Der deutsche Kolonialismus setzte im internationalen Vergleich spät ein und dauerte relativ kurze Zeit. Bezogen auf die faktische Annexion fremder Länder ist dieser Befund zweifelsfrei richtig. In der Forschung hatte er weit reichende Folgen. Entweder wurde der deutsche Kolonialismus ausschließlich als Vorgeschichte zum Nationalsozialismus betrachtet oder aber als unabhängig von nationalsozialistischem Rassismus und Holocaust. Die widersprüchlichen Ansätze hatten ein gemeinsames Ergebnis. Dem deutschen Kolonialismus wurde die internationale Vergleichbarkeit abgesprochen. Erst unter dem Einfluss der postcolonial studies gelang es, diese falsche Alternative in der Tradition der Sonderwegsforschung aufzulösen. Zu welch überzeugenden Ergebnissen ein solcher Ansatz führen kann, zeigt Lora Wildenthal in ihrem beindruckenden Buch. Auf hohem Niveau - und dabei völlig unprätentiös - wird ein neuer Blick auf die Geschichte des deutschen Kolonialismus eröffnet. Der Titel des Buches lässt zwar die Perspektive erkennen, mit der Wildenthal durch die 60 Jahre des Untersuchungszeitraumes und über dessen Grenzen hinaus führt. Er darf jedoch nicht als Ankündigung einer begrenzten Spezialuntersuchung missverstanden werden: Die geschlechtergeschichtliche Studie führt ins Zentrum dessen, was den deutschen Kolonialismus vor, während und nach der Zeit der Annexionen ausmacht: die Kreuzungslinien von Rassismus, Nationalismus und Gender im Spannungsfeld von Imaginationen und deren Verwirklichungen.
Wildenthal beginnt ihr Buch mit einem bekannten Zitat von John Stuart Mill, das auf den angeblichen Zusammenhang von zivilisatorischer Fortschrittlichkeit respektive Rückständigkeit einer Gesellschaft und der Behandlung von Frauen abhebt. Diese - man könnte ergänzen: nicht erst seit dem 19. Jahrhundert - verbreitete Auffassung verknüpfte das Schicksal der Frauen in Europa mit dem Überlegenheitsdiskurs gegenüber den annektierten Ländern und der "Europe's civilizing mission" (1). Dass sich weiße Frauen der Zeit gleichzeitig als Symbol und Kuriere dieser gesellschaftlichen Fortschrittlichkeit sahen, nimmt Wildenthal in ihrem methodischen Vorgehen auf: Die Untersuchung verbindet die Analyse der diskursiven Ebene mit der "agency" der Frauen in den Kolonien und der "metropole". In fünf Kapitel nähert sich die Autorin dem komplexen Geflecht aus Zuschreibungen und Handlungsweisen. Die klare Gliederung spiegelt nicht nur den Gang der historischen Erzählung, sondern auch die Entwicklung der so genannten kolonialen Frauenfrage.
Im ersten Kapitel beschäftigt sich Wildenthal mit dem "Colonial Nursing as the First Realm of Colonialist Women' s Activism, 1885-1907". Indem sich Frauen als Organisatorinnen der medizinischen Pflege etablierten, gelang es ihnen, sich als "agents of empire" unentbehrlich zu machen. Den durch den Zwangszölibat entsexualisierten Krankenschwestern war es erlaubt, unter dem kontrollierenden Blick der männlichen Ärzte gewisse weibliche Eigenschaften in den männlichen Raum der Kolonien einzubringen. Entscheidend war hier die Säkularisierung der Krankenpflege, mit der sie sich aus der Führung durch (männliche) Geistliche befreiten (53). Dass es sich bei dem Kampf um das Recht auf Krankenpflege jedoch nur um einen ersten Schritt handelte, zeigt Wildenthal im zweiten Kapitel an einem Fallbeispiel: "The Feminine Radical Nationalism of Frieda von Bülow". Das Leben der wohl bekanntesten deutschen Kolonialistin zeigt die Grenzen des weiblichen Projekts. Ihr Bestehen auf persönlicher Autonomie und ihr radikaler Nationalismus - verbunden mit ihrem Feminismus - führten letztlich zu ihrer Vertreibung aus den Kolonien.
