Seit Stefan Bursches grundlegender Studie "Tafelzier des Barock" von 1974 widmen sich eine steigende Anzahl von Forschungsarbeiten verschiedenen Aspekten der frühneuzeitlichen Tafelkultur. Jüngst untersuchte beispielsweise die Berliner Ausstellung "Die öffentliche Tafel", veranstaltet vom Deutschen Historischen Museum, den symbolischen Gehalt der an höfischen Tafeln verwendeten Geräte und vollzogenen Handlungen im Rahmen der fürstlichen Repräsentation. Hildegard Wiewelhove rückt nun mit den Tischbrunnen eine einzelne Objektgruppe in das Zentrum der Aufmerksamkeit. In dem höchst informativen und mit einem üppigen Abbildungsteil versehenen Buch, das aus ihrer Münsteraner Dissertation hervorging, bietet Wiewelhove einen Überblick über die Geschichte der Tischbrunnen von der Antike bis in das 18. Jahrhundert und erschließt somit eine Gattung, die zuvor nicht zusammenhängend dargestellt worden ist. Die Autorin, heute Direktorin der Kunstgewerbesammlung der Stadt Bielefeld / Stiftung Huelsmann, wagt sich hierbei weit über kunsthistorische Fragestellungen hinaus. In dankenswert ausführlichen Untersuchungen analysiert sie anhand technischer Literatur, Entwürfen, sowie erhaltenen Beispielen die bisher weitgehend unbeachteten Funktionsprinzipien der Tischbrunnen und charakterisiert diese Gattung im Wechselspiel von erfindungsreicher Konstruktion und künstlerischer Gestaltung.
Nach einführenden Bemerkungen zum metaphorischen Gehalt des Wassers und zur Einbeziehung von Brunnen bei Tischgesellschaften definiert Wiewelhove den Gegenstand des Buches. Als Tafelaufsatz gehören "Tischbrunnen im engeren Sinne [...] auf die Tafel selbst" (27). Sie spenden mit dem "Effekt des sprudelnden Strahls" (34) unter Druck austretende Flüssigkeit - sei es Wasser oder Wein. Mit den genannten Merkmalen gelingt es Wiewelhove, diese Gattung von anderen (Zimmer-)Brunnen, aber auch von "unechten" Tischbrunnen, wie Zuckerwerkimitaten, Handfässern oder Handwaschfontänen, abzugrenzen. Mit einem Flüssigkeitsreservoir und einem Antriebsmechanismus versehen, der zumindest temporär ein Funktionieren unabhängig von externen Energie- und Wasserquellen ermöglicht, sind die meisten Tischbrunnen zu den Automaten zu rechnen. Deren Faszination bestand in dem Vermögen, einen natürlichen Vorgang - hier das Sprudeln des Wassers - mit einem verborgenen Mechanismus nachzuahmen. Im Folgenden unterscheidet Wiewelhove anhand der Funktionsweisen zwischen "einfachen" Tischbrunnen und Heronsbrunnen. Erstere beruhen auf einer einfachen Methode: Wasserdruck lässt die Flüssigkeit aus einem höher gelegenen Reservoir in eine Auffangschale sprudeln. Wesentlich ausgefeilter sind die technischen Prinzipien der zweiten Gruppe, die auf hydraulisch-pneumatischen Mechanismen beruhen. Ihnen widmet Wiewelhove den größten Teil ihres Buches.
Diese Heronsbrunnnen verdanken ihrem Namen Heron von Alexandria, der - basierend auf Vorläufern - im 1. Jahrhundert nach Christus in der Schrift "Pneumatika" mit Druckluft betriebene Geräte beschrieb. Das Funktionsprinzip beruht auf der Verdrängungsleistung komprimierter Luft: In einem geschlossenen Gefäß wird Luft durch Wasserdruck oder durch Hinzufügen zusätzlicher Luft (per Blasrohr oder Blasebalg) verdichtet und baut Druck auf. Leitet man diese Druckluft in ein mit Wasser oder Wein gefülltes Gefäß und öffnet dessen Düsen, wird die Flüssigkeit herausgedrückt. Je geringer der Durchmesser der Öffnungen, desto kraftvoller ist der austretende Wasserstrahl. Mit den hydraulisch-pneumatischen Traktaten der Antike beginnt Wiewelhove einen chronologischen Abriss der Entwicklung von Heronsbrunnen. Die ausführliche Analyse von schriftlichen Quellen, darunter byzantinische und arabische Texte, ermöglicht es, den Mangel an erhaltenen Tischbrunnen auszugleichen, sowie Überlieferung und Modifikation des antiken Wissens nachzuvollziehen.
