sehepunkte 3 (2003), Nr. 1

Michał Buchowski / Edouard Conte / Carole Nagengast (eds.): Poland beyond Communism

Die Literatur zur Transformation der Länder Ostmitteleuropas und nicht zuletzt Polens füllt mittlerweile Regale und lebt im Falle der politologischen Bücher mit dem fachspezifischen Handikap, dass sie Eliten, Parteien, Institutionen und die Makroökonomik häufig im Blick haben und die Transformation anhand dieses groben Rasters bisweilen voreilig als geglückt vollzogen melden. Der vorliegende Sammelband tut dies nicht. Er vereint polnische, französische und angelsächsische Wissenschaftler mit dem Anspruch, die kulturellen und moralischen Befindlichkeiten der Polen in den Jahren der Volksrepublik und mehr noch unter den veränderten ökonomischen und politischen Gegebenheiten nach 1989 interdisziplinär zu untersuchen.

Die Autoren dieses Bandes haben sich mit einem Land auseinander zu setzen, dessen "romantische Kodierung" einerseits liberales Denken behinderte, andererseits die Selbstorganisation von Arbeitern, Angestellten und Intellektuellen als Zivilgesellschaft prädestinierte, welche dem als fremd oder illegitim empfundenen Staat häufig entgegentrat. Jan Rydel weist darauf hin, welch entscheidende mythenbildende Rolle die katholische Kirche in der Auseinandersetzung mit dem - religiös fremden und seit 1945 atheistischen - Staat und bei der Herausbildung des oben skizzierten Grundmusters spielte. Die religiöse Konfrontation wirkte sich auch negativ auf das Verhältnis zwischen Polen und Juden aus, wie Włodzimierz Borodziej ausführt. Der Antisemitismus sei nach 1945 latent geblieben und habe bezüglich des kulturellen Gedächtnisses - wie sich während der Jedwabne-Debatte zeigte - seine Brisanz nicht verloren. Auf ein nicht nur religiös sondern auch national aufgeladenes Terrain begibt sich Chris Hann mit einer Untersuchung der Wechselbeziehungen zwischen polnischer und ukrainischer Kultur in Vergangenheit und Gegenwart im polnischen Przemyśl.

Edouard Conte thematisiert die Herausforderungen, denen sich die polnischen Bauern in der Wojewodschaft Zamość während der letzten 70 Jahre ausgesetzt sahen. Diese nahmen sich verschieden aus: ethnisch gegenüber den ukrainischen Bauern, rassisch gegenüber den deutschen Besatzern (samt der angesiedelten Bauern aus dem "Reich"), hinzu kam die zur Klassenfrage stilisierte Auseinandersetzung um Bodenreform und Kollektivierung nach 1944. Longina Jakubowska nimmt dieses Thema auf, indem sie den ökonomischen Besitz- und moralischen Bedeutungsverlust des einst das Polentum verkörpernden Adels am Beispiel der heutigen Restitutionsansprüche untersucht.

Mithilfe von Jan Kubiks Analyse der Protestbereitschaft polnischer Arbeiter (in überwiegend staatlichen Betrieben) zu Beginn der 1990er-Jahre lassen sich Kontinuitäten zur ursprünglichen Solidarność feststellen, was Streikbereitschaft und Streikorte anbelangt. Hingegen seien die Protestformen nach 1989 partikular und die Forderungen überwiegend ökonomisch und höben sich damit von den ausgeprägt politischen Streikwellen der Jahre 1980/81 ab. Kazimiera Wódz, Krzystof Łęcki, Wielisława Warzywoda-Kruszyńska und Carole Nagengast wählten die Armut als Thema ihrer Untersuchung und analysieren deren soziale wie psychische Folgen innerhalb einer neu entstandenen sozialen Unterschicht. Verbunden mit der Gefährdung des bisherigen Sozialgefüges sei eine starke konsumptive Ausrichtung aller Polen, stellt Francis Pine fest.

Elizabeth C. Dunn, Michał Buchowski, Deborah J. Cahalen und François Bafoil gehen der Frage nach, wie die globalisierte Marktwirtschaft sich auf die Arbeitswelt in Unternehmen und Städten auswirkt. Gemessen an der kollektivistischen Tradition der Solidarność konstatieren die Autoren eine Individualisierung der Angestellten in privatisierten Unternehmen. Sie passten sich einer Realität an, welche utilitaristisch den einzelnen bewertet und Anpassungsbereitschaft gepaart mit individueller Leistung honoriere. Die Ideologie trete hinter Rationalität zurück, ohne gänzlich an Bedeutung zu verlieren; denn nach Cahalen ist die lokale Vermittlung globalisierter Marktwirtschaft vor allem durch moralische Ökonomie zu leisten, mithin eine neue Ideologie.

Auffällig ist, dass die polnischen Wissenschaftler im Gegensatz zu ihren westlichen Kollegen den postmodernen Diskurs vermeiden, worauf unter anderen Marek Ziółkowski in seinem Aufsatz hinweist. Diese Beobachtung entspricht der gängigen Vorstellung von einer nachholenden Modernisierung. So zutreffend diese Einschätzung in makroökonomischer Hinsicht sein mag, so unscharf und idealtypisch ist sie bei historisch-anthropologischer Betrachtung der Transformation, wie der vorliegende Sammelband aussagekräftig unter Beweis stellt. Polens ausgeprägt antistaatliche, zivilgesellschaftliche und religiöse Tradition steht einem linearen Prozess der Aneignung westlicher Modernitätsstandards unübersehbar entgegen.

Resümierend bleibt festzustellen, dass der fachlich vertraute Leser aus den Detailstudien ein schärferes Bild über die Schattenseiten der Transformation in Polen gewinnen und gewiss einen Erkenntnisgewinn aus diesem Buch ziehen wird. Die an Polen allgemein interessierten Leser mögen ob der disparaten Themen und stilistischen Sprünge eher verwirrt sein, zumal der Titel eine weitaus konzisere Abhandlung suggeriert, als das Buch einzulösen vermag.


Rezension über:

Michał Buchowski / Edouard Conte / Carole Nagengast (eds.): Poland beyond Communism. "Transition" in Critical Perspective (= Studia Ethnographica Friburgensia), Fribourg/Freiburg: Universitätsverlag 2001, 353 S., ISBN 978-3-7278-1371-9, EUR 43,85

Rezension von:
Burkhard Olschowsky
Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Burkhard Olschowsky: Rezension von: Michał Buchowski / Edouard Conte / Carole Nagengast (eds.): Poland beyond Communism. "Transition" in Critical Perspective, Fribourg/Freiburg: Universitätsverlag 2001, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 1 [15.01.2003], URL: https://www.sehepunkte.de/2003/01/3276.html


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