So wird im Laufe der Untersuchung deutlich, dass die Schwierigkeiten, auf die Frauen in den Kolonien stießen, vor allem in den unterschiedlichen Vorstellungen begründet lagen, die Frauen und Männer mit dem deutschen Areal außerhalb Deutschlands verbanden: Während Frauen hofften, die koloniale Freiheit eröffne ihnen neue Handlungsräume, sahen zumindest manche Männer in den Kolonien die Freiheit von deutschen Frauen und dem von ihnen ausgehenden zivilisatorischen Druck. Sie genossen die Möglichkeit, einerseits die überlegene deutsche Zivilisation verkörpern, andererseits sich den gängigen sexuellen Normen nicht unterwerfen zu müssen. Vergewaltiger zum Beispiel rechtfertigten ihr Verhalten damit, dass ihr Vorgehen unter den gegebenen lokalen Umständen nötig oder zumindest angemessen gewesen sei - Wildenthal rollt hier die in Deutschland scharf verurteilte, grausame Vorgehensweise von Carl Peters sowie deren Verteidigung durch Frieda von Bülow auf (70-76). Der Umgang mit der Gewalt deutscher Männer in den Kolonien zeigt das prekäre Verhältnis von Frauen und Rassismus. Sicherlich stellten sich die karitativen weiblichen Organisationen gegen das brutale, allen zivilisatorischen Errungenschaften widersprechende Handeln. Gleichzeitig wollten sie jedoch nicht Gefahr laufen, dass ihre Mitglieder mit eingeborenen Frauen gleichgesetzt würden. Aus unterschiedlichen Gründen entwarfen Männer und Frauen gleichermaßen Bilder von afrikanischen oder pazifischen Frauen als gehorsam, sexuell willig, verführerisch und noch nicht von der zivilisierenden - für manche Männer überzivilisierten - deutschen Kulturmission betroffen.
Die folgenden Kapitel wenden sich den unterschiedlichen Fassetten des "race mixing" Diskurses und dessen Praxis zu. Das Problem war mit weiteren politisch brisanten Themen verzahnt. So verstärkten etwa die steigende Anzahl an Kolonisten und die intensivierte Bindung an die "metropole" die Forderungen nach Mitbestimmung in der Selbstverwaltung. Diese Forderungen waren den "imperial patriarchs" ein Dorn im Auge. Die eher liberal gesinnten Nationalisten setzten sich für politische Partizipation ein und betonten gleichzeitig mit besonderer Vehemenz die Rassengrenzen. Ehen zwischen den rassischen Linien wurden nun (im Gegensatz zu den frühkolonialen Gesellschaften) als Angriff auf die deutsche Überlegenheit gedeutet. Ehen zwischen Einheimischen und Kolonisten wurden in drei deutschen Kolonien verboten. Dieses Verbot verstärkte wiederum die Hoffnung weißer Frauen auf ihre eigene wachsende Bedeutung. Ziel des 1907 gegründeten zweiten kolonialen Frauenvereins war es daher, Frauen in den Kolonien (vor allem in Deutsch-Südwest-Afrika) anzusiedeln. Sie sollten als Farmerinnen in einer Art erweitertem Haushalt die männlichen Kolonialisten unterstützen, ohne ihnen den kolonialen Raum streitig zu machen. Wenn der Mangel an heiratsfähigen weißen Frauen in den Kolonien behoben würde, so die Hoffnung, könne man mehrere Probleme gleichzeitig lösen: der Überfluss an heiratsfähigen Frauen in Deutschland würde abgebaut, die Rassengrenze in den Kolonien durchgesetzt und die verräterische Gewalt gegenüber Eingeborenen eingedämmt. Die koloniale Frauenfrage war zutiefst vom Rassismus geprägt. Frauen wurde die Fähigkeit zugeschrieben, rassische Reinheit zu behaupten und "German-ness" weltweit zu verbreiten. Nach dem Verlust der Kolonien, der ironischerweise mit dem niedrigen zivilisatorischen Niveau Deutschlands begründet wurde, erstarkte das Kreisen um die deutsche Kulturmission zur Obsession. "German colonialist women's activism ended with the defeat of Nazism in 1945, but the entanglement of gender difference, feminism, and hierarchical cultural comparison did not" (202).
Wildenthal hat nicht nur den Zusammenhang von Nationalismus und Rassismus exemplarisch an den kolonialistischen Frauenvereinen herausgearbeitet. Sie hat auch gezeigt, wie die Vorstellungen von Geschlechterrollen und Hierarchie die kolonialen Praktiken determinierten, und umgekehrt, wie die kolonialen Praktiken die Frage nach der Natur des Deutschtums virulent hielten.
Lora Wildenthal: German Women for Empire, 1884-1945 (= Politics, History, and Culture), Durham / London: Duke University Press 2001, 336 S., 1 Abb., ISBN 978-0-8223-2819-3, USD 19,95
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