Als vor mehr als zehn Jahren Band 69 der Berichte der Römisch-Germanischen Kommission erschien, enthielt dieser die umfangreichen Ergebnisse einer Konferenz von 1987 (Oldenburg - Wolin - Staraja Ladoga - Novgorod - Kiev. Handel und Handelsbeziehungen im südlichen und östlichen Ostseeraum während des frühen Mittelalters). Er präsentierte, wenn auch mit einem gewissen Schwerpunkt auf den Grabungen in Oldenburg, einen hervorragenden Überblick über den damaligen Forschungsstand hinsichtlich der frühmittelalterlichen Handelsbeziehungen des gesamten Ostseeraums mit Altrussland. Novgorod spielte darin, in Form eines kleinen Beitrages von Valentin L. Janin, nur eine marginale Rolle. Doch hat sich aus den seither intensivierten Kontakten zwischen den Erforschern des slawenzeitlichen Oldenburg und des mittelalterlichen Novgorod ein eindrucksvolles interdisziplinäres Projekt entwickelt, das sich mit "Besiedlung und Siedlungen im Umland slawischer Herrschaftszentren. Die archäologische, onomastische und paläobotanische Überlieferung" beschäftigt und das von der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz gefördert wird.
In diesem Zusammenhang entstand auch der Plan, als eine Art Gegenstück zu der Monografie über Oldenburg [1] in deutscher Sprache eine Publikation über Novgorod vorzulegen, die sich sowohl an die Fachwissenschaft als auch an das breitere Publikum wendet. Dieses Vorhaben ist nun mit dem ersten Band einer neuen, von Friedhelm Debus und Michael Müller-Wille herausgegebenen Reihe "Studien zur Siedlungsgeschichte und Archäologie der Ostseegebiete" auf eindrucksvolle Weise realisiert worden.
Der großformatige Band ist mit einer Vielzahl von teils farbigen Abbildungen und Karten ausgestattet und hervorragend redigiert, und es ist dem Herausgeber gelungen, Beiträge der führenden russischen Kenner der Novgoroder Archäologie und Geschichte zu vereinen, die ihre neuesten Forschungsergebnisse und Funde einfließen lassen.
So schildert Evgenij Nosov ausführlich die Entstehung von Herrschaft in und um Novgorod, Valentin Janin steuert sechs Kapitel (über die Ausgrabungen, über die politische Organisation, über das Geldsystem und verschiedene Quellenkomplexe) bei, und Elena Rybina berichtet über das Alltagsleben und die Außenbeziehungen in den Ostseeraum. Dazu kommen Beiträge über dendrochronologische Untersuchungen von Ol'ga Tarabardina, von Aleksandr Chorošev und Aleksandr Sorokin über die Struktur von Häusern und Höfen, von Vladimir Povetkin über Musikinstrumente, von Elisa Gordienko über Kirchen und geistiges Leben, von Aleksej Plochov über Koch- und Essgeschirr und von Valentina Gorjuneva über Technologietransfer im Töpferhandwerk. Drei Berichte über die Ergebnisse naturwissenschaftlicher Studien aus der Feder von Lars-König Königsson (Landnutzung seit dem Neolithikum), Almut Alsleben (Nahrungswirtschaft) sowie Mark Maltby und Sheila Hamilton-Dyer (Tierknochenuntersuchungen) ergänzen den Band. In der Regel geben die Autoren äußerst informative Überblicke, nur die Beiträge Janins sind zum Teil punktuell und bergen manch wichtige Information zur politischen und sozialen Struktur und zum Verhältnis zwischen Novgorod und den Fürsten unterschwellig im Text.
Bedauerlicherweise werden die außerhalb Russlands erarbeiteten Forschungsergebnisse von den russischen Autoren ignoriert, etwa die Arbeiten von Henryk Birnbaum, Carsten Goehrke und Joachim Leuschner speziell zu Novgorod selbst, von Klaus Zernack zur Vece- Problematik oder die sprachhistorischen Überlegungen Gottfried Schramms über die Anwesenheit von Skandianviern in der Rus'. Angesichts der Unbekümmertheit, mit der etwa von "einer bedeutenden polyethnischen Konföderation im Nordwesten der Rus' um die Mitte des 9. Jahrhunderts", vom Ve(e als einer "polyethnischen Versammlung von Stammesältesten" (Janin, 92) oder von der "Republik" (Gordienko, 267) gesprochen wird, wäre ein wenig kritische Distanz an anderer Stelle wünschenswert. Doch ist es "Schlußwort und Ausblick" von Müller-Wille zu danken, dass der weniger mit der Materie vertraute Leser, der nicht über russische Sprachkenntnisse verfügt, zumindest für die Archäologie mit Hinweisen auf weiterführende Literatur in westlichen Sprachen versorgt wird. Außerdem sind Glossare (287f. zur kirchlichen Terminologie, 391ff. zu weiteren Fachbegriffen) und eine Zeittafel hilfreich.
Nimmt man die informativen, bebilderten Beschreibungen einzelner Quellen-Komplexe, Fundorte und Bestandteile des städtischen Lebens hinzu, die in den Artikeln enthalten sind, kann man dem Band sogar einen enzyklopädischen Charakter bescheinigen.
Anmerkung:
[1] Starigard/Oldenburg. Ein slawischer Herrschersitz des frühen Mittelalters in Ostholstein, hrsg. von Michael Müller-Wille, Neumünster 1991.
Michael Müller-Wille / Valentin L. Janin / Evgenij N. Nosov u.a.: Novgorod. Das mittelalterliche Zentrum und sein Umland im Norden Russlands (= Studien zur Siedlungsgeschichte und Archäologie der Ostseegebiete; Bd. 1), Neumünster: Wachholtz Verlag 2001, 399 S., ISBN 978-3-529-01390-4, EUR 50,00
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