"Verbal Celebrations", verbale Feste, nennt Ingunn Lunde die von ihr auf ihre rhetorischen Verfahren hin untersuchten Predigten Kirills (ca. 1130-1182), der vermutlich ab 1168 Bischof von Turov war. Die im 12. Jahrhundert und für die höchsten christlichen Festtage geschriebenen Predigten feiern die zentralen heilsgeschichtlichen Ereignisse des Christentums, indem sie gerade in ihren paradoxen Erscheinungsformen, der Menschlichkeit und Gottheit Christi, seiner Auferstehung von den Toten und der dadurch gewährleisteten Errettung der Menschheit, den Zuhörern vor Augen geführt werden. Es ist eine der zentralen Leistungen Lundes, dass sie sich bei ihrer Textanalyse nicht auf das Abarbeiten eines Katalogs von rhetorischen Formen beschränkt und auch nicht eine Predigt nach der anderen durchgängig analysiert, sondern die rhetorischen Verfahren, die in den Predigten benutzt werden, bündelt und auf ihre Wirkung auf die Zuhörerschaft hin untersucht. Hierbei wendet sie nicht nur klassische Kategorien an, sondern den gesamten Katalog postmoderner literaturwissenschaftlicher Methoden.
Fast die Hälfte des Buches (120 Seiten) ist einer Einordnung der rhetorischen Strategien Kirills von Turov in die byzantinischen rhetorischen und homiletischen Traditionen gewidmet. Hierbei muss Ingunn Lunde bezeichnenderweise noch begründen, dass in Predigten tatsächlich derartige Elemente angewendet werden. Gezeigt wird am Beispiel des Verfahrens der Antithese, wie Text und Ritual zusammenhängen und wie diese im Kultschauspiel die Zuhörer zum Erleben des Heilsdramas bringen. Als wesentliches Verfahren christlicher Homiletik wird die epideiktische Rhetorik eingeführt und anhand von vielen Beispielen und Vergleichen mit byzantinischen Predigten auch als ein Hauptmerkmal der Predigten Kirills von Turov festgemacht.
In einem nächsten Schritt untersucht Ingunn Lunde nun das Problem der Originalität der Predigten aufgrund der ihnen zu Grunde liegenden rhetorischen Tradition und einer sich vom heutigen Verständnis von Originalität stark unterscheidenden Auffassung von Autorität. So kann sie zeigen, dass Kirills Predigten ihre Quellen in Byzanz hatten, seine rhetorischen Mittel aus der byzantinischen Homiletik stammten und dass auch seine Zitierweise autoritativer Quellen typisch für mittelalterliche Literatur ist. Aber trotzdem sind die strukturelle Anordnung der Themen ebenso wie die Verwendung der rhetorischen Verfahren für ihn charakteristisch. Die Predigten hat er so ausformuliert, dass sie seinem Ziel, nämlich dem Erleben der Heilsgewissheit durch die Zuhörer, dienten. Die von Kirill benutzten rhetorischen Verfahren Antithese, Parallelismus, Variation und Wiederholung zur Amplificatio werden von der Verfasserin nicht nur in der Anordnung von Rede, Monolog und Wechselrede auf der makrostrukturellen, sondern auch auf der mikrostrukturellen Ebene der Texte bis hinein in die Wortwurzeln exemplarisch untersucht.
Insgesamt handelt es sich um eine gelungene und innovative Studie. Dennoch kann die Rezensentin nicht umhin, einige Punkte kritisch anzumerken - die sich allerdings teilweise aus ihrer spezifischen Sicht ergeben mögen: Bei der Diskussion der Frage der Originalität vermisst man eine Würdigung der sich auf diese Thematik beziehenden Arbeiten Riccardo Picchios, vor allem des Aufsatzes "Compilation and Composition" [1], denn Ingunn Lunde zitiert hier nur einen frühen Aufsatz des Autors. [2] Bei der Angabe der byzantinischen Quellen (107ff.) wäre eine Datierung derselben beim Lesen hilfreich gewesen. Auf Seite 153 fehlt die Angabe des Zitates, das die Verfasserin als Prophetenzitat einordnet, das aber in 1. Kor. 15,55 steht ("Tod, wo ist dein Stachel"). Auf Seite 171 fehlt die Allusion auf Jehovas Namen "Ich bin, der ich bin" (Ex. 3,14). Bei der Analyse der Palmsonntagspredigt (217ff.) wäre ein Vergleich mit dem apokryphen Nikodemusevangelium hilfreich gewesen, auf den sich die orthodoxe Liturgie hier bezieht.
Schließlich bleibt die Frage nach dem genauen Umfang des Textkorpus der Predigten Kirills von Turov offen, eine Frage, die Ingunn Lunde in ihrer Einleitung noch diskutiert, denn es ist durchaus fraglich, ob es jemals einen Bischof Kirill in Turov gegeben hat, wann dieser gelebt haben soll und ob ihm tatsächlich das unter dem Namen Kirills von Turov kursierende Textkorpus zugeordnet werden kann. Außerdem ist bis heute unklar, welche Texte diesem Korpus tatsächlich zuzuordnen sind. Trotzdem erläutert Ingunn Lunde nicht, warum sie ausgerechnet Eremins Ausgabe der Predigten benutzt und keine andere; und welche Gründe es für sie gibt, ausgerechnet die von ihr untersuchten Festtagspredigten zu einem Korpus zusammenzufassen. Implizit ist die Antwort darauf natürlich eindeutig: Die hier untersuchten Festtagspredigten gehören zusammen, weil in ihnen ganz ähnliche rhetorische Verfahren benutzt werden. Und doch wird diese Antwort nicht gegeben, ja nicht einmal die sich doch gleich aus der Anfangsdiskussion ergebende Frage überhaupt aufgeworfen.
Anmerkungen:
[1] Riccardo Picchio: Compilation and Composition. Two Levels of Authorship in the Orthodox Slavic Tradition, in: Cyrillomethodianum 5 (1981), S. 1-4.
[2] Riccardo Picchio: The Isocolic Principle in Old Russian Prose, in: Roman Jakobson (Hg.): Slavic Poetics. Essays in Honor of Kiril Taranovsky, The Hague / Paris 1973, S. 299-331.
Ingunn Lunde: Verbal Celebrations. Kirill of Turov's Homiletic Rhetoric and its Byzantine Sources (= Slavistische Veröffentlichungen; Bd. 86), Wiesbaden: Harrassowitz 2001, 301 S., ISBN 978-3-447-04358-8, EUR 49,00
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