / Hans Stickelberger (Hgg.): Die Zürcher Reformation: Ausstrahlungen und Rückwirkungen. Wissenschaftliche Tagung zum hundertjährigen Bestehen des Zwinglivereins (29. Oktober bis 2. November 1997 in Zürich) (= Zürcher Beiträge zur Reformationsgeschichte; Bd. 18), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2001, 552 S., 16 Abb., ISBN 978-3-906764-38-2, EUR 53,70
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