Zur 1150-Jahrfeier "Stift und Stadt Essen" hat Ute Küppers-Braun ein Buch vorgelegt, das als großer Wurf bezeichnet werden kann. Die dritte Auflage innerhalb eines Jahres unterstreicht dies. Als ausgewiesene Kennerin der Thematik Damenstifte kann sie diesmal einem breiteren Publikum die beachtliche historische Bedeutung des ehemaligen Essener Stiftes, eines der "reichsten Stifte des hohen Mittelalters im deutschsprachigen Raum", nahe bringen. Einiges von dem, was sie bereits im Sammelband von Irene Crusius "Studien zum Kanonissenstift" (2001) veröffentlicht hat, und von dem Fachleute wünschten, es möge einem breiten Publikum bekannt werden, kann sie nun wiederholen. Sie verzichtet dabei nicht auf Forschungskontroversen und -probleme, erörtert sie jedoch in gebotener Kürze und bezieht auch selbst Stellung.
Mit dem Satz, dieses Buch biete "für alle, die mehr über Leben und Wirken der adeligen Damen wissen wollen, einen lohnenden Einstieg", untertreibt das Buch, denn es ist kaum vorstellbar, dass in absehbarer Zeit erheblich mehr als das, was Küppers-Braun an Wissenswertem über das Essener Stift in ihrem Buch versammelt hat, publiziert werden wird. Gleichwohl wäre es wünschenswert und förderlich gewesen - wozu die dritte Auflage des Buches Anlass gegeben hätte -, einige Textpassagen, etwa den Abschnitt über den Umgang des Stifts mit Minderheiten und Randgruppen, durch Archivrecherche oder Berücksichtigung neuerer Literatur qualitativ aufzuwerten.[1]
Das Buch geht zunächst auf die Gründung und Verfassung des Stifts, dessen Verwaltung und ökonomische Basis ein (die Grundherrschaft wird gründlich abgehandelt, wobei die Terminologie bisweilen allzu speziell ist; zum Beispiel dürfte einem Großteil des Lesepublikums fremd sein und auch bleiben, was unter einer Villikationsverfassung (26) zu verstehen ist). Der Band berührt aber auch sämtliche Ämter, sowohl im Damen- als auch im zugehörigen Kanonikerkapitel, behandelt Vogteizuständigkeiten und Herrschaftsrechte, thematisiert die konfessionellen Spannungen zwischen der im 16. Jahrhundert protestantisch gewordenen Stadt Essen und dem katholischen Stift und erreicht schließlich das Alltagsleben der Stiftsdamen. Deren Gemeinschaft fand ihr zwangsweises Ende im Zusammenhang mit dem Reichsdeputationshauptschluss. Widerstand mit lediglich 20 Essener Soldaten war zwecklos.
Der sich anschließende Wandel von der stiftischen Epoche hin ins Industriezeitalter zog sich ein halbes Jahrhundert hin. Die Tatsache, dass die letzte Fürstäbtissin bereits die Weichen dazu gestellt hatte, indem sie Anteile an verschiedenen Hütten erwarb, wird es den Verantwortlichen der Stadt Essen erleichtern, stärker als bislang ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken, dass als Symbol für die Historie der ehemaligen "Waffenschmiede des Reichs" und der "Ruhrmetropole" neben die Zeche Zollverein auch die Goldene Madonna des ehemaligen Stifts gehört. Einer bislang weitgehenden Ignorierung der Erinnerung an die nahezu 1000 Jahre währenden Identität Essens durch das hochadelige Frauenstift, für die beispielsweise die Umbenennung der "Theophanu-Krypta" in "Bischof Altfried-Krypta" nur ein Indiz ist, setzt Küppers-Braun ihr Buch entgegen.
Die um die Mitte des 9. Jahrhunderts in vorteilhafter Lage am Hellweg gegründete "Frauenkommunität" für weibliche Familienangehörige aus dem "sächsischen Stammesbereich" erlangte im 13. Jahrhundert die Landeshoheit. Seither war die Äbtissin Reichsfürstin über ein Territorium, das etwa der Größe des heutigen Fürstentums Liechtenstein entsprach. Zurecht verweist Küppers-Braun auf den wichtigen, bislang wenig beachteten Tatbestand, dass sich im 16. Jahrhundert im Zusammenhang mit Steuerforderungen des Reiches in Essen Landstände ausformten, die nach einem mehr oder minder formalisierten Verfahren zusammentraten. Die vornehmste Bank nahm das Damenkapitel ein. Diesem kam somit eine wichtige politische Funktion zu. Die Mitregierung der Stiftsdamen als Landstand stellte eine Besonderheit im Deutschen Reich dar. Von Frauen regierte Territorien lassen sich unter den etwa 300 Reichsterritorien um 1800 nur einige wenige ausmachen. Unter dem Krummstab der Essener Äbtissinnen wurde eine selbstbewusste Herrschaft praktiziert. Davon zeugen unter anderem zahllose Prozesse, die das Stift wegen obrigkeitlicher Zwistigkeiten mit der Stadt Essen vor dem Reichshofrat anstrengte. Die letzte Äbtissin Maria Kunigunde von Sachsen war mit den Ideen der Aufklärung vertraut, sie setzte sich zum Beispiel für die Verbesserung der Gesundheitsfürsorge ein, für die Einführung der Schulpflicht sowie für eine Reduktion der Feiertage zur Steigerung der Produktivität. Sie war es auch, die als Mitbegründerin der Gute-Hoffnungs-Hütte die Tür zum Strukturwandel der Region öffnen half.