Nach Teilausgaben erfolgt 1575 die maßgebliche Ausgabe von Herons "Pneumatica", doch Wiewelhove kann anhand zweier Manuskripte (Konrad Kyeser, Giovanni Fontana), nachweisen, dass die Prinzipien der Heronsbrunnen bereits Anfang des 15. Jahrhunderts einzelnen Künstleringenieuren bekannt waren (56 f.). Auch Leonardo da Vinci widmet sich in seinen Codices mehrfach der Konstruktion von Heronsbrunnen. Unter die steigende Anzahl von Entwürfen, die um 1500 entstanden, zählen mehrere Beispiele Albrecht Dürers, die Wiewelhove ausführlich analysiert. Sie kann zudem zeigen, dass Regiomontanus 1471-75 in Nürnberg weilte und 1474 die Herausgabe einer in seinem Besitz befindlichen Abschrift von Herons "Pneumatika" ankündigte. Über Willibald Pirckheimer, an den ein Teil der Bibliothek des Regiomontanus gelangte, kann die Kenntnis der Funktionsweise pneumatischer Geräte an Dürer gelangt sein.
Die technisch-wissenschaftliche Literatur um 1600, unter anderem von Agostino Ramelli, Giambattista della Porta und Salomon de Caus, widmet sich den Heronsbrunnen ausführlich. Sie dienen quasi als Versuchsanordnungen bei Experimenten, mit denen das Verhalten von Luft, besonders Vakuum und Kompression, systematisch erforscht wird. Dieses naturwissenschaftlich-technische Wissen wird in Kompendien, beispielsweise von Kaspar Schott, Daniel Schwenter oder Georg Philipp Harsdörffer, zusammengefasst und popularisiert. Die Kenntnis physikalisch-technischer Grundsätze findet ihre praktische Verwertung in der Erfindung zahlreicher, der scherzhaften Unterhaltung dienender pneumatisch-hydraulischer Maschinen. Es ist der besondere Verdienst Wiewelhoves, diese Literatur für die Erforschung der Tischbrunnen fruchtbar gemacht zu haben. Sie kann somit das Bild, das sich aus den Entwurfszeichnungen und den erhaltenen Beispielen ergibt, wesentlich differenzieren - dies gilt vor allem, da sich keiner der überlieferten Tischbrunnen in einem funktionsfähigen Zustand erhalten hat. Wenn es auch bei den Ausführungen zu den einzelnen entworfenen oder ausgeführten Antriebsmechanismen zu gewissen Wiederholungen kommt, liegt in der Fülle des zusammengetragenen Materials ein außerordentlicher Reichtum des Buches.
An den chronologischen Überblick über die technische Entwicklung der Tischbrunnen schließt sich ein Kapitel zum Figurenschmuck der Objekte an. Diese Ausführungen greifen einige Aspekte auf, die bei den technischen Beschreibungen erwähnt wurden, und haben - auf lediglich zehn Seiten dargelegt - zusammenfassenden Charakter. Wenn auch die Aussage der Autorin, "die äußere Gestalt der Tischbrunnen musste vor allen Dingen die Erfordernisse der Wassertechnik berücksichtigen" (99), die Zurückhaltung bei den Bildprogrammen erklärt, kommt der (kunst-)historische Aspekt ein wenig zu kurz. Um dem Untertitel des Buches gerecht zu werden, wären zumindest exemplarische Analysen der historischen Zusammenhänge, das heißt der Anlässe, für die Tischbrunnen gefertigt wurden, wünschenswert gewesen. Dies gilt umso mehr, als andere Exkurse, beispielsweise zum Stand der technischen Künste unter Justinian (43 f.), verhältnismäßig umfassend ausfallen. Es spricht jedoch für die Qualität eines Buches, wenn man es sich länger wünscht. Ausgehend von 33 erhaltenen, in Goldschmiedearbeit ausgeführten Tischbrunnen, die in einem Katalog aufgelistet sind, legt Wiewelhove ein Buch vor, das nicht nur als Materialfundus dienen kann, sondern das mit der gründlichen Analyse technischer Aspekte in methodischer Hinsicht Maßstäbe setzt.
Hildegard Wiewelhove: Tischbrunnen. Forschungen zur europäischen Tafelkultur, Berlin: Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft 2002, 224 S., 8 Farb-, 216 s/w-Abb., ISBN 978-3-87157-114-5, EUR 78,00
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