In den Kinderbuchabteilungen der Kaufhäuser finden sich Kurzfassungen von Felix Dahns Heldenepos "Ein Kampf um Rom", im Nachmittagsprogramm der Kabelsender läuft gelegentlich Harald Reinls zweiteiliger Monumentalfilm "Die Nibelungen" aus dem Jahr 1966, und das Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald lockt jedes Jahr die Touristen nach Ostwestfalen - willkürliche Beispiele heutiger populärer Erinnerung an die germanische Frühzeit. Dabei handelt es sich allerdings weniger um die Erinnerung an eine reale Vergangenheit als um die fortdauernde Wirkung eines Mythos, der wesentlich auf das neunzehnte Jahrhundert zurückgeht. Rainer Kipper hat in seinem Buch über den Germanenmythos im Kaiserreich, einer im Gießener Sonderforschungsbereich "Erinnerungskulturen" entstandenen Dissertation von 2000, dessen Ursprünge und seine verschiedenen Fassetten herausgearbeitet. Das Buch stellt einen gelungenen und spannend zu lesenden Beitrag zur intellektuellen Geschichte des Kaiserreiches dar. Seine Bedeutung ergibt sich aus der überzeugenden Verbindung der Analyse literarischer, publizistischer und wissenschaftlicher Quellen zum Germanenmythos mit zeitgenössischen erinnerungspolitischen Debatten um Nation und Integration im Deutschland des neunzehnten Jahrhunderts.
Nach einer theoretisch und methodisch reflektierten Einleitung über Struktur und Funktion von historischen Mythen sowie Formen geschichtlicher Erinnerung beschreibt Kipper im ersten Teil zunächst den "Autochthonisierungsprozess" (31), der sich in der Begründung kollektiver Identität im Humanismus vollzog. Eine zentrale Rolle spielte die im fünfzehnten Jahrhundert wieder gefundene und edierte "Germania" des Tacitus. Wichtige Elemente des Germanen-Mythos finden sich bereits in ihren frühesten Interpretationen: Tugendhaftigkeit, Bodenständigkeit, Gerechtigkeit und moralische "Reinheit" wurden mit den Germanen identifiziert und der römischen Zivilisation gegenübergestellt.
Politisch-ideologisch aufgeladen wurde die germanische Frühzeit dann in der Aufklärung. Die germanische Mythologie verband sich mit der altskandinavischen Kultur - neben die "Germania" traten die "Edda" und das 1755 entdeckte "Nibelungenlied". Dies ergab insgesamt ein ambivalentes Germanenbild, in dem sich "edle Wildheit" und Freiheitsliebe mit Düsternis und Schwermütigkeit mischten. Das neunzehnte Jahrhundert bereitete vor dem Hintergrund der zeitgenössischen politischen Entwicklung einer völkischen Interpretation des Gegensatzes von Germanen und "Kelten" - Franzosen - den Boden (Herder, Fichte) und mündete in einen Germanismus, der die "deutschen Vorfahren" in verschiedenen Ausformungen zu vorbildhaften Vertretern von Freiheit und Fortschritt machte. Kipper referiert dazu Positionen von Hegel über Dahlmann, Welcker und Gervinus bis hin zu Sybel und Waitz sowie erste rassisch-biologistische Deutungen des Germanentums.
Im zweiten Teil steht die "literarische Aktualisierung des Mythos" (75) nach der Reichsgründung 1871 im Mittelpunkt. Im Kaiserreich stellte sich das Problem der gesamtnationalen Identität der Deutschen in neuer Form, und der Rückgriff auf die germanische Frühzeit spielte dabei eine gewichtige Rolle. Kipper analysiert zunächst historische Romane - in ihrer Zwitterstellung zwischen literarischer Fiktion und historischer Wirklichkeit ein ideales Medium der Vermittlung von Mythen. Dabei wird deutlich, dass der Germanenmythos auch im Kaiserreich keineswegs einheitliche Züge aufwies, sondern breiten Raum für gegensätzliche Interpretationen bot. Gustav Freytags Romanzyklus "Die Ahnen" (1872-1880), dessen Handlung sich vom vierten Jahrhundert bis 1848 spannt, und Felix Dahns "Ein Kampf um Rom" (1876) stehen für eine nationalliberale und eine völkische Sichtweise und werden mit Blick auf Verfasser, Inhalt und Rezeption ausführlich dargestellt.
Während das Germanenbild Freytags durchaus ambivalente Züge aufweist - Freiheitsdrang und germanische Tüchtigkeit laden zur Identifikation ein, zugleich wird aber auch der Wandel in der Entwicklung zur heutigen bürgerlichen Gesellschaft deutlich -, geht es bei Dahn um eine rassisch begründete Rangordnung der Völker mit klarer antirömischer Tendenz. Die heute vergessene Hohenzollern-Apotheose "Torald" (1884) von Oskar Gutsche und Conrad von Bolandens Roman "Urdeutsch" (1875) erweitern das Feld um eine dezidiert konservative und eine radikal katholische Perspektive, in der die Germanen vor allem als Vermittler römisch-christlicher Zivilisation erscheinen. Kipper untersucht summarisch weitere Romane und kann bei allen Autoren eine Verknüpfung aktueller politischer Vorstellungen und Ziele mit ihrem Germanenbild nachweisen. Referenzpunkte sind dabei Nation, Konfession oder Dynastie sowie in den Reichsteilen, in denen die germanische Frühzeit tatsächlich Spuren hinterließ, auch regionalgeschichtliche Bezüge.
