In zahlreichen europäischen Ländern war die Zwischenkriegszeit eine Periode der politischen Gewalt. Die Nachwirkungen des Ersten Weltkriegs, die tief greifenden sozioökonomischen Umbrüche und kulturellen Konflikte setzten die liberalen Demokratien einem starken Binnendruck aus. Von Frankreich bis zum Balkan suchten viele Menschen nach radikalen Alternativen zu parteipolitischer Willensbildung und parlamentarischen Aushandlungsprozessen. Doch nirgendwo nahm Gewalt so extreme Formen und einen derartigen Selbstzweckcharakter an wie im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA, die sich deshalb, so die These von Sven Reichardt, als faschistische Bewegungen charakterisieren lassen. Mit seiner Untersuchung leistet er über den engeren Untersuchungsgegenstand hinaus einen Beitrag zu einer kulturhistorisch erneuerten, gleichzeitig empirisch und komparativ fundierten Faschismusforschung, die Lebensstil und politische Praxis in den Mittelpunkt rückt.
Reichardt beginnt seine Darstellung mit einer quantitativen wie qualitativen Analyse der Gewalthandlungen von SA und Squadrismus. Anders als immer wieder behauptet wird, lassen sich diese nicht als Reaktion auf die kommunistische Gewalt verstehen - schon deshalb nicht, weil sie zu einem erheblichen Teil in ländlichen Regionen stattfanden und sich auch und gerade gegen die friedliche sozialdemokratische Arbeiterbewegung richteten. Vielmehr handelte es sich um eine physische wie symbolische Machtdemonstration aus eigenem Antrieb, die im Mittelpunkt von Propaganda und Binnenintegration stand, eine zentrale Rolle für den jeweiligen Weg von Faschismus und Nationalsozialismus zur Macht spielte und - in Italien stärker als in Deutschland - durch den mangelnden Willen zur Verteidigung des staatlichen Gewaltmonopols gefördert wurde.
Im sozialhistorischen Teil der Arbeit wird gezeigt, wie beide Kampfbünde ihre Mitgliederzahl ungemein schnell erhöhten und dabei in flexibler Weise Angehörige unterschiedlicher sozialer Schichten anzusprechen vermochten. Der italienische Squadrismus war ländlicher, bürgerlicher und studentischer geprägt, während die SA mehr Arbeiter sowie junge Handwerksgesellen rekrutierte. In beiden Fällen war es in erster Linie die bei jungen Männern besonders ausgeprägte Kluft zwischen Aufstiegserwartungen und konkreten Unsicherheits- und Abstiegserfahrungen, die in den Kampfbünden ein Stück weit aufgefangen und kompensiert werden konnte.
Entscheidend für Letzteres war die kommunikative Inklusion der Angehörigen von SA und Squadrismus. Das Gemeinschaftsleben in den zellulär aufgebauten, von charismatischen Führern geleiteten Kampfbünden knüpfte an bestehende soziale Beziehungen an, stellte aber gleichzeitig eine Gegenwelt dar, in der die jungen Männer eine neue Identität aufbauen konnten und auch mussten. Die von Alkohol und Gewalttätigkeit geprägte Geselligkeit in Kneipen und SA-Heimen trat an die Stelle der Familie. Der sozialfürsorgerische Klientelismus, der Ausschluss von Abweichlern, in Deutschland auch die permanente Konfrontation mit den Kommunisten trugen zusätzlich zur inneren Festigung der Organisationen bei.
Des Weiteren sprachen der Kult um die "Märtyrer" und die Symbolik von Fahnen und Uniformen die Gefühle der Kampfbündler an und ermöglichten die religiöse Identifikation mit der faschistischen Bewegung und einer vitalistisch verstandenen Nation. Weniger ideologische als vielmehr emotionale Qualität hatte auch der Hass auf Kommunisten und Bürgerliche, der im Falle der SA durch eine antikapitalistische Judenfeindschaft ergänzt wurde. In beiden Kampfbünden ging die enge Verbindung von Männlichkeit und Gewalt mit einem angstbesetzten Verhältnis zur Sexualität einher, das sich in den Feindbildern der effeminierten Nachkriegsgesellschaft und der kommunistischen Verführerin niederschlug.
