Die vorliegende Arbeit bewegt sich im Überschneidungsbereich historisch-zeitgeschichtlicher, kirchengeschichtlicher und juristischer Probleme, wobei sie sich als rechtswissenschaftliche Dissertation vornehmlich juristische Fragestellungen und Darstellungsweisen zu Eigen macht. Andererseits ist der nur auf Umschlag und Titelblatt auftauchende, für die Verlagsausgabe 2002 gewählte Titel zutreffender als der (in der Inhaltsübersicht, dem Inhaltsverzeichnis und dem Text selbst stehen gebliebene) ursprüngliche Titel der Dissertation "Die Entwicklung des Staatskirchenrechts in Litauen". Die dieses Thema behandelnden Kapitel 3 und 4 über "Die Entwicklung des Staatskirchenrechts in Litauen seit der Unabhängigkeitserklärung von 1990" beziehungsweise "Die römisch-katholische Kirche und die Gesellschaft Litauens" umfassen nämlich zusammen weniger als ein Fünftel des Textes, während mehr als zwei Drittel des Gesamttextes auf das 2. Kapitel entfallen, das den "Leidensweg der römisch-katholischen Kirche Litauens von 1940 bis zur staatlichen Unabhängigkeit 1990" beschreibt, und ein kurzes erstes Kapitel, das die Situation der katholischen Kirche im unabhängigen Litauen 1918-1940 skizziert.
Die Stärken des Buches liegen eindeutig dort, wo grundlegende Vertrags- oder Gesetzestexte analysiert werden. Dies sind in Kapitel 1 vor allem die Bestimmungen des Konkordats zwischen dem Apostolischen Stuhl und der Republik Litauen vom 27.09.1927, in Kapitel 2 das Dekret des Rates der Volkskommissare vom 23.01.1918 "Über die Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche", das später auch in der Litauischen SSR die Grundlage für die staatliche Haltung gegenüber Religion und Kirche bildete, sowie der Beschluss des Allrussischen Zentralexekutivkomitees und des Rates der Volkskommissare der RSFSR "Über religiöse Vereinigungen" vom 28.04.1929, das heißt das Religionsgesetz der RSFSR, das später für die gesamte Sowjetunion (bis 1975) Gültigkeit besaß. Vor allem aber sind hier die ausführliche Darlegung und Analyse der Verfassung der Republik Litauen vom 25.10.1992 in Bezug auf das Verhältnis Staat-Kirche und das "Gesetz über religiöse Gemeinschaften und Vereinigungen der Republik Litauen" vom 04.10.1995 zu nennen, die grundlegend für den heutigen rechtlichen Status der katholischen Kirche in Litauen sind.
In den Teilen des Buches, die historische und zeitgeschichtliche Entwicklungen und Ereignisse beschreiben, fällt demgegenüber weit stärker ins Gewicht, dass der Autor weder der litauischen (und der russischen) Sprache mächtig noch als (Osteuropa-) Historiker ausgebildet ist. Dies erklärt Ungenauigkeiten, die bis hin zu Fehlinformationen gehen, wofür ein besonders eklatantes Beispiel genügen mag: "In Litauen herrschte seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein noch strikteres Presseverbot als unter der Herrschaft des Zaren 1865-1904, als es nur erlaubt war, Bücher in russischer Sprache zu drucken." (216). In Wahrheit war es in dem genannten Zeitraum bekanntlich "nur" verboten, Bücher in litauischer Sprache in anderen als kyrillischen Lettern zu drucken, das heißt es handelte sich um den Versuch, für die litauische Sprache an Stelle der verhassten lateinischen ("polnischen") die kyrillische Schrift einzuführen und für verbindlich zu erklären - ein Versuch, der nicht zuletzt auf Grund der Haltung der katholischen Kirche in Litauen und dank des Schmuggels litauischer Literatur in lateinischer Schrift durch die sogenannten "Bücherträger" vollkommen scheiterte.
Die wichtigste Quelle für das besonders umfangreiche dritte Kapitel hätte dem Autor nicht aus sprachlichen Gründen verschlossen bleiben müssen: Die insgesamt 81 Ausgaben der 1972 bis 1988 erschienen Untergrundzeitschrift "Chronik der Litauischen Katholischen Kirche", die die Verfolgung der Kirche, ihrer Bischöfe, Priester und Gläubigen fortlaufend dokumentierte, wurde vom seinerzeitigen "Institutum Balticum" des Albertus-Magnus-Kollegs in Königstein in einer vollständigen deutschen Übersetzung zunächst im Institutsjahrbuch "Acta Baltica" und dann als gesonderte Reihe in Buchform veröffentlicht. Doch auch diese leicht zugängliche Quelle nutzt der Autor bisweilen leider nur aus zweiter Hand.
Trotz dieser Mängel bleibt jedoch festzuhalten: Das Buch vermittelt insgesamt einen sehr guten Überblick über die Entwicklung der katholischen Kirche in Litauen in dem halben Jahrhundert zwischen 1945 und 1995. Es ist in guter Kenntnis der in westlichen Sprachen zu diesem Thema erschienenen Literatur bei sinnvoller Gliederung und Gewichtung des Inhalts sowie in sprachlich gelungener Form verfasst und stellt somit eine sehr begrüßenswerte Zusammenstellung der bisher fast ausschließlich in Gestalt kleiner Einzelbeiträge vorliegenden Arbeiten zu diesem Thema zu einer Gesamtdarstellung dar, die ihren zusätzlichen, besonderen Wert durch die spezifisch juristische Darlegung der maßgeblichen Rechtsquellen gewinnt.
Martin Jungraitmayr: Der Staat und die Katholische Kirche in Litauen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs (= Zeitgeschichtliche Forschungen; Bd. 16), Berlin: Duncker & Humblot 2002, 423 S., ISBN 978-3-428-09969-6, EUR 76,00
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