Im dritten Teil des Buches konzentriert sich Kipper auf inhaltliche Topoi des Germanenbildes und bezieht dabei auch sonstige Quellen wie die zeitgenössische Geschichtsschreibung ein. Die Abschnitte über das äußere Erscheinungsbild, den Volkscharakter und die Abgrenzungen von anderen Völkern der Spätantike bestätigen einerseits zu erwartende Klischees: Germanen waren groß, blond, blauäugig, standen für Freiheitsliebe, Tugend, Reinheit, Heldentum, Härte und Kampf und erhoben sich damit über Römer, Kelten (Gallier), Slawen und auch Juden. Protagonisten der Romane sind Adelige und Freie, Vertreter einer ständischen Gesellschaftsordnung, die auch die sozialen Verhältnisse des Kaiserreiches noch prägte. Viele Romane spiegelten mit ihrer Schwerpunktsetzung auch die regionale Differenzierung Deutschlands wider und versuchten, über die Kontinuität der deutschen "Stämme" die Gliedstaaten des Reiches historisch zu legitimieren. Bemerkenswert sind schließlich zeitgenössische Versuche, Verbindungen zwischen Germanentum und griechischer Antike herzustellen und eine rassische Verwandtschaft der beiden "edelsten Urvölker" zu konstruieren. Andererseits werden aber auch die negativen Seiten dieser Charakteristika deutlich: Barbarentum, Wildheit, Tücke und eine Tendenz zur Zwietracht waren ebenfalls "germanisch".
Letztlich mündete diese Ambivalenz in die Vorstellung einer typischen germanischen beziehungsweise deutschen politischen Organisationsform: der "Genossenschaft", die der "Herrschaft" entgegengestellt wurde - am prominentesten vertreten durch den Rechtswissenschaftler Otto von Gierke. Aber auch Historiker wie Sybel, Waitz oder Dietrich Schäfer erkannten mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen im Dualismus von Monarch und mächtiger Volksversammlung ein typisch germanisches Verfassungsmerkmal, dessen Interpretation unmittelbar Konsequenzen für die Sichtweise des Konstitutionalismus im Kaiserreich hatte. Die einzige vorbehaltlos positiv gewürdigte Führergestalt der germanischen Frühzeit war Arminius, der gelegentlich auch mit dem Sagenhelden Siegfried gleichgesetzt wurde. Andere germanische Herrscherfiguren wie Marbod oder Chlodwig verkörperten dagegen stärker die negativen Elemente des Germanenbildes und waren damit als Identifikationsfiguren weniger geeignet.
Unter der Fragestellung der "funktionalen Topologie" handelt Kipper schließlich auch die Theorien zum Ursprung der Germanen ab - die Asienhypothese der Sprachwissenschaftler, die Nordeuropatheorie der Anthropologen und Rassenkundler. Hier diskutiert er die Frage der Kulturfähigkeit der Germanen. Die völkisch-nationalen Extremisten bejahten diese nicht nur, sondern sie werteten letztlich auch eine weltgeschichtliche Bedeutung der antiken vorderasiatischen und südeuropäischen Kulturen ab oder leugneten sie sogar. Die Germanen erschienen als ein "junges", entwicklungsfähiges Kulturvolk, dessen Mission der Erneuerung und Weiterverbreitung westlicher Kultur noch keineswegs abgeschlossen war. Eine Schlüsselfunktion kam dabei der Völkerwanderungszeit zu, die nun ohne weiteres als Teil deutscher Stammesgeschichte interpretiert wurde. Mit Blick auf die Gegenwart konnte diese Interpretation offensiv, als Legitimation deutscher Weltmachtansprüche, oder defensiv, als eine Erfolgsgeschichte nationaler Einigung angesichts äußerer Bedrohungen, gewendet werden. Am Beispiel des Christentums macht Kipper deutlich, welche Schwierigkeiten den Schriftstellern und Historikern des Kaiserreiches der Umgang mit der historisch offensichtlichen Inkorporierung von Fremdeinflüssen in das Germanentum bereitete.
Kipper schließt seine Untersuchung mit einem Blick auf Grundzüge der radikalen völkischen Erinnerungskultur des Kaiserreiches. Sie konkretisierte sich spätestens ab den 1890er-Jahren in den Schriften des kunstorientierten Bayreuther Kreises um Richard Wagner und Houston Stewart Chamberlain sowie stärker naturwissenschaftlich ausgerichteter Autoren wie Ludwig Woltmann, Ludwig Wilser, Josef Ludwig Reimer, Guido List oder Jörg Lanz von Liebenfels. Trotz inhaltlicher und methodischer Differenzen standen bei ihnen allen die Germanen im Mittelpunkt ihrer Argumentation. Für Kipper verdrängten diese radikalen biologistischen Sichtweisen in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg allmählich die gemäßigten nationalliberalen Interpretationen. Sie sind Teil der ideologischen Vorgeschichte des "Dritten Reiches".
Mit Blick auf die aktuelle Funktion historischer Erinnerung kommt Kipper zu einem interessanten, weil ambivalenten Ergebnis: Die Berufung auf die Germanen sollte einerseits eine einheitliche Erinnerungskultur des jungen Nationalstaates etablieren, andererseits aber macht der Blick auf die ganze Bandbreite der Interpretationen des Germanenmythos die Heterogenität eben dieser Erinnerungskultur deutlich: Die Germanen wirkten ebenso integrativ wie polarisierend. Letztlich liegt in der Selbstthematisierung der Nation an sich - im Spannungsfeld von Öffnung und Abschottung gegenüber dem Fremden - die eigentliche Bedeutung des Germanenmythos.
Rainer Kipper: Der Germanenmythos im Deutschen Kaiserreich. Formen und Funktionen historischer Selbstthematisierung (= Formen der Erinnerung; Bd. 11), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, 394 S., ISBN 978-3-525-35570-1, EUR 46,00
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