Diese Ergebnisse werden von Sven Reichardt in empirischer wie in argumentativer Hinsicht überzeugend untermauert. Die Arbeit basiert auf einer gründlichen Auswertung der einschlägigen historischen und theoretischen Literatur, von Zeitschriften und Erinnerungsberichten sowie von archivalischen Quellen unterschiedlicher Provenienz, wobei die Mikrostudien zu Charlottenburg und Bologna besonders hervorzuheben sind. Reichardt ist nicht der Erste, der die rechtsextremen Kampfbünde der Zwischenkriegszeit als aktivistische Subkultur auffasst, die symbolisch wie praktisch um Gewalt kreiste,[1] aber er setzt diese Einsicht umfassender als bislang geschehen um und greift dabei erfolgreich auf neuere methodische Ansätze zurück. Die flexible sozialhistorische Analyse, die den diskontinuierlichen Lebensläufen in der Umbruchsperiode nach dem Ersten Weltkrieg Rechnung trägt, überzeugt ebenso wie die Einbeziehung der kulturellen Ebene von Totenkult, Symbolik, Feindbildern und Männlichkeitskonstruktionen. Vor allem aber liegt eine wesentliche Leistung in der genauen Untersuchung der Praxis der Kampfbünde, ihrer Binnenkommunikation und der exzessiven Gewaltausübung nach außen.
Durch die Herausarbeitung deutsch-italienischer Gemeinsamkeiten wird zudem der in der deutschsprachigen Historiographie zuletzt vernachlässigte Faschismusbegriff revitalisiert. Der Faschismus von SA und Squadrismus erscheint in erster Linie als Lebensstil, dessen Vertreter sich - im Unterschied zu Verbandsnationalisten und Kommunisten - mit ihrer ganzen Existenz der physischen wie symbolischen Gewalt, der rauen Männergemeinschaft und dem militanten, eher emotionalen als inhaltlich gefüllten Nationalismus verschrieben hatten. Welche Konsequenzen sich daraus über die Geschichte der systemoppositionellen Kampfbünde hinaus für die Dynamik der beiden Diktaturen ab 1922 bzw. 1933/34 ergaben, ist entscheidend für den größeren Erklärungswert eines so verstandenen Faschismusbegriffs; das wird von Reichardt nicht thematisiert und bleibt somit weiter komparativ zu erforschen.
Die genannten empirischen und konzeptionellen Leistungen erfordern Platz, aber dennoch hat der große Umfang des Buches Nachteile, zumal er mit einer kleinteiligen und etwas uneinheitlichen Kapitelstruktur einhergeht. Eine konzisere und weniger detailreiche Gestaltung hätte dem Text gut getan. Die größeren Argumentationslinien und politisch-gesellschaftlichen Kontexte werden zwar bei der Lektüre sukzessive deutlich, hätten aber systematischer entwickelt werden können. Diese Kritikpunkte ändern jedoch nichts am positiven inhaltlichen Urteil über die Arbeit von Sven Reichardt, die SA und Squadrismus gründlich und umfassend behandelt und durch ihre vergleichend untermauerte Charakterisierung als faschistische Bewegungen weiterführende Perspektiven eröffnet.
Anmerkung:
[1] Vgl. u.a. Peter Longerich: Die braunen Bataillone. Eine Geschichte der SA, München 1989, S. 115-151; Thomas Balistier: Gewalt und Ordnung. Kalkül und Faszination der SA, Münster 1989.
Sven Reichardt: Faschistische Kampfbünde. Gewalt und Gemeinschaft im italienischen Squadrismus und in der deutschen SA (= Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte; Bd. 63), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2002, 814 S., ISBN 978-3-412-13101-2, EUR 59,00
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