Die herausgehobene Stellung des Essener Stiftes als Teil eines Adelsnetzwerkes im Reich darzustellen, gelingt Küppers-Braun überzeugend. Hier wurden nicht nur heiratsunwillige Töchter des Hochadels standesgemäß versorgt, das Stift besaß auch die Funktion einer weiblichen Erziehungsinstitution, in der standesgemäßes Verhalten eingeübt wurde und soziale Kontrolle stattfand. Durchaus instruktiv ist, dass "80 Prozent aller Töchter aus katholischen Grafen- und Fürstenhäusern im 17./18. Jahrhundert zeitweise Stiftsdamen waren, sodass dieser Lebensabschnitt zum normalen Lebensweg einer katholischen hochadeligen Frau gehörte, vergleichbar der Kavalierstour der Brüder".
Der attraktive farbige Bucheinband signalisiert augenfällig was selbst in Fachkreisen, wo Stift und Kloster als Termini nicht selten willkürlichem Gebrauch unterliegen, zu wenig differenziert wird: die Verschiedenheit von Stiftsdamen und Ordens- beziehungsweise Klosterfrauen. Die elegante, in rote Seide gekleidete Essener Fürstäbtissin, mit kostbarem Haar- und Ohrschmuck, repräsentiert in erster Linie ihren hochadeligen Status. Dass Stiftsdamen keine Gelübde ablegten, jederzeit ihr Stift verlassen konnten und vieles mehr thematisiert Küppers-Braun im letzten Abschnitt des Buches. Sie hat eine Fülle Interessantes zusammengetragen, etwa die Bildung der Stiftsdamen betreffend, ihre Hofhaltung, ihren Personalaufwand, ihre Kleidung, ihren Schmuck, ihre Verpflichtungen anlässlich religiöser und weltlicher Feierlichkeiten, zum Beispiel bei Trauerfeierlichkeiten, ansonsten auch hinsichtlich ihrer Möglichkeiten zur Unterhaltung, zum Spiel, bezüglich ihrer Reisetätigkeiten [2], ihrer Krankheiten, ihrer Sehnsüchte.
Die Aufhebung des Essener Stifts bildet den Schluss. Hier ist Küppers-Braun, die ansonsten terminologische Exaktheit als Bonus für sich reklamieren darf, vorzuhalten, dass sie im gesamten Buchtext den in diesem Zusammenhang unpassenden, weil geschichtsphilosophischen Begriff "Säkularisierung" verwendet, obwohl sich doch dank Hartmut Lehmann (Göttingen) eigentlich herumgesprochen hat, dass die Aufhebung von Klöstern und Stiften ab Anfang des 19. Jahrhunderts als Säkularisation zu bezeichnen ist.
Preußen rückte, ohne die Beschlüsse des Reichsdeputationshauptschlusses (25.2.1803) abzuwarten, schon im August 1802 mit zwei Kompanien nach Essen ein, um sich endlich das langersehnte, noch fehlende territoriale Bindeglied zwischen der Grafschaft Mark und dem rechtsrheinischen Teil des Herzogtums Kleve zu verschaffen und sich gleichzeitig in den Besitz der reichen Steinkohlevorkommen zu setzen. Die Reichsabtei Werden teilte das Schicksal des Essener Stifts. Denn sie gehörte ebenso wie die Stadt Essen zu den Territorien, mit denen Preußen seine an Frankreich abgetretenen linksrheinischen Gebietsverluste kompensierte. Küppers-Braun betont zurecht die oft unterbewertete Motivation der Reichsfürsten bei der Säkularisation landständischer Klöster und Stifte, nämlich die Ausschaltung lästiger Konkurrenz: Mit der Aufhebung des Stifts Essen und der Abtei Werden verschwanden gleichzeitig die beiden wichtigsten Landstände und somit die den ehemals reichsunmittelbaren Territorien noch anhaftenden Reste staatlicher Selbstständigkeit.
Anmerkungen:
[1] Zum Beispiel Rosemarie Kosche: Studien zur Geschichte der Juden zwischen Rhein und Weser im Mittelalter (= Forschungen zur Geschichte der Juden: Abt. A, Abhandlungen, 15), Hannover 2002.
[2] Eine Verwechslung muss der Angabe zu Grunde liegen, die Fürstäbtissin B. Sophia von Ostfriesland und Rietberg habe zu Beginn des 18. Jahrhunderts längere Zeit bei "den Annunziatinnen in Düsseldorf gelebt" (158). Ein Kloster dieses Ordens existierte dort zu keiner Zeit.
Ute Küppers-Braun: Macht in Frauenhand. 1000 Jahre Herrschaft adeliger Frauen in Essen, 3. Aufl., Essen: Klartext 2002, 224 S., 60 Abb., ISBN 978-3-89861-106-0, EUR 17,90
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